Die Bären und Abschied von Dieter Kosslick
Hanswerner Kruse
Berlin (Weltexpresso) - Die 69. Berlinale endete am Samstag nicht nur mit weisen Entscheidungen der Internationalen Jury für die Beiträge zum Wettbewerb. Insgesamt war der Abend auch eine bewegende Hommage an den scheidenden Festspielleiter Dieter Kosslick (70).
Den „Goldenen Bären für den besten Film“ erhielt der israelische Streifen „Synonymes“. Ein jüdischer Emigrant streift durch Paris und lernt wie besessen französische Synonyme: kämpfen, streiten, ringen, zanken... Schnell will er seine israelische Identität abstreifen, ein neues Leben beginnen. Aber es sind keine Franzosen, die ihn abweisen, die Fremdheit ist in ihm selbst. Das Werk berührt und weckt trotz seiner Kühle, sowie humorvollen oder absurden Szenen, Empathie.
Aber was heißt schon „bester Film“? Viele Wettbewerbsbeiträge sind gleich gut, die Verteilung könnte auch anders aussehen: „Systemsprenger“ erhielt den Silberbär „für einen Spielfilm, der neue Perspektiven eröffnet“ - er hätte den Goldbären ebenfalls bekommen können. Der Streifen erzählt mit eindringlichen Bildern die Geschichte einer traumatisierten Neunjährigen, die ihre Zuneigung oder Wut nicht kontrollieren kann und das System der eigentlich engagierten Jugendhilfe sprengt.
Als Belohnung für die Programmkinos geht die Berlinale in die Stadtteile und präsentiert dort „auf dem Kiez“ einen Tag lang Festivalfilme. So kam sie ebenfalls in die JVA Plötzensee, in der Besucher von draußen und Gefangene gemeinsam „Systemspringer“ sehen und diskutieren konnten.
Seit jeher versteht sich die Berlinale als politisches Festival, ihr Motto in diesem Jahr war: „Das Private ist politisch.“ Da ist es schon ein deutliches Zeichen gegen den wachsenden Antisemitismus in Europa, explizit einen israelischen Film als besten auszuzeichnen. Ähnlich klare politische Deklarationen sind auch die Silber-Bären für „Gràce Á Dieu“ und „La Paranza Dei Bambini“. Der erste Streifen zeigt die verzweifelten Versuche von männlichen Missbrauchsopfern eines katholischen Pfarrers - dreißig Jahre nach seinen längst verjährten Taten - an die Öffentlichkeit zu gehen. Den zweiten Bären bekam der mutige Mafiakritiker Roberto Saviano, der das Drehbuch für die Geschichte der Kinder schrieb, die in Neapel mit grenzenloser Brutalität die Macht übernehmen.
Zum Beginn des Festivals wurde die mazedonische Regisseurin Mitevska in der Pressekonferenz zu ihrem Film „Petrunija“ gefragt, ob sie auf einen Bären hoffe. „Ich habe schon einen“, antwortete sie keck und zeigte ihren roten Bären-Anstecker, der sie als Teilnehmerin kenntlich machte. Einen echten Bären erhielt sie leider nicht, doch mehrere unabhängige Jurys, etwa die Kino-Gilde oder die Leser der „Morgenpost“, belohnten sie für ihr engagiertes Werk. Neben den Bären wurden fast 50 weitere Preise, Belobigungen und Prämien vergeben. Für die über 400 Filme ist die Präsentation auf der Berlinale auch ohne Auszeichnung „Marketing“, wie Kosslick während des Festivals oft betonte. So engagiert und politisch die prämierten Werke auch waren, ging das nie zu Lasten der filmästhetischen Qualität.
Viele Filmschaffende aus manchen Ländern dürfen ihre kritischen Streifen nicht in der Heimat zeigen. Sie finden wenigstens auf dem Festival, das so deutliche politische Positionen bezieht, Raum und Resonanz für ihre Arbeiten.
Die Gewinner der Berlinale sind (auch) die Frauen, die mit ihren Arbeiten überdurchschnittlich stark in allen Sektionen präsent waren. Und Kosslick natürlich, der die Breite und Qualität dieses Publikumfestivals mit 350.000 zahlenden Besuchern überhaupt erst möglich gemacht hat und dafür gebührend verabschiedet wurde.
Foto:
Fast schon verschwunden, Dieter Kosslicks letzte Pressekonferenz im Hyatt © Hanswerner Kruse