Die Jacob Augstein-Debatte: Eine verpasste Chance. Ein Beitrag Sammelband "Gebildeter Antisemitismus", Teil 1

 

Matthias Küntzel

 

Hamburg (Weltexpresso) - Jakob Augstein ist im deutschen Medien-Business eine Autorität und für viele eine Lichtfigur. Das liegt zum einen an seinen Vätern: Wer als biologischer Sohn Martin Walsers und als angenommener Sohn des Spiegel-Gründers Rudolf Augstein ins Leben tritt, gilt als wichtig, auch ohne ein Wort geschrieben zu haben.

 

Das liegt zum anderen an seiner Stellung im Business: Augstein hält 24 Prozent der Anteile am Spiegel-Verlag und ist Herausgeber und Chefredakteur der Wochenzeitschrift Freitag. Es liegt aber auch an seinen rhetorischen Fähigkeiten und seiner medialen Präsenz—als kritischer Autor der Spiegel Online-Kolumne Im “Zweifel links”, als schlagfertiger Gesprächspartner der wöchentlichen Phoenix-Show “Augstein und Blome” und als omnipräsenter Gast bei Talk-Sendungen des öffentlichen Fernsehens.

 

Auch deshalb waren viele äußerst überrascht, als ausgerechnet Jakob Augstein auf die Top Ten-Liste der schlimmsten antisemitischen und antiisraelischen Verunglimpfungen für das Jahr 2012 kam. Denn auch der Urheber dieser Liste, das in Los Angeles ansässige Simon Wiesenthal Center (SWC), beansprucht Autorität: Das SWC ist eine renommierte Menschenrechtsorganisationen, die sich gegen Nazi-Verbrecher, aber auch gegen aktuelle Formen von Judenhass engagiert und deren Stellungnahmen weltweit Beachtung finden.

 

Zwar hatte das SWC auf seiner am 27. Dezember 2012 veröffentlichten Liste lediglich Texte an den Pranger gestellt und Augstein auf dem neunten Platz mit fünf Sätzen aus seinen Kolumnen zitiert (SWC 2012), doch das Gerücht, dass das SWC die Person Jakob Augstein als einen der weltweit schlimmsten Antisemiten angeprangert habe, verbreitete sich rasch und trieb die Empörung in die Höhe.

 

Viele teilten anfänglich dessen Reaktion: “Ich glaube”, erklärte Augstein am 4. Januar 2013 in den Tagesthemen, “hier hat das [Wiesenthal-]Zentrum nicht sauber gearbeitet, nicht gut recherchiert, weil es eigentlich nicht sein kann, dass kritischer Journalismus diffamiert wird als Antisemitismus.” (ARD 2013)

 

Das Wiesenthal Center gegen Augstein: Seit der Auseinandersetzung zwischen Ignatz Bubis und Martin Walser von 1998 (Wistrich 2010: 261 ff.) hatte es in Deutschland keine vergleichbare Großdebatte gegeben. Anders als vor 15 Jahren ging es diesmal jedoch nicht um einen gestandenen Literaten, sondern um einen linksliberalen Medienstar. Anders als damals wurde der Streit von außen provoziert. Und anders als bei Walser stand diesmal die “Israelkritik” zur Diskussion.

 

Die Jakob Augstein-Debatte fand zwischen Anfang und Ende Januar 2013 statt. Ihre erste Phase reichte bis zum 14. Januar, dem Tag, an dem unter dem Titel “Was ist Antisemitismus?” ein Spiegel-Streitgespräch zwischen Augstein und Dieter Graumann, dem damaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, erschien (Beyer/Follath 2013). Der zweite Teil der Kontroverse wurde am 31. Januar mit einer Berliner Pressekonferenz von Rabbi Abraham Cooper, dem stellvertretenden Direktor des Wiesenthal Centers, abgeschlossen.

 

Diesem Aufsatz liegt ein privat gesammelter und etwa 600 Seiten umfassender Fundus deutschsprachiger Stellungnahmen aus Print- und Onlinemedien zugrunde. Filmbeiträge wurden nur sporadisch und Internet-Kommentare zu Onlineartikeln nicht berücksichtigt. Fortsetzung folgt

 

Info:

 

Dieser Aufsatz wurde 2015 erstmals in dem von Monika Schwarz-Friesel herausgegebenen Band “Gebildeter Antisemitismus. Eine Herausforderung für Politik und Zivilgesellschaft” im Nomos-Verlag Baden-Baden als Band 6 der von Prof. Samuel Salzborn herausgegebenen Reihe “Interdisziplinäre Antisemitismusforschung” veröffentlicht und im Januar 2016 mit Zustimmung der Herausgeberin und des Verlages als Online-Extra Nr. 231 des Online-Portals http://www.compass-infodienst.de dokumentiert. Einen Prospekt des sehr zu empfehlenden Buches und dessen Inhaltsverzeichnis finden sich am Ende aller Beiträge

 

Inzwischen haben Lukas Betzler und Manuel Glittenberg ein 300-seitiges Buch über die Jakob Augstein-Debatte veröffentlicht: Antisemitismus im deutschen Mediendiskurs. Eine Analyse des Falls Jacob Augstein, Nomos Verlag Baden-Baden 2015, Bd. 5 der Reihe Interdisziplinäre Antisemitismusforschung.

 

Ein Literaturverzeichnis rundet die umfangreiche Serie am Schluß ab.