KrimiZEIT-Bestenliste in ZEIT und NordwestRadio für Februar 2016, Teil 2
Elisabeth Römer
Hamburg (Weltexpresso) – Das begeistert einen, wenn man über die KrimiZEITBestenListe auf neue Autoren gestoßen wird, wie es uns mit Tito Topin geht, dem Französisch schreibenden Typ aus Casablanca (geb. 1932), der nach seiner Emigration nach Brasilien (1956) von dort nach Frankreich ging (1966) und ein bekannter Illustrator, Drehbuchautor und eben Schriftsteller ist. Daß er 1990 und 1991 schon einmal mit vier Kriminalromanen ins Deutsche übersetzt war, ist unserer Erinnerung entschwunden.
Das wird uns mit EXODUS AUS LIBYEN nicht passieren, das erstmals im Januar auf Platz 6 kam und nun auf den dritten Platz hochrutschte. Das Buch hat einen ganz ungewöhnlichen Ton und auch einen sehr spezifischen Inhalt, den mit Arabellion zu umreißen so richtig wie falsch ist. Man könnte auch von den Opfern der vom Irak nach Libyen ausufernden US-Politik sprechen, wobei historisch richtig eine Mitte wäre, die alle politischen Schurken auf einer Linie zeigt. Hier jedoch geht es um das Entkommen aus Tripolis angesichts des strikt Pourriture (Verderbtheit) genannten libyschen Diktators, wozu ein Land Cruiser zur Verfügung steht, das acht völlig unterschiedliche und durch Zufall zusammengewürfelte Figuren zur Grenze nach Tunesien bringen soll. Die Handlung spielt 2011 im selben Jahr, wo mit dem Tod Gadaffis Libyen erst recht zum Hexenkessel der unterschiedlichen politischen Erben und Gegner wurde.
Wie in einem Vexierspiel treffen nun die Hindernisse auf der Reise – Kontrollen der jeweiligen lokalen/regionalen Sieger im libyschen Bürgerkrieg – auf die Befindlichkeiten dieser Acht, die unterschiedlicher Herkunft sind, Männer und Frauen, die eine hochschwanger, aus unterschiedlichen sozialen Milieus und Alter, politischer Gesinnung und Temperament und Charakter. Die Autofahrt ist wie ein Sturm im Wasserglas, was sich entlädt, sobald die nächste Kontrolle oder auch nur Panne da ist.
Und das ist eine Reifenpanne, die die Weiterfahrt entscheidend verzögert, denn sie müssen Rast machen und einen Mechaniker finden, was für manche tödlich ausgeht. Tödlich ist schon mal die Situation, daß sie dort übernachten müssen, wo der siegreiche Kommandant der Besatzungsgruppen logiert. Der nun ist eine ebenfalls schräg gezeichnete Figur, der will die Truppe nur weiterreisen lassen, wenn eine der acht, die vielleicht taffste und eindrucksvollste Frau, die Schauspielerin, ihn aufsucht. Jeder weiß, was das bedeuten soll und versteht, daß sie sich verweigert. Doch dann...alles ist immer anders als gedacht in diesem Roman, der mit heißem Wüstenatem die Menschen gegen den Strich bürstet.
Natürlich, man könnte auch von den 10 kleinen Negerlein sprechen, die sich dezimieren und Agatha Christie bemühen, aber das alles sind Schablonen gegen diese von Topin kurz und prägnant im Handeln und Reden scharf gezeichneten Figuren. Es geht eben nicht um die große Politik, sondern die kleine, um das Zurechtkommen in schwierigen Zeiten, um Aufrechtgehen oder Kriechen, um Lüge und Wahrheit, es geht einfach um individuelle Menschen. Beim atemlosen Lesen, wie es heiß gestrickten Romanen gebührt, sieht man immer wieder im eigenen Kopf die vom Roman erzeugten Bilder und denkt sich, eigentlich liest man ein Drehbuch, so hitzestarrend sind die Wüste und der Sand gezeichnet, so plastisch das literarische Personal, so fetzig die häufige wörtliche Rede – und riechen kann man die Gewürze, die Getränke, den Schweiß und die flirrende Sonne auch. Da kommt ein Film, denken wir immer noch. Und sicher auch die nächste Übersetzung eines Romans von Tito Topin, ein Name, der nun doch wirklich nach einem Pseudonym klingt, aber echt ist.
EXODUS AUS LIBYEN ist im Distel LiteraturVerlag erschienen, der eine Serie Noire herausgibt, um die wir uns nach diesem eindrucksvollen Roman kümmern wollen. Als wir dann auch noch lasen, daß unter SUITE NOIRE die Krimireihe zu den Filmen auf ARTE zum Einheitspreis von 10 Euro herausgekommen, ist sicher, der Verlag hört von uns und Sie von dem Ergebnis. Ob KrimiBestenListe oder nicht.
Auf Platz 4 ist neu von Ryan Gattis IN DEN STRASSEN DIE WUT, der bei Rowohlt Polaris erschienen ist und so neu ist, daß wir ihn noch nicht kennen. Bisher wissen wir nur, daß der uns unbekannte Autor aus der Bewegung der Uglar Collective kommt, Straßenkünstler, die mit Graffitis auf Wänden Geschichten erzählen. Gattis hat zwei Jahre lang 17 einzelne Figuren begleitet, die Begleitumstände ihres Lebens recherchiert und dies zur Grundlage seines Romans gemacht, den man laut Tobias Gohlis eher eine Dokufiction denn einen Thriller nennen sollte. Lassen wir uns überraschen.
Auf den 5. Platz ist nun also Fred Vargas abgerutscht, was erlaubt ist, weil sie so lange die Nummer Eins war (und in unserem Herzen auch bleibt. Schließlich mußten wir lange genug warten, bis dieser neue Roman kam.) Auch Oliver Bottini ist vom vierten auf den sechsten Platz abgestuft, auch für ihn gilt, daß er lange lange dabei war. Über beide Spitzenkrimis lesen Sie bitte in den bisherigen Besprechungen die Lobeshymnen nach. Beide sind übrigens auch in die Spitzen des Internationalen sowie Nationalen Krimipreises gewählt worden, wie unter Info vermerkt ist. Fortsetzung folgt.
Die KrimiZEIT-Bestenliste FEBRuar 2016
Lfd. Nr. |
Rang |
Vor-monat |
Titel |
1 |
1 |
(5) |
Malla Nunn: Tal des Schweigens Aus dem Englischen von Laudan & Szelinski Ariadne im Argument-Verlag, 318 S., 13,00 € Drakensberge, Südafrika 1953. DS Cooper und DC Shabalala sollen den Mord an einer schwarzen Land-Schönheit aufklären – die Arschkarte für Kriminalisten im Apartheid-Staat. Fallstricke überall: Zulu-Traditionen, Rassisten-Traditionen, Frauenunterdrückung sowieso. Behutsam, fein und klug: Nunn. |
2 |
2 |
(2) |
Richard Price: Die Unantastbaren Aus dem Englischen von Miriam Mandelkow S. Fischer, 432 S., 24,99 € New York. Detective Billy Graves, Nachtschicht Manhattan, navigiert zwischen konkurrierenden Fixpunkte: Liebe, Rache, Solidarität, Schuld, the law. Gejagt von einem Stalker, voller Zweifel an und Liebe zu seinen Ex-Kollegen. Fünf Cops und ihre Dämonen: Sittenbild in Nahaufnahme. Stark. |
3 |
3 |
(6) |
Tito Topin: Exodus aus Libyen Aus dem Französischen von Katharina Grän Distel Literaturverlag, 233 S., 14,80 € Libyen 2011. Acht Menschen fliehen vor dem Bürgerkrieg, bloß raus. Zwangsstop in einer umkämpften Wüstenstadt. Jetzt müssen sie sich ihrer persönlichen Wahrheit stellen. Was hat Gaddafis „Verderbtheit“ aus ihnen gemacht? Wie frei können sie werden? Der erste Kriminalroman der „Arabellion“. |
4 |
4 |
(-) |
Ryan Gattis: In den Straßen die Wut Aus dem Englischen von Ingo Herzke Rowohlt Polaris, 528 S., 16,99 € Los Angeles 1992. Aufruhr. Stadt ohne Staat. Hier: Feuerwehr, Nationalgarde, Killercops. Dort: Latino-Gangs. Kids als Mobster. Im Tumult Blutrechnungen begleichen. Ernesto, Bruder, guter Mann totgeschleift. Unterm Qualm rennen, schießen sie: Trauer, Fluchtversuche, Machokampf. 6 Tage Wahnsinn. Unbelievable. |
4 |
5 |
(1) |
Fred Vargas: Das barmherzige Fallbeil Aus dem Französischen von Waltraud Schwarze Limes, 512 S., 119,99 € Paris, Island. Bei den Leichen vorgeblicher Selbstmörder entdeckt Adamsbergs Brigade die Zeichnung einer Guillotine, Hinweis auf einen Geheimbund von Robespierre- und Revolutionsdarstellern. Doch Adamsberg zieht es zum Polarkreis. „Die Revolution frisst ihre Kinder“ in der arktischen Version, made by Fred Vargas. |
6 |
6 |
(4) |
Oliver Bottini: Im weißen Kreis DuMont, 304 S., 14,99 € Freiburg, Stuttgart, 2006. Kommissarin Louise Bonì, trocken seit drei Jahren, stößt auf ein Waffengeschäft, landet im nationalsozialistisch kluxenden Untergrundsumpf und kämpft aussichtslos an zwei Fronten: gegen den deutschen Verfassungsschutz und um das Leben eines traurigen Mannes aus Ruanda. |
7 |
7 |
(7) |
Jeong Yu-jeong: Sieben Jahre Nacht Aus dem Koreanischen von Kyong-Hae Flügel Unionsverlag, 524 S., 19,95 € Auf dem Land in Südkorea. Seit sieben Jahren wird Sowon aus Schulen und von Arbeitsplätzen vertrieben. Er ist der Sohn des „Stausee-Monsters“, das eine Staumauer öffnete und Hunderte Menschen umbrachte. Wie es so weit kommen konnte, erzählt Jeong meisterhaft und voll Einsicht in seelische Verwirrungen. |
8 |
8 |
(9) |
Paul Mendelson: Die Unschuld stirbt, das Böse lebt Aus dem Englischen von Jürgen Bürger Rowohlt Polaris, 480 S., 14,99 € Kapstadt. Vor sieben Jahren sind drei Jungen verschwunden, jetzt werden zwei als Leichen aufgefunden, missbraucht, unterernährt. Kein Gejaule über Gut, Böse, Seele oder Soziales.Mendelson konzentriert sich in seinem Krimidebüt nüchtern auf Fakten und Handlungen: Ermittlungen, Spuren, Szenen. Prima. |
9 |
9 |
(-)
|
Joseph Kanon: Leaving Berlin Aus dem Englischen von Elfriede Peschel C. Bertelsmann, 448 S., 19,99 € Ost-Berlin 1949. Exil-Schriftsteller Alex Meier soll in CIA-Auftrag Kulturbund und Kommunisten bespitzeln. Atmosphärisch genau rekonstruiert: ein Mann im Kalten Krieg mit eigener Agenda zwischen den Stühlen. Cameos: Brecht, Weigel, Janka, andere Kulturgrößen. Clever und ideologieresistent. |
10 |
10 |
(3)
|
Adrian McKinty: Gun Street Girl Aus dem Englischen von Peter Torberg Suhrkamp, 376 S., 14,99 € Belfast 1985. Die Eltern, der Sohn, die Freundin – alle umgebracht, professionell, als Selbstmord getarnt. DI Sean Duffy stochert im vierten Band der Serie erneut in den Geheimdienstsümpfen, die sich zwischen Belfast, London und den USA erstrecken. Bester historischer Stoff, das heißt bedenkenswert aktuell. |
INFO:
Die monatlich erscheinende Krimi-Bestenliste existiert seit März 2005, als sie erstmals auf der Leipziger Buchmesse, damals noch als KrimiWelt-Bestenliste vorgestellt wurde. Von März 2011 an wird sie regelmäßig an jedem ersten Donnerstag des Monats in der Wochenzeitung DIE ZEIT als KrimiZEIT-Bestenliste veröffentlicht.
Vorgestellt wird die KrimiZeit-JahresBestenListe
- im NordwestRadio am Donnerstag, den 17. 4. Februar 2016mit Tobias Gohlis gegen 9.20 Uhr sowie später in den Sendungen der „Buchpiloten2, nachzuhören unter
http://www.radiobremen.de/nordwestradio/serien/krimizeit/index.html
- für die Wochenzeitung DIE ZEIT am 4. Februar2016.
Monatlich wählen einundzwanzig auf Kriminalliteratur spezialisierte Literaturkritiker aus Deutschland, Österreich und der Schweiz aus der Masse der Neuerscheinungen die zehn Titel aus, denen sie viele Leser wünschen. Das Beste vom Besten: Immerhin erscheinen übers Jahr verteilt inzwischen über 1800 Kriminalromane auf Deutsch. An jedem ersten Donnerstag im Monat geben Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Sie halten nach dem literarisch interessanten, thematisch ausgefallenen, besonderen Kriminalroman Ausschau. Die besten Zehn werden mit Bibliographie und Kurzbeschreibung hier veröffentlicht.
Die Jury der KrimiZEIT-Bestenliste auf dem aktuellen Stand:
Tobias Gohlis, Kolumnist DIE ZEIT, DeKrPr*, Moderator und Jury- Sprecher der Krimiwelt
Volker Albers, Hamburger Abendblatt, DeKrPr*
Andreas Ammer, „Druckfrisch“, Dlf, BR, DeKrPr*
Gunter Blank, Sonntagszeitung Zürich
Thekla Dannenberg, Perlentaucher
Fritz Göttler, Süddeutsche Zeitung
Michaela Grom, SWR
Hannes Hintermeier, Frankfurter Allgemeine Zeitung
Lore Kleinert, Radio Bremen
Elmar Krekeler, Die Welt
Kolja Mensing, Dradio Kultur
Ulrich Noller, Deutsche Welle, WDR, DeKrPr*
Jan Christian Schmidt, www.Kaliber 38.de, DeKrPr*
Margarete v. Schwarzkopf, Freie Literaturkritikerin
Ingeborg Sperl, Der Standard - Wien
Sylvia Staude, Frankfurter Rundschau, DeKrPr*
Jochen Vogt, NRZ, WAZ
Hendrik Werner, Weser-Kurier
Thomas Wörtche, Plärrer, culturmag, Dradio Kultur, Penser Pulp bei Diaphanes, DeKrPr*
In der Regel kommentieren wir die von der Jury neu plazierten Krimis. Alle weiteren plazierten Krimis der Vormonate entnehmen Sie bitte unseren Krimi-Besprechungen in den vormonatlichen Artikeln, die Sie in der RUBRIK BÜCHER auf dem Titel oder unter dem Autorennamen im Archiv finden.
Das Prozedere der Platzverteilung für die Liste ist ganz einfach. Dreimal darf ein Kritiker aus der Jury einen Roman benennen. Wenn das gut verteilt ist, kann ein Buch einige Monate überwintern, dann hat es nur noch die Chance, in der Jahresbestenliste wieder aufzutauchen, die jeweils Ende Dezember herauskommt und die wir für 2015 hier ebenfalls kommentierten.