Die Jacob Augstein-Debatte: Eine verpasste Chance. Ein Beitrag Sammelband "Gebildeter Antisemitismus", Teil 4·
Matthias Küntzel
Hamburg (Weltexpresso) - “Die Nominierung von Jakob Augstein auf Platz neun der Liste der zehn schlimmsten Antisemiten ist ein schwerer intellektueller und strategischer Fehler”, befand Nils Minkmar, der damalige Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Das SWC habe den kritischen Journalisten “in diffamierender Absicht” an den Pranger gestellt.
Minkmar begründete seinen Vorwurf damit, dass es bei Augstein “nicht um die Juden und nicht um den Juden” gehe. Stattdessen habe er “das Resultat politischer Entscheidungen der aktuellen israelischen Regierung” kritisiert. Auch wenn man diese Kritik nicht teilen müsse, sei doch klar, dass sie “nichts mit Antisemitismus zu tun” habe (Minkmar 2013).
Minkmars Stellungnahme brachte eine Lawine der Empörung ins Rollen. Täglich wuchs die Anzahl der Journalisten, die sich über die SWC-Attacke ereiferten und mit wenig Textkenntnis, aber umso größerer Inbrunst eine publizistische Wagenburg um den bedrängten Kollegen errichteten. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, galten nicht die Aussagen Augsteins, sondern deren Platzierung auf der Top Ten-Liste als der Skandal. [1]
So stellte sich Frank Drieschner (2013) auf Zeit online die Frage, “ob sie womöglich gemeinsam durchdrehen: Israel [...] und seine Lobby”.
Taz-Redakteur Stefan Reinecke (2013) witterte “ein übles diskursives Foul”, während sein Kollege Jan Fleischhauer “die Sache ins weite Reich des Absurden” (Fleischhauer 2013) verbannte und Tagesspiegel-Journalist Harald Martenstein (2013) von einer “Kabarettnummer” sprach.
“Wenn man nicht auf jeden Einfall von Israels Regierung eingeht”, erklärte Gastautorin Alexandra Belopolsky (2013) in der FAZ, “wird das außer Gefecht setzende Wort ,Antisemitismus‘ wieder in den Ring geworfen”.
Natürlich waren auch den Journalisten die Ergebnisse aus Antisemitismus-Umfragen bekannt, bei denen mehr als ein Drittel der Deutschen Verständnis dafür äußerten, dass man angesichts der “Politik, die Israel macht [...] etwas gegen Juden hat” und über 40 Prozent einer Gleichsetzung von israelischer Palästinapolitik und nationalsozialistischer Judenpolitik zustimmten (Bundesministerium des Innern 2011: 56).
Und doch lag es jenseits ihrer Vorstellungskraft, dass einer von ihnen Antisemit sein oder sich auch nur aus dem Fundus antisemitischer Denkfiguren bedienen könnte: “Einer, mit dem man beim Presseclub sitzt und mit dem man schon über manches Kalte Buffet hergefallen ist—so einer kann kein Antisemit sein”, schrieb Deniz Yücel (2013). Denn wäre Augstein es, wären ,wir‘ es möglicherweise auch.
Manche fanden diesen Gedanken lustig, so zum Beispiel die taz, die einen Kommentar mit “Wir Antisemiten” (Reinecke 2013) überschrieb oder ein Autor des Tagesspiegel, der sich wünschte, “auch auf die Antisemiten-Liste” (Martenstein 2013) zu kommen (s. hierzu auch Schwarz-Friesel, Reaktionen, in diesem Band).
Am 4. Januar sah sich auch der Deutsche Journalisten-Verband veranlasst, Augstein in Schutz zu nehmen: Die vom SWC aufgeführten Augstein-Zitate “spiegelten Kritik, aber keine Hetze wider”, so der DJV-Bundesvorsitzende Michael Konken. “Es sei die Aufgabe von Journalisten, kritisch zu berichten. Das schließe die israelische Politik mit ein” (DJV 2013).
Der “vehemente Verteidigungsreflex” (Malte Lehming) war nicht auf Journalisten beschränkt. Sehr früh schlossen sich diesem Chor auch Politiker wie der Linken-Fraktionschef Gregor Gysi oder die stellvertretende Bundesvorsitzende der CDU, Julia Klöckner, sowie prominente Juden an (Korge 2013a).
So nahm Salomon Korn, der Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Jakob Augstein mit den Worten “es dürfte wahrscheinlich nicht richtig sein, ihn als Antisemiten zu bezeichnen” (Korn 2013) in Schutz. “Weder Grass noch Augstein gehören auf so eine Liste”, warnte der TV-Moderator und ehemalige Vizepräsident des Zentralrats, Michel Friedman (Pohlmann/Böhme 2013).
Aber auch Fachleute wie Juliane Wetzel, eine Mitarbeiterin des Zentrums für Antisemitismusforschung, oder Klaus Holz, Verfasser von Büchern über den Antisemitismus und Generalsekretär der evangelischen Akademien in Deutschland, sprangen Augstein bei.
“Jakob Augstein ist kein Antisemit”, erklärte Juliane Wetzel. Den Vorwurf, er würde “antisemitische Klischees, Ressentiments, Vorurteile” bedienen, wies sie zurück: “Auch das würde ich von Jakob Augstein nicht sagen” (Wetzel 2013). Klaus Holz ging noch einen Schritt weiter. Es sei “gefährlich”, was das SWC mache, erklärte er. “Mit dieser Art von Verwendung” werde der “Antisemitismus-Vorwurf [...] zu einer pauschalen Keule, die man rausholt, wenn es um Grauzonen geht.” (Holz 2013)
Das Simon Wiesenthal Center reagiert auf die Welle der Empörung gelassen und baute Jakob Augstein eine Brücke. “‚Wir sprechen nicht von der Person, sondern von den Zitaten‘, stellte der stellvertretende Direktor des SWC, Rabbi Abraham Cooper, klar. Wie über Augstein zu urteilen sei, hänge letztlich von dessen Reaktion auf die Vorwürfe ab. ‚Sprechen wir von antisemitischen Äußerungen, bei denen sich die Person vielleicht gar nicht bewusst war, eine Grenze zu überschreiten? [...] Oder sprechen wir von einem Antisemiten?‘ Augstein habe es gewissermaßen selbst in der Hand, so Cooper. ‚Soweit ich weiß, hat er sich zu den Details noch nicht geäußert‘” (Korge 2013b).Fortsetzung folgt
Anmerkungen:
(1) Ausnahmen während dieser ersten Phase waren Cigdem Akyol (2012), Clemens Wergin (2013) und Malte Lehming (2013).
Info:
Dieser Aufsatz wurde 2015 erstmals in dem von Monika Schwarz-Friesel herausgegebenen Band “Gebildeter Antisemitismus. Eine Herausforderung für Politik und Zivilgesellschaft” im Nomos-Verlag Baden-Baden als Band 6 der von Prof. Samuel Salzborn herausgegebenen Reihe “Interdisziplinäre Antisemitismusforschung” veröffentlicht und im Januar 2016 mit Zustimmung der Herausgeberin und des Verlages als Online-Extra Nr. 231 des Online-Portals http://www.compass-infodienst.de dokumentiert. Einen Prospekt des sehr zu empfehlenden Buches und dessen Inhaltsverzeichnis finden sich am Ende aller Beiträge
Inzwischen haben Lukas Betzler und Manuel Glittenberg ein 300-seitiges Buch über die Jakob Augstein-Debatte veröffentlicht: Antisemitismus im deutschen Mediendiskurs. Eine Analyse des Falls Jacob Augstein, Nomos Verlag Baden-Baden 2015, Bd. 5 der Reihe Interdisziplinäre Antisemitismusforschung.
Ein Literaturverzeichnis rundet die umfangreiche Serie am Schluß ab.