KrimiZEIT-Bestenliste in ZEIT und NordwestRadio für Juli 2013, Teil 2
Elisabeth Römer
Hamburg (Weltexpresso) – Im Juli sind wirklich besonders hochkarätige Krimis auf der KrimiBestenListe. So folgt auf Platz 5 neu OSAMA von Lavie Tidhar. (original 2011: Osama). Wie man nachlesen kann, hatte der 1976 geborene Israeli durch Zufall mehrfach damit zu tun, daß in seiner unmittelbaren Nähe Anschläge von Al-Kaida stattfanden, die er also erlebte, aber auch überlebte.
Seine Erfahrungen läßt er in eine ganz eigene Phantasie- und Wirklichkeitsreise einmünden, in der wir uns zurechtfinden müssen, auf welcher Seite wir jeweils stehen – oder ob alles eine Träumerei, wenngleich eine blutige ist. In der Tat beschäftigt einen beim Lesen diese Problematik erst später. Der Roman beginnt, wie ihn beispielsweise der deutsche Autor Bodo Kirchhoff liebt, wenn er .in SCHUNDROMAN die Huren und Auftragskiller im Flugzeug nebeneinanderplaziert und alles sehr bunt und auch ordinär daherkommt. Es geht als um Mike Longshott, der genauso ein – aber äußerst erfolgreicher – Schundromanautor ist.
In seinen Romanen begegnet uns dieser OSAMA als Romanfigur. Es geht übrigens durch die ganze Welt, fängt auf der ersten Seite mit einem gefälschten jemenitischen Paß in Nairobi an, sozusagen als Vorwort, und beginnt dann mit der Beauftragung des Privatdetektives Joe durch eine mysteriöse, aber sehr schöne Frau. Joe sitzt arbeitslos in seinem mehr als bescheidenen Büro in Vientiane und raucht, was es das Zeug hält. Whisky spielt auch das Buch über eine große Rolle, aber auch Kaffee und dessen Zubereitung. Das hat er beim täglichen Besuch im Kaffee gerade alles exerziert, seine Schundlektüre EINSATZ: AFRIKA aus der Serie: OSAMA BIN LADEN:VERGELTER durchblätternd.
Der Autor baut Spannung auch durch eine sehr präzise, aber langwährende Ortsbeschreibung auf. Denn, wenn wir genau erfahren, wie es in den Straßen und in seinem Büro aussieht, dann erwartet man immer, daß nun was passiert. Tut es aber nicht, bis überraschend eine Klientin auftaucht, die ihn lange beobachtet. „'Sie schienen in Gedanken zu sein', sagte sie, 'da wollte ich nicht stören'“.“Sie hatte lange braune Haare und war ziemlich zierlich, die Augen leicht mandelförmig, und obwohl sie eindeutig Europäerin war, wirkte sie von der Statur her eher asiatisch.“ Sie will von ihm etwas, was ihn zum Lachen bringt. Er soll nämlich den Autor des von ihm gerade gelesenen Buches, der sich Mike Longshott nennt, auffinden.
Daß der Name ein Pseudonym sei, das ist im klar. Aber als sie, die ihn braucht, auch noch „Geld ist kein Thema“ sagt und ihm eine Kreditkarte gibt, von der er erst nachfragen muß, was das ist, ist der Weg geebnet und das Buch nimmt seinen Lauf. Ein profundes Wissen um Autoren des 19. Jahrhunderts wie Dickens, aber auch de Quincey helfen einem, die Spur zu halten, denn Lavie Tidhar zieht einen in einen Sog aus Erinnerungen, Träumen, Phantasien hinein, in denen klar wird, daß Osama bin Laden eine Erfindung des Autors ist. Eine schreckliche, denn auf der Suche nach ihm, verwirrt sich ihm die ganze Welt – und auch wir haben Mühe, dem Drogenrausch des Helden zu folgen.
Denn zusätzlich zur Ausgangssituation des erfundenen Al-Kaidas Kämpfers, gerät Joe in die abenteuerlichsten und vor allem gefährlichsten Situationen. Es fließt viel Blut, der Terror steht nicht nur in den Büchern, sondern ereilt den Suchenden. Immerhin - und das ist ein großer Reiz des Buches - begegnen ihm auf seiner Suche von Paris bis sonstwo eine Menge absolut skurriler Typen, die man im Roman gerne wiedersieht. Denn es geht wirklich um Bücher und Buchhandlungen als Austragungsort der Weltgeschichte. Am Schluß driftet Joe ganz schön ab, so ein Sucherleben ist auch kaum zu ertragen und wir wissen aber, daß er überlebt, denn am Schluß sitzt er wieder in Vientiane und sieht durch die Sonne, die den Regen-, wahrscheinlich Rauchschleier durchbricht die junge Frau stehen und zu seinem Fenster aufsehen. Der Kreis schließt sich.
Die Plätze 6 bis 8 sind alle schon lange dabei.. Zum dritten Mal in dieser Reihenfolge wurden ausgewählt: Ole Steinhauer mit DIE SPINNE AUS DEM VERLAG; MATTHIAS WITTEKINDT mit MARMORMÄNNERN und Sara Gran zum vierten Mal mit DAS Ende der Welt, worüber wir in den vergangenen Monaten ausführlich berichteten. Neu auf Platz 9 ist
von Stephen Dobyns DAS FEST DER SCHLANGEN von C. Bertelsmann. Hier geht es um den alltäglichen Horror, den amerikanische Autoren von Faulkner bis Stephen King gerne und gekonnt beschreiben. Ein Baby ist aus der Säuglingsstation verschwunden. Aber das Bettchen ist nicht leer, darin liegt eine Schlange.
Schnell geht diese abstruse Nachricht durch die kleine Stadt Brewster und im Nu passieren weitere schreckliche Dinge und vor allem tauchen überall verdächtige Leute auf. Katzen werden ermordet, aber Kojoten streifen besitzergreifend durch die nächtliche Stadt. Auch hier weiß man bald nicht mehr, was reale Vorgänge sind, was pure Einbildung und wer sich die Mühe dieser Inszenierung macht. Aber das Entscheidende ist etwas anderes. Ich brauche nicht die Drogenmafia, auch nicht die russischen Verbrecher oder gar die internationalen Verbrechersyndikate. Das Unheil, die Gefahr, das Böse ist nebenan!
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Auf dem 10. Platz rückt um einen Platz nach unten Mark Peterson mit Flesh & Blood aus dem Rowohlt Verlag, ein Krimi, über den wir auch das letzte Mal berichteten.
Die KrimiZEIT-Bestenliste Juli 2013
Lfd. Nr. |
Rang |
Vor-monat |
Titel |
1 |
1 |
(1) |
Patrícia Melo: Leichendieb Aus dem Portugiesischen von Barbara Mesquita Tropen, 208 S., 18,95 € Corumbá, Grenze Brasilien/Bolivien. Dem namenlosen Icherzähler dieser moralischen Groteske fällt beim Angeln ein Flugzeug vor die Füße. Darin der sterbende Sohn eines reichen Viehzüchters und ein Kilo Koks. Welch ein Glück! Der Angler beginnt zu handeln: mit Stoff, mit Leichen, mit Zukunft. Melo ist Extraklasse. |
2 |
2 |
(-) |
Warren Ellis: Gun Machine Aus dem Englischen von Ulrich Thiele Heyne, 384 S., 9,30 € Manhattan. Detective Tallow entdeckt eine Schatzkammer mit den Waffen aller Serienkiller Amerikas. Der „Jäger“ nutzt dieses Arsenal auf seinem eigenen blutbespritzten Kriegspfad: Manhattan den Indianern! Wunschalbtraum des Comicautors Ellis: Mit Polizeisirene in die ewigen Jagdgründe! Voll abgedreht. |
3 |
3 |
(2) |
Robert Hültner: Am Ende des Tages btb, 320 S., 19,99 € München/Thalbach/Chiemgau um 1929. Die Nazis scheinen abgeschlagen, Kajetan könnte zurück zur Polizei. Noch klärt er einen Justizirrtum auf, da kollidiert er mit der Politik. Ein Flugzeug mit übler Konterbande ist abgestürzt. Bayern tappst in Richtung Ende. Historisch gewiefte, sprachlich ausgefeilte Krimikunst. |
4 |
4 |
(-) |
Arne Dahl: Bußestunde Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt Piper, 462 S., 19,99 € Stockholm/Bagdad. Verschwunden: der mächtigste Polizist Schwedens. Entführt: anorektische Frauen. 1 Fall für Paul Hjelm, 1 Fall für die A-Gruppe. Dahl spinnt globales, reißfestes Garn, zwischen Ellroy und le Carré. Zehnter und bester Band um das beamtete Ermittlungskünstler-Kollektiv. |
5 |
5 |
(-) |
Lavie Tidhar: Osama Aus dem Englischen von Julia Gräbener-Müller Rogner & Bernhard, 312 S., 22,95 € Vientiane/London/New York. Privatdetektiv Joe sucht den Mann, der Osama bin Laden erfand. Plausible Realitätsumkehr: Al-Kaida als Fantasieprodukt eines Serienschreibers. Auf der Suche nach der Wahrheit der Fiktion taumelt Joe wie durch Drogenwelten, gehetzt vom Komitee gegen Gegenwärtige Gefahr KGG. |
6 |
6 |
(3) |
Olen Steinhauer: Die Spinne Aus dem Englischen von Friedrich Mader Heyne, 492 S., 16,99 € New York/Peking/Welt. Milo Weaver, Überlebender der ultrageheimen „Touristen“-Abteilung, will nur noch Familie. Aber ein Ex-Chef und sein chinesischer Gegenspieler setzen auf Rache. Steinhauer spielt meisterhaft die pazifische Karte. So sieht der Politthriller von morgen aus: weltumspannend, komplex, rasant. |
7 |
7 |
(8) |
Matthias Wittekindt: Marmormänner Edition Nautilus, 288 S., 16,90 € Fleurville. Seit 40 Jahren nennt man sie „Marmormänner“. Einer lag als Wachsleiche am Bahndamm, die anderen drei sind perdu. Unruhe in der kleinen Stadt: Die Kleider eines Verschwundenen kommen ans Licht, ein Kind und seine Mutter werden entführt. Sorgsame Milieustudie über Vergessen, Verdrängen, Verschütten. |
8 |
(5) |
Sara Gran: Das Ende der Welt Aus dem Englischen von Eva Bonné Droemer, 368 S., 14,99 € San Francisco/Brooklyn. Fünf Gitarren, ein Pokerchip, Schlüssel – schwache Hinweise auf den Mörder von Paul, Claire de Witts Exgeliebtem. Prekäre Autonomie der Detektivin: Claire zerstört sich fast auf der Suche nach Wahrheit, nach dem Kindertraum geliebt zu werden. Kaliforniens Norden: kalt und hip. Gran fasziniert. |
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9 |
9 |
(-) |
Stephen Dobyns: Das Fest der Schlangen Aus dem Englischen von Rainer Schmidt C. Bertelsmann, 544 S., 14,99 € Brewster, Rhode Island. Ein neugeborenes Baby ist weg, die Plazenta auch. Kojoten streifen durch die Gassen, ein Junge trainiert Telekinese. Der Versicherungsdetektiv wird skalpiert. Zwischen Realem, Eingebildetem und Inszeniertem führt Dobyns akrobatische Erzählsprünge vor: Kleinstadthorrorverbrechensvergnügen pur. |
10 |
10 |
(9)
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Mark Peterson: Flesh & Blood Aus dem Englischen von Karen Witthuhn Rowohlt, 384 S., 9,99 € Brighton. Cops gegen Gangsterbosse – die raue, schnelle Story passt wie die Faust ins Auge von Sussex. Im Drogen- und Vergnügungsparadies an Englands Südstrand findet DS Minter seine Bestimmung: Ermitteln in Elend und Dreck. Schnörkelloses Debüt. Peterson kennt sich aus. |
INFO:
Die monatlich erscheinende Krimi-Bestenliste existiert seit März 2005, als sie erstmals auf der Leipziger Buchmesse, damals noch als KrimiWelt-Bestenliste vorgestellt wurde. Von März 2011 an wird sie regelmäßig an jedem ersten Donnerstag des Monats in der Wochenzeitung DIE ZEIT als KrimiZEIT-Bestenliste veröffentlicht.
Vorgestellt wird die KrimiZeit-JahresBestenliste
- im NordwestRadio am Donnerstag, den 4. Juli 2013 mit Tobias Gohlis gegen 8.50 Uhr im Nordwestradio Journal und in den Sendungen der Literaturzeit, nachzuhören unter http://www.radiobremen.de/nordwestradio/serien/krimizeit/index.html
in der Wochenzeitung DIE ZEIT am 4. Juli 2013 und unter www.zeit.de/krimizeit-bestenliste
Monatlich wählen achtzehn auf Kriminalliteratur spezialisierte Literaturkritiker aus Deutschland, Österreich und der Schweiz aus der Masse der Neuerscheinungen die zehn Titel aus, denen sie viele Leser wünschen. Das Beste vom Besten: Immerhin erscheinen übers Jahr verteilt über 1200 Kriminalromane auf Deutsch. An jedem ersten Donnerstag im Monat geben Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Sie halten nach dem literarisch interessanten, thematisch ausgefallenen, besonderen Kriminalroman Ausschau. Die besten Zehn werden mit Bibliographie und Kurzbeschreibung hier veröffentlicht.
Die Jury setzt sich zusammen aus:
Tobias Gohlis, Hamburg, Kolumnist DIE ZEIT, Moderator und Jury-Sprecher der KrimiWelt
Volker Albers, Hamburg, Hamburger Abendblatt, Herausgeber „Schwarze Hefte“
Andreas Ammer, „Druckfrisch“, Dlf, BR
Gunter Blank, Sonntagszeitung
Thekla Dannenberg, Perlentaucher
Fritz Göttler, München, Süddeutsche Zeitung
Michaela Grom, Heidelberg, SWR
Lore Kleinert, Bremen, Radio Bremen
Thomas Klingenmaier, Stuttgart, Stuttgarter Zeitung
Kolja Mensing, Berlin, Tagesspiegel
Ulrich Noller, Köln, Deutsche Welle, WDR
Jan Christian Schmidt, Berlin, Kaliber 38
Margarete v. Schwarzkopf, Köln, NDR
Ingeborg Sperl, Wien, Der Standard
Sylvia Staude, Frankfurt/M., Frankfurter Rundschau
Jochen Vogt, Elder Critic, NRZ, WAZ
Hendrik Werner, Bremen, Weser-Kurier
Thomas Wörtche, Berlin, Kolumnist, Plärrer , culturmag, DradioKultur
In der Regel kommentieren wir die von der Jury neu plazierten Krimis. Alle weiteren plazierten Krimis der Vormonate entnehmen Sie bitte unseren Krimi-Besprechungen in den vormonatlichen Artikeln, die Sie unter Kultur. Bücher oder unter dem Autorennamen im Archiv finden. Viermal inzwischen darf ein Buch einen Platz bekommen, dann scheidet es aus und hat nur noch die Chance, in der Jahresbestenliste wieder aufzutauchen, die Ende Dezember herauskommt. und die wir für 2012 ebenfalls kommentierten.