New York als Paradebeispiel für friedliche Koexistenz

Julian Voloj

New York (WEltexpresso) - New York mit seinen mehr als acht Millionen Menschen kann als ein Paradebeispiel für friedliche Koexistenz angesehen werden.
Im Grossraum New Yorks leben rund 1,5 Millionen Juden, die Teil einer Symbiose von Kulturen sind.


New York City ist Heimat der größten jüdischen Diaspora der Welt. Etwa 1,5 Millionen Juden leben im Grossraum der Stadt und sind Teil einer Symbiose von Kulturen, die in der Millionenmetropole zu finden sind. Das chaotische, aber überwiegend friedvolle Miteinander, das man im Big Apple erleben kann, ist nicht nur faszinierend, sondern auch inspirierend.

Die Stadt New York ist in fünf Stadtbezirke eingeteilt, die alle ihre eigenen Identitäten und Verwaltungen haben. Staten Island ist für viele, in den Worten der jüdischen Künstlerin Jenny Tango, «New Yorks vergessener Stadtteil». Knapp eine halbe Million Menschen leben auf der 150 Quadratkilometer grossen Insel, was Staten Island somit zum am dünsten besiedelten Stadtbezirk macht. Zum Vergleich: In Manhattan leben mehr als dreimal so viel Menschen auf etwa einem Drittel der Wohnfläche.

Um ihren Stadtbezirk aus der Vergessenheit herauszuheben, dokumentierte Tango, die seit Jahrzehnten auf Staten Island lebt, in ihrem Buch «The Jewish Community of Staten Island» die Geschichte des Stadtteils aus jüdischer Sicht. So lernt man beispielsweise, dass sich Ende des 19. Jahrhunderts im Nordteil der Insel viele Brauereien befanden, die oftmals von deutschen Juden betrieben wurden. Auf dem Victory Boulevard, einer Hauptverkehrsader der Insel, steht noch heute Staten Islands ältestes Synagogengebäude, 1894 als Temple B’nai Jeshurun erbaut, heute eine Baptistenkirche.



Überfahrt mit der Fähre

Am Nordende des Victory Boulevards befindet sich die Wartehalle für die Fähre nach Manhattan. Für die meisten Touristen, und wohl auch die meisten New Yorker, ist die erste Assoziation mit der Insel die Staten Island Ferry, eine kostenlose Fähre, die den Stadtbezirk mit Manhattan verbindet.

Es ist kurz vor sieben Uhr morgens und Hunderte von Menschen stehen müde in der Wartehalle. Ein indischer Mann im Turban, Schwarze in traditioneller afrikanischer Kleidung, verschleierte Frauen, weisse Polizisten, deren Namensschilder auf italienische und deutsche Vorfahren deuten, aber auch orthodoxe Juden, die aus Kostengründen immer mehr nach Staten Island ziehen. Als sich um Punkt sieben die Tore öffnen, strömen die Menschen in die Fähre. Es ist ein warmer Morgen. Die aufgehende Sonne taucht die Freiheitsstatue, die man auf der 20-minütigen Schiffsreise passiert, in einem sanften Ton. Doch nur die wenigsten bewundern den Ausblick. Die Passagiere am frühen morgen sind fast ausschliesslich Pendler, von denen viele bereits mehr als eine Stunde unterwegs waren, um die Fähre nach Manhattan zu nehmen.

Die lokalen Zeitungen berichten von einem Anschlag auf eine Moschee in Queens. Schuld hat Donald Trump, meinen einige, denn seine Hetze sei höchst unamerikanisch. Andere wiederum interessieren sich mehr für die gestrigen Spiele der beiden New Yorker Baseballteams. Yankees oder Mets, das ist für New Yorker eine Frage, die fast religiös diskutiert wird, ganz gleich welche Hautfarbe oder Religion man hat.

In der Ferne kann man Ellis Island bestaunen, einst das Tor in die USA. Zwischen 1892 und 1954 wanderten zwölf Million Menschen hier in die Vereinigten Staaten ein. Viele kamen nach wochenlanger Schiffsfahrt hier an. Die Insel ist heute ein Museum, das Amerikas Migrationsgeschichte dokumentiert.



Eine Frage der Geschwindigkeit

Von der Reling der Fähre bewundert man nun die Skyline im Südzipfel Manhattans. Neben einigen Hochhäusern aus den 1930er-Jahren finden sich hier vor allem Wolkenkratzer, die in den siebziger und achtziger Jahren erbaut wurden. Dominierend ist schon aus der Ferne der Freedom Tower, der auf den Ruinen des World Trade Center erbaut wurde. Obwohl die Besucherplattform erst um 9 Uhr aufmacht, haben sich hier schon lange Schlangen von Touristen gebildet, die ruhig warten, um die Aussichtsplattform zu sehen.

Ein Unterschied zwischen Touristen und Einheimischen in Manhattan ist Geschwindigkeit. New Yorker sind immer im Wettlauf mit der Zeit, und nirgendwo wird das deutlicher als im Financial District, der Region um die Wall Street, wo Börsenmakler mit Kaffee und Donuts in Pappcontainern zu ihren Arbeitsplätzen laufen.

Wall Street markiert die Nordgrenze des historischen Neu Amsterdam. Hier stand einst die Stadtmauer. Doch obwohl diese Gegend die älteste von Manhattan ist, finden sich hier nur wenige Überreste der Vergangenheit. Die 1846 erbaute Trinity Church ist eines der wenigen historischen Gebäude, das den Immobilienboom der Stadt überlebt hat. Auf dem anliegenden Friedhof befindet sich unter anderem das Grab des Gründungsvaters Alexander Hamilton, der aufgrund eines neuen Broadway-Musicals von New Yorkern wiederentdeckt wird.


Historisches Immigrantenviertel

Wenn Einheimische vom «alten New York» reden, dann meinen sie jedoch nicht die Gegend im Süden Manhattans, sondern die Lower East Side, New Yorks historisches Immigrantenviertel. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts lebten hier Millionen von Einwanderern, darunter auch viele Juden, was man allein daran erkennen kann, dass es hier noch Dutzende von Synagogen gibt. Auf der East Sixth Street, dort, wo die Lower East Side endet und das East Village anfängt, wird momentan eine ehemalige Synagoge in Luxuswohnungen umgebaut. Auf der Baustelle wird hauptsächlich Polnisch und Spanisch gesprochen.

Gegen zehn Uhr findet man die ersten Touristengruppen, die in der Lower East Side auf jüdischer Spurensuche sind, und das sind vor allem jüdische Delikatessenläden wie etwa Katz Deli, Yonah Schimmel, oder Russ and Daughters. Unweit davon befindet sich Little Italy, wo ebenfalls kulinarische Genüsse das Nostalgiegefühl füttern, doch in den meisten italienischen Restaurants findet man keine Italiener, sondern vor allem Bosnier und Chinesen. Gerade mal zwei Strassen sind von Little Italy übrig geblieben, der Rest ist Teil von Chinatown geworden, ein Sammelbegriff für alle möglichen asiatischen Gruppen, die sich hier niedergelassen haben. Eine lange Schlange bildet sich vor einem vietnamesischen Juwelierladen, doch die Kundschaft ist nicht an Schmuck interessiert, sondern an den Sandwiches, die im hinteren Teil des Ladens verkauft werden. Ein New Yorker Magazin berichtete vor Kurzem von diesem kulinarischen Juwel und nun boomt das Geschäft zur Mittagszeit.



Jüdisches Brooklyn

Für viele ist New York synonym mit Manhattan, denn hier findet man das New York, das man aus Filmen und Fernsehen kennt. Doch das richtige Leben spielt sich anderswo ab, etwa in Brooklyn, das mit 2,6 Millionen Einwohnern der bevölkerungsreichste Bezirk der Stadt ist. Etwa ein Viertel der Einwohner Brooklyns ist jüdisch. Nach einer halben Stunden in der Subway, New Yorks U-Bahn, kommt man von der Lower East Side in Borough Park an, doch es kommt einem so vor, als ob man in einer Zeitmaschine war. Borough Park ist das grösste der drei chassidischen Viertel Brooklyns. Einigen Schätzungen zufolge leben hier 300 000 ultraorthodoxe Juden aus Dutzenden von chassidischen Sekten. Es sind Schulferien und die Spielplätze find so voll wie die U-Bahn zur Stosszeit. Die Verkäuferinnen in den Supermärkten sind aus Mexiko, doch sie sprechen fliessend Jiddisch, die Muttersprache der überwiegenden Mehrheit der Kundschaft. Ja, der Schokoladenkuchen ist parve, und ja, es gibt tatsächlich über 30 verschiedene Sorten von Gefilte Fisch.

Zurück zur U-Bahn, die in Borough Park übrigens Jiddisch als eine der offiziellen Sprachen anbietet (die anderen sind Russisch, Koreanisch, Spanisch und, ach ja, natürlich auch Englisch). 20 Minuten später ist man in Brighton Beach, dem russischsprachigen Zentrum Brooklyns. Kyrillische Buchstaben haben hier fast komplett das lateinische Alphabet ersetzt. Der Sandstrand ist relativ leer, es ist schliesslich ein Wochentag und die Menschen sind bei der Arbeit, und die Wellen sind relativ mild. Die meisten Einwohner hier sind Rentner. Auf dem legendären Boardwalk, dem Steg, der dem Strand entlang verläuft, sieht man alte Babuschkas langsam spazieren, aber auch grauhaarige Männer in knappen Badeanzügen, die ein Dutzend Goldketten um den Hals tragen. In der Ferne wirkt die Skyline von Manhattan wie ein anderer Planet.



Multikulturelles Queens

Mit dem Taxi geht es weiter nach Queens, da es keine guten U-Bahn-Verbindungen von Brooklyn aus gibt. Mit über 100 Quadratkilometer Fläche ist Queens der grösste Stadtbezirk New Yorks. Knapp die Hälfte der 2,3 Millionen Einwohner wurde ausserhalb der USA geboren. Stolz ist man darauf, dass Queens der multikulturellste Ort der Welt ist, in dem tagtäglich über 100 Sprachen gesprochen werden. Nirgendwo wird das friedliche Nebeneinander besser illustriert als hier.

Einer der farbenfrohesten Teile von Queens ist Jackson Heights, einst eine Gegend für protestantische Weisse, die Juden ebenso ausschloss wie katholische Italiener und Iren. Die diskriminierende Politik auf dem Immobilienmarkt änderte sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Heute ist Jackson Heights vor allem als Little India bekannt, in dem man bunte Hochzeitskleider und Goldschmuck bewundern kann. Wie in Chinatown lebt hier keine homogene Gruppe, so dass viele der Einwohner je nach Strasse Jackson Heights in Little India, Little Pakistan und Little Bangladesh einteilen. Entlang der 37th Avenue, wo sich das Jackson Heights Jewish Center befindet, leben die meisten Lateinamerikaner, von denen Kolumbianer die grösste Gruppe ausmachen, was Jackson Heights ebenfalls die Spitznamen Little Colombia eingebracht hat. Das friedliche Nebeneinander illustriert, wie New York wirklich funktioniert. Es ist weniger der viel zitierte Schmelztiegel, sondern eher ein Mosaik von Gruppen, die ein Gesamtbild kreieren, doch sich nicht unbedingt vermischen.



Aufstrebende Südbronx

Zuletzt geht es in die Bronx, einer der fünf ärmsten Wahlbezirke der USA. Anfang des 20. Jahrhunderts war dies die Gegend, in die aufstrebende Mittelklassefamilien zogen, sobald sie genügend Geld erspart hatten, um die überfüllte Lower East Side zu verlassen. Im Gegensatz zu vergleichbaren Gegenden in Queens wurden hier Nichtprotestanten nicht diskriminiert, so dass vor allem Italiener und Juden in die Bronx zogen. In den 1930er-Jahren war die Hälfte der Bevölkerung des Stadtbezirks jüdisch, und noch heute finden sich hier Dutzende, wenn nicht Hunderte von ehemaligen Synagogengebäuden, wie etwa das heutige Bronx Museum of the Arts. Die Südbronx, einst Synonym für Drogensucht und Bandenkriege, erlebt momentan – wie die Stadt allgemein – einen Bauboom. Der Immobilienentwickler Keith Rubenstein renoviert leerstehende Lagerhallen entlang des Hafens und verwandelt sie in Luxuswohnungen. Gute Verkehrsanbindung an Manhattan macht den Süden der Bronx attraktiv.

Im Norden des Stadtteils ist davon weniger zu spüren. Am Pelham Parkway betreibt Rabbiner Edelstein eine koschere Suppenküche. Viele der Juden in dieser Gegend leben unterhalb der Armutsgrenze und seit Jahrzehnten betreibt der Rabbiner hier zusammen mit seiner Frau die Essensausgabe. Auch wenn immer weniger Juden in der Gegend leben, ist die Nachfrage steigend. Der Grund: Viele bosnische Muslime, die in die Gegend ziehen. «Und da koscher automatisch die Halalansprüche erfüllt, ist dies eine der wenigen Essensausgaben, die sie aufsuchen können.» Ein Problem sieht der Rabbiner nicht, denn es geht ja nicht darum, nur Juden zu helfen, sondern Armut in New York zu bekämpfen, und so finden sich in dem Zentrum auch viele mexikanische Einwanderer, denen der Rabbiner auf Spanisch erklärt, wie man Lebensmittelkarten beantragt oder eine staatliche Krankenversicherung.



Kulturelles Erbe

«Die Bronx ist besser als ihr Ruf», versichert der in der Bronx geborene Ray Felix. Felix ist Comic-Künstler und stolz auf die Wurzeln, die diese amerikanische Kunstform in der Bronx hat. In den dreissiger und vierziger Jahren gingen viele der Comicbuchpioniere wie etwa die Batman-Erfinder Bob Kane und Bill Finger, oder der als Stanley Lieber geborene Miterfinder von Spiderman und den Fantastischen Vier, Stan Lee, auf die DeWitt Clinton Hight School. Unweit der Schule organisiert Felix im Poe Park, benannt nach Edgar Allan Poe, dessen Haus hier noch steht, regelmässig Ausstellungen und Workshops, zuletzt über den Vater der Graphic Novel, Will Eisner.

Ebenfalls im Norden der Bronx ist das Bronx Music Heritage Center, das das reiche Musikerbe des Stadtbezirks zelebriert. Eine Ausstellung zeigt momentan Fotografien aus den Gründertagen der Hip-Hop-Kultur. Hip Hop ist heute zum Multimillionendollargeschäft geworden, doch in der Bronx findet man die Kunstform noch in ihrer ursprünglichen Form, und so auch in Crotona Park, wo DJs bei Sonnenuntergang eine Open-Air-Party organisieren. Hinter den Mischpult und auf der Tanzfläche befinden sich viele Pioniere aus den Gründertagen und eine neue Generation von Künstlern, die Hip Hop neu interpretieren, darunter auch die puertorikanisch-russisch-jüdische DJ Perly, die dieses Jahr New Yorks DJ-Meisterschaft gewann.

New York, Heimat von über acht Millionen Menschen und über acht Millionen Geschichten in Hunderten von Sprachen, die manchmal für Missverständnisse sorgen, jedoch allgemein ein Paradebeispiel für friedliche Koexistenz ist.

 

Foto: Im Grossraum New Yorks leben rund 1,5 Millionen Juden, die Teil einer Symbiose von Kulturen sind. (c) tachles

Info: Abdruck aus tachles, dem jüdischen Wochenmagazin vom 7. Oktober 2016