Die Jacob Augstein-Debatte: Eine verpasste Chance. Ein Beitrag Sammelband "Gebildeter Antisemitismus", Teil 3

 

Matthias Küntzel

 

Hamburg (Weltexpresso) - Der Begriff des Doppelstandards knüpft an die berühmte “3D-Definition” von Nathan Sharansky an. Sharansky hatte auf die Frage, wie sich legitime Kritik an der israelischen Regierung vom anti-israelischen Antisemitismus unterscheide, drei Kriterien genannt. Die Kritik an Israels Politik sei legitim, wenn sie Israel nicht dämonisiere, wenn sie die Existenz des jüdischen Staates nicht delegitimiere und wenn sie an Israel keinen Doppelstandard anlege, also Ansprüche formuliert, an denen kein anderer Staat gemessen wird (Sharansky 2004).

 

Ob Augstein keine Doppelstandards anlegt, sei dahingestellt. Sicher ist, dass er Israel gegenüber Vorurteile hat. Dies zeigt ein Auszug aus seinem Streitgespräch im Spiegel.

 

Spiegel: “Herr Augstein, sind Sie gelegentlich in Israel?”

Augstein: “Beruflich hat es sich nie ergeben, und privat möchte ich nicht.”

Graumann: “Warum?”

Augstein: “Ich wäre in den Zeiten der Apartheid auch nicht nach Südafrika gefahren.” (Beyer/Follath 2013)

 

Der Vergleich mit dem Apartheid-Staat zeugt von dem Bedürfnis, Israel zu delegitimieren und zu dämonisieren, herrscht doch der Konsens, dass Apartheid-Staaten abzuschaffen sind. Wie unsinnig der Apartheid-Vorwurf im Falle Israels ist, wurde an anderer Stelle analysiert. (Wistrich 2010: 151 ff.; Schwarz-Friesel/Reinharz 2013: 216 ff.). Hier reicht es, festzustellen, dass Augstein Israel gegenüber Ressentiments hegt. Er blendet nicht nur den regionalen Kontext, den jeder Politiker in Israel zu gegenwärtigen hat, so gut wie vollständig aus, sondern er geht a priori davon aus, dass Israel “an Frieden [...] kein Interesse” hat und akzeptiert anschließend nur noch das, was in dieses Wahrnehmungsmuster passt.

 

Weil Israel keinen Frieden will, “brütet” es in Gaza “seine eigenen Gegner aus”, heißt es in einer seiner Kolumnen. Weil es keinen Frieden will, “will [es] gar nicht beweisen [...], dass Iran eine Bombe baut”; weil es keinen Frieden will, setzt es seit 44 Jahren seine Interessen “ohne Rücksicht auf die Verhältnismäßigkeit der Mittel” durch; weil es keinen Frieden will, gehe eine “nukleare Bedrohung, [...] von Israel für den Nahen Osten aus”.

 

Darüber hinaus fließen in seine Israeldarstellung immer wieder antisemitische Stereotype mit ein, etwa wenn er die israelische Politik in einem einzigen Kommentar viermal mit dem “Gesetz der Rache” in Verbindung bringt; wenn er Israels Streitkräften die gezielte Tötung von Kindern unterstellt (“Ein 13-jähriger palästinensischer Junge soll vor einer Woche beim Fußballspielen von einem israelischen Helikopter aus erschossen worden sein”), wenn er den Gaza-Streifen mit einem KZ assoziiert (“1,7 Mio. Menschen hausen da, zusammengepfercht. [...] Gaza ist ein Gefängnis. Ein Lager.”) oder wenn er das Klischee von der jüdischen Weltverschwörung bemüht.

 

Und immer wieder blitzt dieses Phantasma jüdischer Allmacht auf, wie man es vom antisemitischen Klassiker “Die Protokolle der Weisen von Zion” kennt. Die “Juden”, heißt es in den “Protokollen”, werden “sobald ein nichtjüdischer Staat es wagt, [ihnen] Widerstand zu leisten [...], den Weltkrieg entfesseln” (Sammons 1998: 53). Grass war der erste prominente Nachkriegsdeutsche, der die Phantasie vom jüdischen Weltkriegstreiber neu popularisierte (Küntzel 2012: 247 f.), Augstein war der erste prominente Journalist, der sie für den deutschen Zeitungsbetrieb salonfähig machte.

 

Doch damit nicht genug: Augstein behauptet, dass “die Regierung Netanjahu die ganze Welt am Gängelband [führt] ” und “die ganze Welt als Geisel” nimmt; er insinuiert, dass die israelische Regierung hinter einem provokanten Mohammed-Film aus Hollywood stecke und er behauptet, dass sich jeder US-Präsident “vor den Wahlen [...] die Unterstützung der jüdischen Lobbygruppen sichern” müsse.

 

Die rhetorischen Muster, die Augstein für seine Kolumnen benutzt, entsprechen ziemlich genau der Definition des “antizionistischen Antisemitismus”, wie sie der Bericht des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus des Deutschen Bundestages am 10. November 2011 formulierte. “Der antizionistische Antisemitismus”, heißt es hier, “tritt unter dem Deckmantel der Ablehnung der Innen- und Außenpolitik des Staates Israel auf, der im Kern aus einer besonderen ideologischen Verzerrung und pauschalen Diffamierung des jüdischen Staates besteht, die sich zugleich traditioneller antisemitischer Stereotype bedient” (Bundesministerium des Innern 2011: 12).

 

Das alles hinderte Augstein nicht, sich gegenüber dem Wiesenthal-Zentrum als der bessere Antisemitismuskenner aufzuspielen. “Für [...] den Kampf gegen den Antisemitismus hat das SWC meinen ganzen Respekt. Umso betrüblicher ist es, wenn dieser Kampf geschwächt wird”, erklärte er unmittelbar nach Bekanntwerden seiner Listung auf Facebook (Akyol 2012). Schauen wir uns die Auseinandersetzung, die nun folgte, genauer an.

Info:

 

Dieser Aufsatz wurde 2015 erstmals in dem von Monika Schwarz-Friesel herausgegebenen Band “Gebildeter Antisemitismus. Eine Herausforderung für Politik und Zivilgesellschaft” im Nomos-Verlag Baden-Baden als Band 6 der von Prof. Samuel Salzborn herausgegebenen Reihe “Interdisziplinäre Antisemitismusforschung” veröffentlicht und im Januar 2016 mit Zustimmung der Herausgeberin und des Verlages als Online-Extra Nr. 231 des Online-Portals http://www.compass-infodienst.de dokumentiert. Einen Prospekt des sehr zu empfehlenden Buches und dessen Inhaltsverzeichnis finden sich am Ende aller Beiträge

 

Inzwischen haben Lukas Betzler und Manuel Glittenberg ein 300-seitiges Buch über die Jakob Augstein-Debatte veröffentlicht: Antisemitismus im deutschen Mediendiskurs. Eine Analyse des Falls Jacob Augstein, Nomos Verlag Baden-Baden 2015, Bd. 5 der Reihe Interdisziplinäre Antisemitismusforschung.

 

Ein Literaturverzeichnis rundet die umfangreiche Serie am Schluß ab.