Yves Kugelmann
Basel (Weltexpreso) - Die Tötung von sechs israelischen Geiseln ist eine weitere Eskalation im Krieg zwischen Hamas und Israel – Israels Botschafterin Ifat Reshef spricht über elf Monate Krieg, die Geiseln und Forderungen an die Schweiz.
tachles: Am Wochenende hat die Hamas sechs israelische Geiseln kurz vor ihrer möglichen Rettung ermordet. Wie reagieren Sie darauf als Mutter und Israeli?
Ifat Reshef: Es ist absolut schrecklich! Es tut immer noch weh. Sie überlebten so lange in den Tunneln und wurden hingerichtet, kurz bevor wir sie erreichten. Jeder Israeli kennt die Namen und Gesichter der Opfer. Hersh Goldberg-Polin zum Beispiel ist dank des unermüdlichen Einsatzes seiner Eltern für die Freilassung der Geiseln in der internationalen Gemeinschaft weithin bekannt. Sie werden sich jetzt nicht auf Hershs Rückkehr freuen können. Als Mutter, Israeli, Jüdin und Mensch löst das nicht nur bei mir einen Sturm der Gefühle aus. Alle sechs standen so kurz vor der Befreiung, waren so jung, und wurden brutal hingerichtet, nachdem sie fast elf Monate unter den schlimmsten Bedingungen überlebt hatten.
Israel hat viele Krisen, Konflikte, Kriege durchlebt. Weltweit wird bald der Jahrestag der Massaker vom 7. Oktober begangen, während Israel multiplen inneren und äusseren Herausforderungen gegenübersteht. Wo verorten Israels Situation in seiner Geschichte?
Wir müssen uns auf die aktuelle Situation als Station in Israels Geschichte fokussieren. Einige der Familien haben ja noch nicht einmal ein Grab, an dem sie trauern können, andere wissen noch nicht einmal, ob ihre Geliebten noch leben. Als Israeli kennen wir also noch nicht einmal die genaue Zahl der Ermordeten. Das ist kaum zu ertragen. Und wir sind sehr mit den drückenden Herausforderungen beschäftigt, unsere Geiseln zurückzuerhalten und die Situation in Südisrael zu stabilisieren. Im Norden könnten einige Gemeinden durch die zunehmenden Angriffe der Hizbollah zur Evakuierung gezwungen sein. Nebst all diesen Herausforderungen und den Entscheiden, die wir treffen müssen, steigt zudem die Sorge wegen des international wachsenden Antisemitismus, der sehr alarmierend ist. Aus dieser Perspektive müssen wir wohl die Geschichte Israels heute betrachten, und so ist sie uns sehr präsent. Denn es kommt zurück, was wir als hinter uns gelassen betrachteten.
Nach dem 7. Oktober war die Solidarität mit Israel weltweit gross. Das kippte rasch in Kritik, Proteste und Klagen. Einmal mehr hat Israel die Schlacht in der Öffentlichkeit verloren. Was steckt Ihrer Meinung nach hinter dem Nachlassen der internationalen Solidarität?
Ich kann es selbst nicht ganz verstehen. Nach dem 7. Oktober haben wir zu Recht regelrechte Wellen der Solidarität erhalten, doch seitdem ist diese zurückgegangen. Nur drei Tage nach dem Massaker habe ich bei der Kundgebung auf dem Münsterplatz in Zürich erklärt, dass uns ein Krieg aufgezwungen wurde, und ein Krieg ist kein Spaziergang, sondern langwierig, hässlich und grausam. Seitdem hat dies zu einem asymmetrischen Krieg gegen eine Terrororganisation geführt, die ihn durch die Rückgabe der Geiseln und die Niederlegung der Waffen beenden und den Israelis und Palästinensern das Leid ersparen könnte. Sie ziehen es jedoch vor, sowohl unsere Zivilisten als auch ihr eigenes Volk zu opfern. Wenn es um Kritik seitens der internationalen Gemeinschaft und Institutionen geht, ist es offenbar einfacher und sicherer, mit dem Finger auf Israel zu zeigen. Schließlich sind Terroristen gefährliche Menschen. Und es wird durch die bereits bestehenden, gut finanzierten und organisierten Anti-Israel-Kampagnen befeuert – in einigen Fällen steckt sicherlich auch Antisemitismus dahinter. Israel wird ständig zu höchsten moralischen Standards verpflichtet – auch wenn das durchaus ehrenhaft ausgelegt werden kann. Doch es läuft auf ungleiche Ansprüche an moralische Standards sowie ungerechtfertigte Kritik hinaus. Dies gilt auch für einige Uno-Beamte, die eigentlich die Verantwortung haben, alle Seiten gleich zu behandeln und auch das Leid der Israelis anzusprechen. Das muss sich ändern, weil dadurch ein gefährlicher Präzedenzfall für andere Demokratien geschaffen wird, die Gott bewahre, ihre Bürger in Zukunft ebenfalls vor Terroristen und Aggressoren schützen müssen.
Wie will Israel das ändern?
Das ist eine gewaltige Aufgabe. Die Sicht auf Israel zu verändern ist Teil meines Jobs als Botschafterin und meiner Kolleginnen und Kollegen. Wir repräsentieren den Staat Israel, und wir versuchen, verständlich zu machen, dass die Politik unserer Regierung unter den gegebenen Umständen richtig ist. Es gibt da aber einen grossen Unterschied, wenn es um Antisemitismus geht, denn der fällt unter die Verantwortung der Regierungen und Behörden der jeweiligen Staaten. Antisemitismus ist nicht ein israelisches, sondern ein globales Problem, und wir wissen doch alle, dass es nie endet.
Premier Netanyahu spricht auch an der dieswöchigen Pressekonferenz von «Rache» und Polizeiminister Ben-Gvir sucht auf dem Tempelberg die Konfrontation mit der muslimischen Welt. Die Reaktionen sind ja erwartbar.
Die Reaktionen sind sicher unterschiedlich motiviert, und oft werden Aussagen falsch verstanden. Aber es gab schon vor dem 7. Oktober eine wohl orchestrierte Kampagne, die Israel mit falschen Beschuldigungen eindeckte, finanziert und geleitet von verschiedenen Ländern und Elementen mit antiisraelischer Agenda. So etwa das Label «Apartheidstaat» für Israel. Damit fanden sie vor allem bei jungen, naiven Leuten Anklang, die eigentlich Gutes tun wollen, aber sehr leicht zu beeinflussen sind. Dagegen braucht es Bildung, Gesetze allein genügen nicht.
Was heißt das also für die nähere Zukunft?
Wir wissen ja jetzt, dass die Hamas-Charta nicht nur ein Stück Papier ist, das man archivieren könnte. Es ist ein Aktionsplan, und Sinwar nimmt das ernst. Wir werden das also auch in Zukunft nicht ignorieren können. Wenn die Hamas sich weiter ausbreiten kann, wird das auch eine Gefahr für Europa, sie ist eine globale Bedrohung, der man gemeinsam entgegentreten müsste. Darüber hinaus aber müssen wir viel Bildungsarbeit leisten, und das ist nicht eine Verantwortung lediglich der lokalen jüdischen Gemeinden, sondern auch der Regierungen. In einigen Ländern arbeiten diese ja auch mit den jüdischen Gemeinden zusammen und unternehmen mehr als früher.
Die jüdische Gemeinschaft inner- und ausserhalb Israels ist geteilter Meinung, wie es weitergehen soll. Hunderttausende sind in Israel und inzwischen weltweit auf den Strassen mit massiver Kritik an der Kriegs- und Verhandlungsführung der israelischen Regierung. Weshalb geht Israel nicht auf die Forderung nach einem Geisel-Deal ein?
Zusätzlich zu all den Menschenleben, welche die Hamas am 7. Oktober forderte und Gemeinden, die zerstört wurden, stellte sie Israel auch vor eine Reihe unmöglicher und unmenschlicher Dilemmas, die sich nach fast einem Jahr nur noch verschlimmern. Zum Beispiel, ob wir uns derzeit auf den Norden Israels konzentrieren sollten, aus dem Zehntausende vertrieben werden müssen. Das schmerzhafteste Dilemma ist natürlich, was die akzeptablen Bedingungen für einen Geiseldeal sein könnten, wenn und wann der Führer der Hamas Yehia Sinwar entscheidet, dass er wirklich bereit ist, einem zuzustimmen. Es ist keine Wahl zwischen Gut und Böse, sondern zwischen schlecht, schlimmer und unmöglich. Ich beneide diejenigen nicht, die entscheiden müssen, was das Richtige und Moralische ist, wenn Menschenleben bei jeder Entscheidung auf dem Spiel stehen.
Tut Israels Regierung wirklich alles mögliche für die Rettung der Geiseln? Finanzminister Smotrich, der sich selbst als Faschist bezeichnet, hat von Anfang an gesagt, die Geiseln seien nicht erste Priorität. Innerhalb der Regierung gibt es offenen Streit über die Kriegsführung. Die Menschen verlieren das Vertrauen.
Auch für uns im diplomatischen Dienst ist die Situation seit elf Monaten sehr aufwühlend, und wir wissen ja auch nicht, wann und wie all dies enden wird. Aber natürlich sind die Geiseln der schmerzhafteste Punkt. Persönlich bin ich glücklich darüber, dass ich nur für Israels Interessen kämpfen und nicht seine Politik machen muss. Dass ich nicht jeden Tag dafür oder dagegen stimmen muss, ob und was für einen Deal oder für eine Entscheidung wir machen müssen. Das ist auch ein Teil des menschlichen Dilemmas, in das uns die Hamas gestürzt hat. Was ist richtig: nur einen Teil der Geiseln zu retten oder alle, und dafür Hamas mit genügend Kämpfern und Material weiterbestehen zu lassen? Damit sie danach wieder die Leute im Süden bedrohen können? Und was tun wir mit der Hizbollah und den anderen Terroristen? Und dass hohe, erfahrene und auch sonst sehr stark beschäftigte Vertreter Israels von Doha nach Kairo und zurück pendeln, zeigt doch, dass es Israel mit den Verhandlungen ernst ist. Aber das heisst nicht, dass man alles akzeptieren kann.
Befürchten Sie, dass Israels Regierung das Vertrauen einer Mehrheit der Bevölkerung verlieren könnte, wie es für eine Mehrheit der Familien der Geiseln schon zutrifft?
Der Kampf der Familien für ihre Geliebten ist sakrosankt, aber auch sie sind sich nicht in allem einig. Wir Diplomaten respektieren, was immer sie wollen und brauchen und helfen ihnen, so gut wir können. Aber wie gesagt: Weder wir noch die Familien tragen die Verantwortung für Beschlüsse, wie es weitergehen soll. Und ich kann dazu keine politische Aussage machen. Jedenfalls sind alle Optionen schwierig, und es gibt weder Wunderrezepte noch wissen wir, was geschehen wäre, wenn wir anders gehandelt hätten. Unsere Freunde können uns wohl Ratschläge geben, aber das heißt nicht, dass sie es besser wissen als wir.
In allen Ländern hat der Nahostkrieg nationale Debatten ausgelöst. In der Schweiz etwa um die Finanzierung der UNRWA. Was sind Ihre Forderungen an die Schweizer Regierung?
Zum einen erhalten wir hier viel Solidarität und Unterstützung. Das wissen wir sehr zu schätzen wissen. Das bevorstehende Gedenken an die vielen Opfer am und nach dem 7. Oktober mag vielleicht auch das Verständnis für die Situation fördern, in der wir uns befinden. Ebenso geschätzt wird im Übrigen die Hilfe der Regierung und des Parlaments im Kampf gegen Antisemitismus. Da sind wir hier viel besser dran als in vielen anderen Ländern. Aber es gibt auch Herausforderungen und noch viel Bildungs- und Aufklärungsarbeit zu tun. In drei Hinsichten glaube ich, dass die Schweiz einen wesentlichen Beitrag leisten könnte.
Was heisst das konkret?
Erstens hat die Schweiz im Uno-Sicherheitsrat viel politisches, diplomatisches und rechtliches Gewicht. Sie sollte deshalb eine spezielle Verantwortung dafür übernehmen, dass die von diesem Gremium veröffentlichten Texte der Realität entsprechen, was sie praktisch nie tun. Dann würde ich natürlich gerne sehen, dass die Hamas verboten oder als terroristische Gruppierung klassifiziert würde. Dieser Entscheid wird bald im Parlament zu treffen sein. Israels Bemühungen gehen ja dahin, dass am Tag nach Ende des Kriegs die Hamas im Gazastreifen nicht regieren kann, und dafür muss sie geschwächt werden, wozu Verbote beitragen. Das Dritte ist eine Deradikalisierung mittels Reform des Bildungssystems in Gaza. Dieses wird seit Jahren zu einem guten Teil durch die UNRWA geführt, und die von ihr verwendeten Schulbücher glorifizieren den Terrorismus und geben den Kindern und Jugendlichen falsche Modelle vor. Nach der aktiven Beteiligung von UNRWA-Mitarbeitenden am Massaker muss diese Institution früher oder später ersetzt werden.
Wie soll dringend nötige Hilfe denn nach Gaza gelangen?
Es gibt ja jetzt bereits andere NGOs, die in Gaza sehr effizient Hilfe leisten und die Israel unterstützt. Die Schweizer Steuerzahler sollten die Gewissheit erhalten, dass ihr Geld nicht an eine Organisation geht, die Terroristen in irgendeiner Weise unterstützt. Also fordere ich die Schweizer Behörden auf, eine volle Untersuchung in der UNRWA durch eine Kommission der Uno zu verlangen, welche die Hunderten Mitarbeitenden, von denen wir denken, dass sie die Hamas aktiv unterstützen oder ihr angehören, unter die Lupe nimmt. Und bis dann die Mittel an eine andere Organisation zu leiten, von der wir wissen, dass sie die Hamas nicht bedient.
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Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 6. September 2024