Die Jacob Augstein-Debatte: Eine verpasste Chance. Ein Beitrag Sammelband "Gebildeter Antisemitismus", Teil 2
Matthias Küntzel
Hamburg (Weltexpresso) - Vor seiner Listung durch das Wiesenthal Center hatte Jakob Augstein sechs Israel-bezogene Kommentare verfasst. In keinem ist von “Juden” die Rede, in keinem wird das Existenzrecht Israels explizit bestritten. Warum also der Vorwurf aus den USA?
Schauen wir uns seine Kolumne vom 06. April 2012 über das kurz zuvor veröffentlichte Prosa-Gedicht von Günter Grass “Was gesagt werden muss” an. Die Zeilen dieses Gedichtes markierten, so Augstein,
“eine Zäsur. Es ist dieser eine Satz, hinter den wir künftig nicht mehr zurückkommen: ,Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden.‘ Dieser Satz hat einen Aufschrei ausgelöst. Weil er richtig ist. Und weil ein Deutscher ihn sagt, ein Schriftsteller, ein Nobelpreisträger, weil Günter Grass ihn sagt. Darin liegt ein Einschnitt. Dafür muss man Grass danken. Der hat es auf sich genommen, diesen Satz für uns alle auszusprechen” (Augstein 2012a).
Israel zum potenziellen Weltbrandstifter zu erklären, ist problematisch genug. Augstein aber hält es für besonders wichtig, dass gerade “ein Deutscher” diesen Vorwurf formuliert. Dies ist für ihn der Einschnitt, hinter den “wir künftig nicht mehr zurückkommen” dürfen. Aber auch sonst macht der Sohn des Spiegel-Gründers aus seinem Wunsch nach einer Revision der deutschen Israelpolitik keinen Hehl:
“Es muss uns nämlich endlich einer aus dem Schatten der Worte Angela Merkels holen, die sie im Jahr 2008 in Jerusalem gesprochen hat. Sie sagte damals, die Sicherheit Israels gehöre zur deutschen ,Staatsräson‘” (Augstein 2012a).
Die Metapher vom Schatten ist bemerkenswert, weil sie auf den Schatten von Auschwitz verweist. Augstein möchte nicht nur aus dem Schatten der Worte Angela Merkels geholt, er möchte auch von der Last der deutschen Geschichte erlöst werden.
In einer weiteren Kolumne über die Lieferung eines U-Boots an Israel zeigt Augstein, warum ihn das Düstere dieses Schattens so drückt:
“Israel bekommt, was es will. [...] Wenn es um Israel geht, gilt keine Regel mehr: Politik, Recht, Ökonomie—wenn Jerusalem anruft, beugt sich Berlin dessen Willen. [...] Die Regierung Merkel hat einmal kurz versucht, von den Israelis so etwas wie eine Gegenleistung für die deutsche Großzügigkeit zu erlangen: die Siedlungspolitik sollte geändert werden, Gaza solle die Genehmigung erhalten, ein von Deutschland finanziertes Klärwerk fertig zu bauen, und die eingefrorenen Steuergelder der Palästinensischen Autonomiebehörde sollten freigegeben werden. Als die Israelis mit dem Lachen fertig waren, haben sie die palästinensischen Steuergelder freigegeben. Das war’s” (Augstein 2012b).
Die Behauptung, dass sich die Bundesregierung dem Willen der israelischen Regierung beuge, hat mit der Realität ebenso wenig zu tun, wie das imaginierte Hohngelächter über Wünsche aus Berlin. Hier zeichnet Augstein ein Fantasiegemälde, das um infam lachende Juden und ausgelachte Deutsche kreist.
Augstein scheint es weniger um Israel als um seine Rolle als Deutscher gegenüber Israel zu gehen. Es geht ihm darum, den Schatten des Holocaust zu verlassen und endlich einen Schlussstrich zu ziehen. “Ich möchte als Journalist über israelische Sicherheits- und Siedlungspolitik keine verdrucksten Texte schreiben. [...] Ich will diesen neurotischen Journalismus nicht”, erklärte er im Spiegel-Streitgespräch; ”[ich bin] derjenige, der an dieses Israel eben keinen Doppelstandard anlegt.” (Beyer/Follath 2013)
Fortsetzung folgt
Info:
Dieser Aufsatz wurde 2015 erstmals in dem von Monika Schwarz-Friesel herausgegebenen Band “Gebildeter Antisemitismus. Eine Herausforderung für Politik und Zivilgesellschaft” im Nomos-Verlag Baden-Baden als Band 6 der von Prof. Samuel Salzborn herausgegebenen Reihe “Interdisziplinäre Antisemitismusforschung” veröffentlicht und im Januar 2016 mit Zustimmung der Herausgeberin und des Verlages als Online-Extra Nr. 231 des Online-Portals http://www.compass-infodienst.de dokumentiert. Einen Prospekt des sehr zu empfehlenden Buches und dessen Inhaltsverzeichnis finden sich am Ende aller Beiträge
Inzwischen haben Lukas Betzler und Manuel Glittenberg ein 300-seitiges Buch über die Jakob Augstein-Debatte veröffentlicht: Antisemitismus im deutschen Mediendiskurs. Eine Analyse des Falls Jacob Augstein, Nomos Verlag Baden-Baden 2015, Bd. 5 der Reihe Interdisziplinäre Antisemitismusforschung.
Ein Literaturverzeichnis rundet die umfangreiche Serie am Schluß ab.