KrimiZEIT-Bestenliste in ZEIT und NordwestRadio für Juli 2013, Teil 1

 

Elisabeth Römer

 

Hamburg (Weltexpresso) –  Da muß man einverstanden sein, daß LEICHENDIEB von Patrícia Melo weiterhin den ersten Platz besetzt. Brasilianische Kriminalromane sind selten vertreten, noch dazu auf dem ersten Rang, noch dazu von einer Frau. So gilt das für uns. In Brasilien dagegen ist die Autoren als Schriftstellerin sehr bekannt und hat für INFERNO den Literaturpreis des Landes erhalten. Aber auch in Deutschland schlug O'MATADOR 1998 groß ein, für den sie den Deutschen Krimipreis erhielt.

 

Wenn man diesen Kriminalroman als moralische Groteske bezeichnet, liegt man richtig, denn wir erleben einen Unhold, der niederschreibt, wie unschuldig er ist. Das ist außerordentlich gelungen, weil je weiter er sich verstrickt, er selbst um so erstaunter tut. Mehr darüber in den vorherigen Kommentierungen. Neu dagegen ist auf Platz 2 GUN MACHINE von Warren Ellis aus dem Heyne Verlag. Der Autor – übrigens ein innig geliebter Comicautor – lebt im beschaulichen Südengland, sein Detective Tallow aber hat es in Manhattan  mit einem Serienkiller zu tun, der mehr als 100 Morde schon verübte, von denen keiner aufgeklärt wurde, während der sich der inzwischen unbesiegbar glaubende Mörder schon die nächsten plant.

 

Eine echt verrückte Geschichte, die man gar nicht leicht nacherzählen kann, aber sehr leicht empfehlen kann, denn so sehr Serienkiller eklig sind und sich auch durchaus abgenutzt haben, so interessant wird hier die Aufklärung. Der Mörder nämlich hält sich für den Unschuldigen, der als selbsternannter „Jäger“ die aufstöbert, die den Frieden von Manahatta der indianischen Ureinwohner des Gebietes stören, bevor also der weiße Mann dort erschien. Das Buch hat aber nicht nur mit diesem Typen eine besondere Art geschaffen, sondern kann mit dem fix und fertigen Kommissar auch einen ausweisen, der trotz aller Fehlschläge und des Älterwerdens seinen Frieden mit den Verbrechern nicht gemacht hat, sondern durch Schläue und der Hilfe zweier sehr merkwürdiger Forensiker den „Jäger“ stellt.

 

Über Robert Hültner  und seinen Krimi AM ENDE DES TAGES  auf Platz 3 und erschienen bei btb, haben wir schon gutes berichtet. Krimi zu schreiben, wäre viel zu wenig, hätte nicht das gesamte Genre inzwischen einen guten Ruf als dasjenige, in dem Geschichte aufgearbeitet wird und die Gesellschaft von damals und heute durchleuchtet wird. So auch durch den Inspektor Kajetan, der in den Dienst zurückgekehrt ist und aufräumt. Mehr gab es das letzte Mal. Auf Platz 4 folgt neu BUSSESTUNDE von Arne Dahl aus dem Piper Verlag. Arne Dahl ist einer der bekanntesten schwedischen Kriminalautoren und durch verschiedene Serien bekannt. Vor allem ist er ein Erfolgsautor, weil seine Bücher massenhaft gelesen werden. Dies geht nicht zu Lasten der Qualität, die immer interessante Geschichten und heftige gesellschaftspolitische Querellen ausweisen.

 

Hier geht es um den zehnten – und vorläufig abschließenden – Roman um die Stockholmer A-Gruppe, zu dem unser Krimipapst Tobias Gohlis ausführt: „ Hier  führt Arne Dahl beispielhaft seine Mischung aus hoher und niedriger Literatur vor. Er verknüpft einen Spionagefall (Hommage an John le Carré) mit einer komplexen Mordgeschichte, die sich anscheinend gegen selbstdestruktive anorektische Frauen richtet (Hommage an James Ellroy). In beiden Fällen geht es um Entführungen, in beiden auch um Krankheit: Selbstdestruktion und (Macht-)Gier. Bravouröser Schlussstein der Dekalogie, die Dahl von 1999 bis 2007 verfasste.“

 

Wir haben darin erst einmal erst einmal eine geschickt konstruierte Weise gelesen, in der es der Autor schafft, mit dem ganz Nahen, ja sogar der eigenen Tochter, vor der eigenen Haustür zu kehren und das Kehren der Nachbarn mitzuverfolgen und gleichzeitig die große Politik, besser: die internationalen Seilschaften wie von alleine zu verknüpfen. Wie nah und fern zusammenhängen, konnte man selten so genau verfolgen. Daß einem die Mädchen, die sich zu Tode hungern, besonders mitnehmen, hat mit unserer Realität zu tun, in der der Schlankheitswahn nach wie vor blüht, auch wenn es Versuche dagegen gibt. Auch der der Zeitschrift BRIGITTE gehörte dazu, die als Models nicht mehr Hungerharken nehmen wollte, sondern ihre Leserinnen als Modelle 'vermarktete'. Obwohl das ankam, sind sie zu den Models zurückgekehrt.

 

Das ist aber nur die eine Seite. Welche Tricks der Leiter der Gruppe Paul Hjelm anwendet , um lebendig zu bleiben, beeindruckt absolut und wir bewegen uns im Krimi – geführt von Dahl – immer dicht am Geschehen entlang, so wie es die Gruppe A wahrnehmen kann, erleben aber immer wieder, daß Paul Hjelm alle foppen konnte. Das freut uns bei den Bösen, aber wir empfinden auch die Gefühle derer, die sich durch ihn betrogen fühlten, weil sie um ihn trauerten mit. Ein spannendes Ding, dieser Krimi. Fortsetzung folgt.

 

Die KrimiZEIT-Bestenliste Juli 2013

 

 

Lfd.

Nr.

Rang

Vor-monat

Titel

1

1

(1)

Patrícia Melo: Leichendieb

Aus dem Portugiesischen von Barbara Mesquita

Tropen, 208 S., 18,95 €

Corumbá, Grenze Brasilien/Bolivien. Dem namenlosen Icherzähler dieser moralischen Groteske fällt beim Angeln ein Flugzeug vor die Füße. Darin der sterbende Sohn eines reichen Viehzüchters und ein Kilo Koks. Welch ein Glück! Der Angler beginnt zu handeln: mit Stoff, mit Leichen, mit Zukunft. Melo ist Extraklasse.

2

2

(-)

Warren Ellis: Gun Machine

Aus dem Englischen von Ulrich Thiele

Heyne, 384 S., 9,30 €

Manhattan. Detective Tallow entdeckt eine Schatzkammer mit den Waffen aller Serienkiller Amerikas. Der „Jäger“ nutzt dieses Arsenal auf seinem eigenen blutbespritzten Kriegspfad: Manhattan den Indianern! Wunschalbtraum des Comicautors Ellis: Mit Polizeisirene in die ewigen Jagdgründe! Voll abgedreht.

3

3

(2)

Robert Hültner: Am Ende des Tages

btb, 320 S., 19,99 €

München/Thalbach/Chiemgau um 1929. Die Nazis scheinen abgeschlagen, Kajetan könnte zurück zur Polizei. Noch klärt er einen Justizirrtum auf, da kollidiert er mit der Politik. Ein Flugzeug mit übler Konterbande ist abgestürzt. Bayern tappst in Richtung Ende. Historisch gewiefte, sprachlich ausgefeilte Krimikunst.

4

4

(-)

Arne  Dahl: Bußestunde

Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt

Piper, 462 S., 19,99 €

Stockholm/Bagdad. Verschwunden: der mächtigste Polizist Schwedens. Entführt: anorektische Frauen. 1 Fall für Paul Hjelm, 1 Fall für die A-Gruppe. Dahl spinnt globales, reißfestes Garn, zwischen Ellroy und le Carré. Zehnter und bester Band um das beamtete Ermittlungskünstler-Kollektiv.

5

5

(-)

Lavie Tidhar: Osama

Aus dem Englischen von Julia Gräbener-Müller

Rogner & Bernhard, 312 S., 22,95 €

Vientiane/London/New York. Privatdetektiv Joe sucht den Mann, der Osama bin Laden erfand. Plausible Realitätsumkehr: Al-Kaida als Fantasieprodukt eines Serienschreibers. Auf der Suche nach der Wahrheit der Fiktion taumelt Joe wie durch Drogenwelten, gehetzt vom Komitee gegen Gegenwärtige Gefahr KGG.

6

6

(3)

Olen Steinhauer: Die Spinne 

Aus dem Englischen von Friedrich Mader

Heyne, 492 S., 16,99 €

New York/Peking/Welt. Milo Weaver, Überlebender der ultrageheimen „Touristen“-Abteilung, will nur noch Familie. Aber ein Ex-Chef und sein chinesischer Gegenspieler setzen auf  Rache. Steinhauer spielt meisterhaft die pazifische Karte. So sieht der Politthriller von morgen aus: weltumspannend, komplex, rasant.

7

7

(8)

Matthias Wittekindt: Marmormänner

Edition Nautilus, 288 S., 16,90 €

Fleurville. Seit 40 Jahren nennt man sie „Marmormänner“. Einer lag als Wachsleiche am Bahndamm, die anderen drei sind perdu. Unruhe in der kleinen Stadt: Die Kleider eines Verschwundenen kommen ans Licht, ein Kind und seine Mutter werden entführt. Sorgsame Milieustudie über Vergessen, Verdrängen, Verschütten.

8

8

(5)

Sara Gran: Das Ende der Welt

Aus dem Englischen von Eva Bonné

Droemer, 368 S., 14,99 €

San Francisco/Brooklyn. Fünf Gitarren, ein Pokerchip, Schlüssel – schwache Hinweise auf den Mörder von Paul, Claire de Witts Exgeliebtem. Prekäre Autonomie der Detektivin: Claire zerstört sich fast auf der Suche nach Wahrheit, nach dem Kindertraum geliebt zu werden. Kaliforniens Norden: kalt und hip. Gran fasziniert.

9

9

(-)

Stephen Dobyns: Das Fest der Schlangen

Aus dem Englischen von Rainer Schmidt

C. Bertelsmann, 544 S., 14,99 €

Brewster, Rhode Island. Ein neugeborenes Baby ist weg, die Plazenta auch. Kojoten streifen durch die Gassen, ein Junge trainiert Telekinese. Der Versicherungsdetektiv wird skalpiert. Zwischen Realem, Eingebildetem und Inszeniertem führt Dobyns akrobatische Erzählsprünge vor: Kleinstadthorrorverbrechensvergnügen pur.

10

10

(9)

 

Mark Peterson: Flesh & Blood

Aus dem Englischen von Karen Witthuhn

Rowohlt, 384 S., 9,99 €

Brighton. Cops gegen Gangsterbosse – die raue, schnelle Story passt wie die Faust ins Auge von Sussex. Im Drogen- und Vergnügungsparadies an Englands Südstrand findet DS Minter seine Bestimmung: Ermitteln in Elend und Dreck. Schnörkelloses Debüt. Peterson kennt sich aus.

 

INFO:

 

Die monatlich erscheinende Krimi-Bestenliste existiert seit März 2005, als sie erstmals auf der Leipziger Buchmesse, damals noch als KrimiWelt-Bestenliste vorgestellt wurde. Von März 2011 an wird sie regelmäßig an jedem ersten Donnerstag des Monats in der Wochenzeitung DIE ZEIT als KrimiZEIT-Bestenliste veröffentlicht.

 

Vorgestellt wird die KrimiZeit-JahresBestenliste

- im NordwestRadio am Donnerstag, den 4. Juli 2013 mit Tobias Gohlis gegen 8.50 Uhr im Nordwestradio Journal und in den Sendungen der Literaturzeit, nachzuhören unter http://www.radiobremen.de/nordwestradio/serien/krimizeit/index.html

in der Wochenzeitung DIE ZEIT am 4. Juli 2013 und unter www.zeit.de/krimizeit-bestenliste

Monatlich wählen achtzehn  auf Kriminalliteratur spezialisierte Literaturkritiker aus Deutschland, Österreich und der Schweiz aus der Masse der Neuerscheinungen die zehn Titel aus, denen sie viele Leser wünschen. Das Beste vom Besten: Immerhin erscheinen übers Jahr verteilt über 1200 Kriminalromane auf Deutsch. An jedem ersten Donnerstag im Monat geben Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Sie halten nach dem literarisch interessanten, thematisch ausgefallenen, besonderen Kriminalroman Ausschau. Die besten Zehn werden mit Bibliographie und Kurzbeschreibung hier veröffentlicht.

 

 Die Jury setzt sich zusammen aus: 

Tobias Gohlis, Hamburg, Kolumnist DIE ZEIT, Moderator und Jury-Sprecher der KrimiWelt

Volker Albers, Hamburg, Hamburger Abendblatt, Herausgeber „Schwarze Hefte“ Andreas Ammer, „Druckfrisch“, Dlf, BR

Gunter Blank, Sonntagszeitung

Thekla Dannenberg, Perlentaucher Fritz Göttler, München, Süddeutsche Zeitung Michaela Grom, Heidelberg, SWR Lore Kleinert, Bremen, Radio Bremen Thomas Klingenmaier, Stuttgart, Stuttgarter Zeitung Kolja Mensing, Berlin, Tagesspiegel Ulrich Noller, Köln, Deutsche Welle, WDR Jan Christian Schmidt, Berlin, Kaliber 38 Margarete v. Schwarzkopf, Köln, NDR Ingeborg Sperl, Wien, Der Standard Sylvia Staude, Frankfurt/M., Frankfurter Rundschau

Jochen Vogt, Elder Critic, NRZ, WAZ Hendrik Werner, Bremen, Weser-Kurier Thomas Wörtche, Berlin, Kolumnist, Plärrer , culturmag, DradioKultur

 

 

In der Regel kommentieren wir die von der Jury neu plazierten Krimis. Alle weiteren plazierten Krimis der Vormonate entnehmen Sie bitte unseren Krimi-Besprechungen in den vormonatlichen Artikeln, die Sie unter Kultur. Bücher oder unter dem Autorennamen im Archiv finden. Viermal inzwischen darf ein Buch einen Platz bekommen, dann scheidet es aus und hat nur noch die Chance, in der Jahresbestenliste wieder aufzutauchen, die Ende Dezember herauskommt. und die wir für 2012 ebenfalls kommentierten. 

http://weltexpresso.tj87.de/index.php/buecher/1208-der-beste-krimi-2012-bleibt-von-fred-vargas-die-nacht-des-zorns-aus-dem-aufbau-verlag

 

http://weltexpresso.tj87.de/index.php/buecher/1208-der-beste-krimi-2012-bleibt-von-fred-vargas-die-nacht-des-zorns-aus-dem-aufbau-verlag