Die Rolle der Gewerkschaften in der Gegenwart

Kurt Nelhiebel

Bremen (Weltexpresso) – Am 2. April hat Claudia Schulmerich an dieser Stelle kurz und knapp, aber grundsätzlich gefragt, welche Rolle die Kirche heute noch spielt. Die Frage lässt sich erweitern: Welche Rolle spielt die Gewerkschaft heute noch für den Einzelnen und für die Gesellschaft? Ähnliches gilt unter anderem für den Zentralrat – nein, nicht der Muslime – sondern der Juden in Deutschland. Heinz Galinski und Ignatz Bubis waren als Präsidenten des Zentralrates nicht nur Stimme der Überlebenden des Holocaust, sondern auch das moralische Gewissen eines ganzen Volkes, des deutschen Volkes. Josef Schuster, der jetzige Präsident, meldet sich selten zu Wort, kaum jemand kennt seinen Namen.

Mit Reiner Hoffmann und Jörg Hofmann ist das genauso. Dabei hat jeder Millionen hinter sich. Der eine ist nämlich Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes, der andere Vorsitzender der größten Einzelgewerkschaft der Welt, der IG Metall mit mehr als zwei Millionen Mitgliedern. Verglichen damit ist die AfD mit ihren 26.ooo Mitgliedern ein popeliger Verein, dessen Wortführer Alexander Gauland und Frauke Petry gleichwohl in den Medien allgegenwärtig sind. Von der Sache her betrachtet spielt es keine Rolle, dass die einen Parteienvertreter und die anderen Gewerkschaftsvertreter sind. Das Grundgesetz räumt den Parteien keine Vorrangstellung ein. Dort heißt es: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“ Das heißt, dass auch andere mitwirken, nicht gnadenhalber, sondern mit vollem Recht. Sollte die Demokratie jemals ernsthaft in Gefahr geraten, sind die Gewerkschaften unsere einzige Rettung. Sollte jemand auf die Wahnsinnsidee verfallen, am Pulverfass eines Krieges zu zündeln, werden uns nur die Gewerkschaften vor dem Undenkbaren bewahren.

Noch nie seit der Kubakrise stand die Welt so nahe am Abgrund wie derzeit. Seit Jahren wurde nicht so fieberhaft an der Rüstungsspirale gedreht wie gerade jetzt. Hat sich der DGB der Ängste der Menschen angenommen? Sein umwerfendes Motto zum diesjährigen 1. Mai lautet: „Wir sind viele. Wir sind eins.“ Hätte der DGB in Zeiten wie diesen nicht etwas konkreter werden können? Fällt ihm nichts ein zur Erhöhung der Milliardenausgaben für die Nato, zu den Milliarden für ein neues Raketenabwehrsystem und zu den Milliarden für neue Kriegsschiffe? Finden sie es normal, dass deutsche Soldaten nach dem Afghanistan-Abenteuer jetzt nach Afrika geschickt werden, weil Deutschlands Sicherheit so wie eben noch am Hindukusch jetzt in Mali verteidigt werden muss?

Und sonst? Was hält der DGB für wichtig in diesem Super-Wahljahr? Die Gewerkschaften würden die „Themenschwerpunkte Rente und Arbeitszeit besonders vorantreiben“, heißt es im Maiaufruf. Und der DGB positioniere sich klar gegen Rechts. Da kehren die Gewerkschaften am Besten vor der eigenen Tür. Ausgerechnet Gewerkschaftsmitglieder haben bei den jüngsten Landtagswahlen überproportional oft die AfD gewählt. Bei keiner anderen Partei ist der Arbeiteranteil unter den Wählern mit 33 Prozent so hoch wie bei der AfD. Das hat seine Gründe. Nicht nur die Parteien kümmern sich zu wenig um die Sorgen und Nöte der Menschen.

Auf die Gewerkschaften trifft das ebenso zu. Verunsichert fühlen sich viele Menschen nicht in erster Linie weil die Gewerkschaften sich zu wenig um die Renten und um die Arbeitszeit kümmern, sondern weil sie von ganz anderen Ängsten zu wenig Notiz nehmen. „Wenn man sich die gegenwärtige ökonomische und politische Krise anschaut, diesen unglaublichen Moralverlust auf so vielen Ebenen – das kann einem Angst machen“, meinte dieser Tage Claus Peymann, der scheidende Intendant am Berliner Ensemble. „Ein wirtschaftlicher Zusammenbruch, gepaart mit vollständiger Inkompetenz, das kann auch ein friedliches Westeuropa sehr schnell in ein Pulverfass verwandeln.“

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