Über gesellschaftliche Ursachen, psychologische Wirkungen und 'Gegengifte', Teil 1/2
Wolfgang G. Weber
Innsbruck (Weltexpresso) - Dem Autor Wolfgang Weber verdankt WELTEXPRESSO außergewöhnliche Artikel, wo Jandl spukt, Symphonisches in Zeiten des Krieges erklingt oder Feldzüge für den Weltklimastreit geführt werden, auch der Vogelfänger unterwegs ist. Jetzt hat er eine grundlegende Analyse des gegenwärtigen politischen Geschehens vorgenommen, das in Österreich gerade zum Regierungsauftrag an den rechtsradikalen Parteiführer der FPÖ geführt hat, nachdem die ÖVP ihre Regierungsbeteiligung als Juniorpartner signalisiert hatten. Im bundesdeutschen Wahlkampf, wo die entsprechenden Parteien AfD und CDU/CSU heißen, deren Kanzlerkandidat gerade die Brandmauer zur AfD verbal bekräftigt hat, kann man nicht vorsichtig und belesen genug sein. Hier Wolfgang Webers Ausführungen:
Um was geht es?
Begriffe wie „Rechtsextremismus“, „Faschismus“, „Neonazismus“ werden im Alltag ziemlich unterschiedlich verwendet. Hier sollen nun Begriffe des „Rechtsextremismus“ so definiert werden, wie sie in den Sozialwissenschaften (insbesondere Politikwissenschaft, Soziologie, Erziehungswissenschaft, Psychologie) verwendet werden. In den deutschsprachigen Ländern haben sich Sozialwissenschaftler:innen auf folgende Konsensdefinition verständigt:
„Der Rechtsextremismus ist ein Einstellungsmuster, dessen verbindende Kennzeichen Ungleichheitsvorstellungen darstellen. Diese äußern sich
a) im politischen Bereich in der Affinität zu diktatorischen Regierungsformen, chauvinistischen Einstellungen (z. B. nationales Interesse gegen andere Länder durchsetzen) und einer Verharmlosung bzw. Rechtfertigung des sogenannten „Nationalsozialismus“,
b) im sozialen Bereich sind sie gekennzeichnet durch antisemitische (Verschwörungsglaube), fremdenfeindliche (z.B. „Überfremdung“, „Wirtschaftsflüchtlinge“) und sozialdarwinistische Einstellungen (z.B. „Recht des Stärkeren“, „wertvolles“ vs. „unwertes Leben“)“ (Frindte et al., 2016).
Gegenwärtige Varianten rechtsextremer Propaganda schließen dabei auch die folgenden Merkmale des Rechtspopulismus mit ein (siehe Decker & Brähler, 2018):
1. die Entgegensetzung von „Wir sind das wahre Volk“ gegen die „korrupten Eliten“ (insbesondere humanistische Politiker:innen, Aktivist:innen und Medienleute werden so denunziert),
2. Anti-Pluralismus (gegen Inklusion und soziale Bewegungen, die von rechtsextremen Wirtschaftsbildern sowie Geschlechtsrollenstereotypen abweichen),
3. Pro-Volkssouveränität (pseudodemokratische Forderung nach „direkter Demokratie“ – aber nur für die „wahren Volksmitglieder“).
Ursachen und fördernde Bedingungen des Rechtsextremismus
Falls jemand ein Muster von rechtsextremen Einstellungen aufweist, bedeutet dies zwar nicht in jedem Fall, dass sie/er auch alle Merkmale eines solchen Einstellungsmusters in rechtsextreme Handlungen wie z. B. Gewalttaten und Terrorakte umsetzt. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit ziemlich hoch, dass sie/er eine rechtsextreme Partei wählt, bestimmte Menschengruppen heimlich oder offen diskriminiert oder sich an antidemokratischen Protesten beteiligt. Langfristig und in der Summe mit Anderen trägt sie/er damit zur Gefährdung oder gar Zerstörung einer demokratisch-republikanischen Gesellschaft bei, wie das in den 1930er Jahren in Österreich und Deutschland bekanntlich der Fall war.
In Wissenschaft und Politik findet sich eine Vielfalt von konkurrierenden Erklärungsansätzen dazu, was rechtsextreme Gesellschaften und entsprechende individuelle Motivationen verursacht. Diese Unübersichtlichkeit ist jedoch auch wieder einfach: Die vorliegenden Befunde der (Rechts-)Extremismusforschung belegen, dass ganz unterschiedliche Erklärungsansätze und Interventionsmethoden Gemeinsamkeiten haben. Je nach den vorliegenden regionalen oder lokalen institutionellen, sozialen und kulturellen Bedingungen sollten deshalb situationsspezifische Ursachen identifiziert und Ressourcen sowie geeignete Maßnahmen bestimmt werden (Held et al., 2008). In der Kürze dieses Beitrags kann ich leider nur einige wichtige Ansätze und Befunde einbeziehen.
Politisch-ökonomische und kulturelle Ursachen:
Durch ökonomische Krisen und Umstrukturierungen (z. B. Digitalisierung) entstehen wirtschaftliche und soziale Entbehrungen (in der Arbeiter:innenklasse) sowie Verunsicherungen und Abstiegsängste (in der „Mittelschicht“).
Dass dies rechtsextreme, insbesondere fremdenfeindliche Einstellungen und eine Abwertung von angeblich „Leistungsschwachen“ fördert (Modernisierungsverliererthese; Heitmeyer, 2018), konnte in mehreren Längsschnittstudien gut belegt werden. Ebenso gut belegt ist die Cultural Backlash-Hypothese von Inglehart (Rippl & Seipel, 2018): Die Globalisierung bewirkt, neben wirtschaftlichen, auch enorme kulturelle Wandlungsprozesse in kapitalistischen Gesellschaften. Durch die zunehmende Vielfalt von Lebensstilen, Werten und Ethnien fühlen sich Menschen aus allen Klassen und Schichten in ihrer individuellen und sozialen Identität bedroht. Zahlreiche versuchen sich gegen die subjektiv empfundene „Bedrohung“ zu schützen, indem sie rechtsextreme Organisationen unterstützen und sich an diese auch gefühlsmäßig binden. Schließlich hat auch die stark zunehmende sogenannte „neoliberale“ Politik in Gesellschaft und Unternehmen einen gewissen Einfluss darauf, dass Personen rechtsextrem werden. Der Rückzug des Staats aus der sozialen Regulierung der Wirtschaft, Sozialabbau, die kapitalistisch zugerichtete Ökonomisierung aller Lebensbereiche (z. B. „Humankapital“, „Selbstoptimierung“), Lobbyismus, leistungslose Finanzspekulation und -korruption führen zum politischen Vertrauensverlust und Verdrossenheit bei bestimmten Bürger:innen (Postdemokratiethese von Crouch, siehe Rippl & Seipel, 2018).
Erziehungsverhalten:
Nicht nur aktuelle Lebensbedingungen, sondern auch in der Vergangenheit liegende psychologische Umstände können rechtsextreme Einstellungen mit verursachen (siehe Hopf, 2000). So kann ein autoritärer Erziehungsstil der Eltern, z.B. Machtbehauptung, körperliche Strafen, gefühlsmäßige Kälte und eine fehlende Bereitschaft, Gebote zu begründen, bewirken, dass die Kinder wenig Unterstützung bei Identitätskrisen oder Selbstwertproblemen in ihrer Jugend bekommen und später rechtsextreme Motivationen entwickeln. Rechtsextreme berichten auch häufig davon, dass ihre Beziehungen zu den Eltern stark durch ökonomische Interaktionen (Belohnung oder Strafen mittels Geschenken/Geld) geprägt waren. Dies könnte auch die permanente Frustration und Wut mancher Rechtsextremer erklären, die sich durch angeblich privilegierte Flüchtlinge oder andere Gruppen zu-kurz-gekommen fühlen. Dagegen kann ein unterstützender und demokratischer Erziehungsstil nachweislich dazu beitragen, spätere rechtsextreme Einstellungen von Kindern zu verhindern und demokratische und prosoziale Orientierungen zu fördern. Kennzeichnend sind hier ein liebevoller Umgang miteinander, die Begründung elterlicher Forderungen, das Aufzeigen von sozialen Folgen des kindlichen Verhaltens (Empathieförderung) und zunehmende Mitentscheidung und Autonomie der Kinder in der Familie.
Einfluss von Schule und Bildung:
Wird das jeweilige Schulklima geprägt durch autoritäres Lehrverhalten, überzogene fachliche Leistungsanforderungen, den starken Vorrang der Vermittlung von technischem und formalen Wissen und starker individualistischer Konkurrenz (Simulation radikalkapitalistischer Praktiken), dann erhöht auch dies das Risiko, dass Schüler:innen rechtsextreme Orientierungen ausbilden. Ein wirksames Gegenmittel gegen ein solches „vergiftetes“ Schulklima bilden demokratische Schulen, in denen die Förderung von Empathie, moralischer Kompetenz und gegenseitiger Hilfe gleichrangig mit anderen Lernzielen ist (siehe Oser & Althof, 2001). Dies hilft auch dabei, den möglichen Einfluss von rechtsextremen Gleichaltrigengruppen auf die Schüler:innen zu neutralisieren. Durch die Forschung vielfach gezeigt wurde auch: Je höher der formale Bildungsabschluss einer Person ist, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie rechtextreme Einstellungen aufweist.
Einfluss von Gleichaltrigengruppen:
Auch rechtsextreme Gleichaltrige können bewirken, dass jüngere Menschen in den Rechtsextremismus abrutschen. Besonders gefährdet sind Jüngere mit Identitäts- oder Selbstwertproblemen, die sich nach einer Gemeinschaft mit verbindlichen Werten sehnen. Solche „Deutungsgemeinschaften“ bieten den Suchenden dann eine Illusion von „Sicherheit“, „Macht“ und ein simples-rigides Freund-Feind-Weltbild, aber auch soziale Bindungsmöglichkeiten, Unterstützung und jede Menge aggressiver „Action“ und kollektive Identität in Form einer intoleranten und nicht hinterfragbaren „Wahrheit“ und Verschwörungsideologie (Frindte et al., 2016; Peham, 2024). Wenn Menschen in solchen rechtsextremen (häufig Gleichaltrigen-) Gruppen mitwirken, wird deren „positive“ Vorbildfunktion und normativer Druck sich anzupassen, immer stärker und geht schließlich in ihre Identität ein. Werden sie durch anders geartete Lebenspraktiken oder demokratisch-humanistisch orientierte Argumentation herausgefordert, begegnen Rechtsextreme dem häufig mit psychischer und physischer Gewalt, weil sie sich in ihrer neuen Identität bedroht fühlen.
Bedeutung von Wirtschaft und Arbeit
Inzwischen zeichnet sich in der Forschung auch immer stärker ab, dass Manager:innen und Mitarbeiter:innen mit „neoliberalen“ ideologischen Überzeugungen (z. B. Menschen werden als „Humankapital“ instrumentalisiert, starker Egoismus und Konkurrenzorientierung) in stärkerem Ausmaß auch rechtsextreme Einstellungen aufweisen als andere Arbeitende (Unterrainer et al., 2024). Dies geht sicherlich auch auf radikale Medien- und Marketinginhalte im Alltag sowie auf entsprechende Kultur- und Führungspraktiken sowie Belohnungssysteme in Unternehmen zurück. Hingegen scheint die Arbeit in demokratischen, häufig beschäftigteneigenen Unternehmen sowie in solchen mit starken Betriebsräten in gewissem Ausmaß ein – noch stark unterschätztes – Präventionspotenzial zu haben:
Die in solchen Betrieben Arbeitenden weisen stärker ausgeprägte prosoziale und demokratische Handlungsbereitschaften auf als die Beschäftigten in anderen Betrieben. Deshalb überraschen die kontinuierlichen Angriffe rechtsextremer Parteien auf die Arbeiterkammern, Gewerkschaften und Beschäftigtenrechte auch in Österreich keineswegs.
Wir sollten nicht vergessen, dass die Mehrzahl der Wähler:innen in Österreich bis in die Gegenwart keine ausgeprägt rechtsextremen Parteien wählt.
Forstetzung folgt
Foto:
Heldenplatz, Wien, 15. März 1938, Adolf Hitler nach dem Einmarsch der deutschen Nazis in Österreich, bejubelt
©Österreichische Mediathek
Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung von "Die Alternative - Zeitschrift der unabhängigen Gewerkschaftsfraktion" (Österreich)"