Mutmaßungen über einen Kandidaten

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Wenn man dem ZDF-Politbarometer Glauben schenkt, zählt Frank-Walter Steinmeier zu den beliebtesten deutschen Politikern.


Mein Freundes- und Bekanntenkreis, mich selbst eingeschlossen, wundert sich darüber. Allerdings sind wir auch noch nie von Demoskopen über unsere Meinung zum derzeitigen Außenminister, SPD-Kanzlerkandidaten von 2009 und Staatsminister im Kabinett Schröder befragt worden. Vielleicht erfüllen wir die Zugangsvoraussetzungen für solche Interviews nicht: Beispielsweise einen Facebook-Account (den keiner von uns unterhält) oder der regelmäßige Besuch von Harmonie-Veranstaltungen, auf denen Helene Fischer, Andrea Berg, Hansi Hinterseer oder Andreas Gabalier der Volksseele Mut machen (auch da können wir nicht mithalten). Folglich müssen wir befürchten, dass Steinmeier, sollte er zum Bundespräsidenten gewählt werden, unser Gesellschafts- und Politikverständnis nicht repräsentiert.

Steinmeier sei ein „Mann der Mitte“, erklärte die Bundeskanzlerin zu seiner Nominierung durch die Große Koalition. Und er genösse die Unterstützung der Wirtschaft und anderer gesellschaftlicher Gruppen. Der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Reiner Haseloff, lobte gar, dass er „für Hartz IV gekämpft“ habe. Die LINKE wird diese Steilvorlage gern annehmen. Schließlich wirft sie ihm vor, zu den verantwortlichen Konstrukteuren der Agenda 2010 gehört zu haben.

Ein Bundespräsident, der sich die aktive Mitwirkung am größten Sozialabbau in der bisherigen Geschichte der Bundesrepublik vorwerfen lassen muss und der sich davon bis heute nicht distanziert hat, wird früher oder später ein Akzeptanzproblem bekommen. Weil er dort, wo Integration dringend notwendig ist, nicht wird integrieren können. Nämlich bei den Opfern dieser Politik, die längst den so genannten Mittelstand erreicht hat.
Also Menschen mit solider Schul- und Berufsausbildung, die lange das stabile Rückgrat der deutschen Arbeitnehmerschaft bildeten. Und die man aussortierte, weil sie durch kostengünstigere Zeitarbeiter ersetzt wurden, zu alt waren (50 plus) oder deren Betriebe man in Billiglohnländer verlagerte. Ganz zu schweigen von denen, die von vornherein benachteiligt waren. Beispielsweise die Kinder armer Eltern, in deren Familien Bildung unterbewertet wurde und wo man von der Hand in den Mund lebte. Oder all jene, für die Migration ein Schlagwort aus Sonntagsreden blieb.

In wenigen Jahren, möglicherweise bereits während der Amtszeit des Bundespräsidenten Steinmeier, werden diese neuen und alten Armen wegen der Rentenpolitik, die der Kanzleramtsminister Steinmeier mit entwarf, endgültig bitterarm und hoffnungslos sein. Oder ihre Hoffnungen auf Nationalisten und Rassisten wie die AfD setzen, weil ihnen diese einen Kampf gegen das Establishment in Aussicht stellen (Donald Trump lässt grüßen).

Dieses Establishment, also die herrschende politische Klasse, hat sich trotz der bedrohlichen Krisen in dieser Gesellschaft nicht dazu überwinden können, eine Persönlichkeit als Präsidentschaftskandidaten zu nominieren, die für etwas anderes als die Fortsetzung des Pragmatismus steht, also für die unbedingte Hinwendung zum Menschen, zum Schicksal des Einzelnen. Mutmaßlich wird das auch gar nicht gewünscht, würde dem neoliberalen Geist der Zeit zuwiderlaufen.

Ich kenne Frank-Walter Steinmeier nicht, weiß nicht, wie er privat denkt, vermag seine politischen Ideale nicht einzuschätzen. Wahrgenommen habe ich ihn ausschließlich als einflussreichen Mitgestalter verschiedener Regierungsapparate. Seine in diesen Zusammenhängen zu Tage getretenen Eigenschaften entsprachen den Zielen des Systems. Eine bemerkenswerte eigene Handschrift, von der seine Entscheidungen gekennzeichnet waren, ist mir nicht aufgefallen.

Als er 2009 für die SPD als Kanzlerkandidat antrat, konnte ich mir nicht vorstellen, dass sich hinter dieser Fassade ein deutscher Gorbatschow oder ein zweiter Willy Brandt verbergen würde, der nur darauf wartete, nach einem Wahlsieg endlich mit einer umfassenden Erneuerung zu beginnen. Nein, ich befürchtete eine Epoche ohne Lösung der vielen drängenden Probleme, sah eine bleierne Zeit voraus.
Seit ich die Nachricht von der Kandidatur Steinmeiers für das Amt des Bundespräsidenten vernahm, ist meine Skepsis nicht geringer geworden.

Trotzdem wird ein von unkritischen Massenmedien hochgejubelter Mainstream in Steinmeier den Idealtyp eines Präsidenten erkennen. Eine Gesellschaft, die auf der Bewusstlosigkeit eines großen Teils ihrer Mitglieder fußt, bedarf der Bestätigung ihres Lebensgefühls, das sich im derzeitigen Event-Streben spiegelt: „Atemlos durch die Nacht, bis ein neuer Tag erwacht...“. Darauf einen Steinhäger!

 

Foto: (c) SPD Oberhausen