Carlo Strenger: Das Leben in der globalisierten Welt sinnvoll gestalten; in: Psychosozial-Verlag, Teil 3/4

 

Thomas Adamczak

 

Wiesbaden (Weltexpresso) - Was bedeutet diese Konstellation für ein verantwortliches oder gar wünschenswertes Zusammenleben in der globalisierten Welt?

 

Milliarden von Menschen haben Glaubensüberzeugungen und vertreten sie. Diese Überzeugungen erscheinen Milliarden oder Hunderten von Millionen von Menschen nicht plausibel, um es vorsichtig zu formulieren.

 

Strenger verdeutlicht die Brisanz dieses Sachverhalts durch den Verweis auf unser persönliches Umfeld. Wie kommen wir, fragt er, mit der Tatsache zurecht, dass Freunde/Bekannte Glaubenssystemen oder Weltanschauungen anhängen, die wir ablehnen, für falsch oder gar irrational halten?

 

Die Antwort des Relativismus, der sich um sogenannte politische Korrektheit bemüht, lehnt Strenger ab. Dessen Überzeugung, dass es mehr als nur eine Wahrheit gebe, die sich widersprechen, bedeute, dass man nur begrenzt darüber diskutieren könne, man bestimmten Debatten also aus dem Weg gehen sollte.

 

Dagegen vertritt Strenger einen nicht relativistischen Pluralismus philosophischen Pluralismus. Dabei bezieht sich Strenger auf Isaiah Berlin, der darauf verwiesen hat, dass Werte, wiewohl sie objektive Gültigkeit haben, miteinander in Widerspruch geraten können.

 

»Wir halten Freiheit und Gleichheit für hohe Werte, aber sobald wir dem einen höheren Wert einräumen, begrenzen wir den Wert des anderen. Wir halten Authentizität und Loyalität für hohe Werte, aber sie stellen einander widerstreitende Forderungen an uns, und es gibt kein Verfahren, dass uns die Entscheidung abnimmt und uns die perfekte Antwort gibt.«

 

Isaiah Berlins »Wertepluralismus« macht einsichtig, dass es für die Frage, wie wir leben sollen, keine »perfekte Lösung« geben kann, »weil wir immer zwischen konkurrierenden Werten wählen müssen«. Diese Schlussfolgerung ließe sich am Beispiel von politischen Grundanschauungen wie Liberalismus, Sozialismus/Sozialdemokratie, Kommunismus unschwer konkretisieren.

 

Viele Menschen distanzieren sich im Laufe ihres Lebens von Glaubensüberzeugungen oder Weltanschauungen, die sie früh im Leben übernommen haben. Von uns selbst können wir wissen, wie schwer es zu ertragen ist, wenn eine über lange Zeit bewahrte Sicht auf die Welt zerfällt und wir Grundüberzeugungen revidieren müssen.

 

Wünschten wir uns nicht, wenn wir uns mit revidierten eigenen Weltanschauungen oder Glaubensüberzeugungen konfrontieren, eine freundliche, möglichst humorvolle und nachsichtiger Haltung bei der Bewertung unserer ehemaligen Sichtweisen?

 

Das ist der Ansatzpunkt von Strenger. Er plädiert für einen zivilisierten, d.h. auf alle Fälle gewaltfreien Umgang miteinander, ohne allerdings darauf zu verzichten, unmoralische, absurde oder irrationale Überzeugungen zu benennen. Strenger verweist in dem Zusammenhang auf seine Bemühungen, in der Auseinandersetzung mit jüdischen Ultraorthodoxen und Anhängern des politischen Islam »zivilisierte Verachtung« zum Ausdruck zu bringen.

 

Diese zivilisierte Verachtung könne »produktiv sein«, wenn man sich bemühe, gleichzeitig »dauerhafte menschliche Bindungen herzustellen«.

 

Dafür sei allerdings geistige Disziplin erforderlich, eine Disziplin, die für eine »Weltbürgerschaft« wesentliche Voraussetzung sei, um »eine fruchtbare Zusammenarbeit über die Kluft ideologischer Trennlinien hinweg« zu ermöglichen. Strenger versichert, dass Ultraorthodoxe eine solche Haltung der zivilisierten Verachtung akzeptieren könnten.

 

Oft hat er zu hören bekommen: »Obwohl du deinen Ärger über uns Luft machst, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, ist das, was du sagst, doch nie ohne menschliche Wärme. Wir können damit gut leben.«

 

Carlo Strenger sieht sich mit seiner Position in der Tradition von Voltaire, den er als Vorbereiter und Wegbereiter der europäischen Aufklärung außerordentlich schätzt. Voltaire soll zu einem katholischen Geistlichen gesagt haben: »Ich verachte Ihre Meinung, aber ich gebe meinen letzten Blutstropfen dafür, dass Sie sie sagen dürfen.«

 

Es stellt sich die Frage, ob eine solche Haltung eine realistische Perspektive für den künftigen »Weltbürger« ist. Ärger, Wut, Kränkung auszuhalten und Verachtung zu empfinden, ohne die Kommunikation abzubrechen mit denjenigen, die unsere Ansichten nicht respektieren und deren Ansichten wir nicht respektieren können? Kann das jemals funktionieren?

 

Die Fatwa, die die Hinrichtung Salman Rushdies wegen der „Satanischen Verse“ verlangt, ist ein Beispiel, wie schwer es offensichtlich fallen kann, mit Ärger, Hass, dem Gefühl der Kränkung wegen einer empfundenen Respektlosigkeit gegenüber dem Propheten Mohammed klarzukommen.

 

Die Ermordung des holländischen Filmemachers Theo van Gogh, die islamistischen Attentate in Madrid, London und Paris sind weitere Beispiele für religiös motivierte Gewalttätigkeit.

 

Die Terroranschläge am 11. September 2001 sind nur zu verstehen als Folge des Aufrufs von Osama Bin Laden, den Islam vor den verderblichen Einflüssen des Westens zu bewahren. Selbstmordattentate zeigen für Strenger, so extrem sie sein mögen, im Grunde nur, wie tief das Bedürfnis nach Sinn und Bedeutung in der menschlichen Natur verankert ist. »Mehr als alles andere brauchen wir Menschen das Gefühl, dass wir ein Leben führen, das zählt und einen Sinn hat. «

 

Osama Bin Laden, das muss zur Kenntnis genommen werden, war ein tief religiöser Mann. In der Vorbereitung ihrer Attentate beten die Täter in der Regel.

Alle aufgeführten Beispiele und die jüngsten Aktivitäten des IS zeigen, wie weit der Weg noch sein dürfte bis zu einer Verwirklichung der Vision von Carlo Strenger. Fortsetzung folgt

 

 

Info:

 

Carlo Strenger: Die Angst vor der Bedeutungslosigkeit, Das Leben in der globalisierten Welt sinnvoll gestalten; in: Psychosozial-Verlag, Buchreihe: Psyche und Gesellschaft, Gießen 2016

 

Psychosozial-Verlag, Walltorstr. 10, 35390 Gießen, Tel.: 06 41 - 96 99 78 0, Fax: 06 41 - 96 99 78 19; E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

 

Philip Mirowski, Untote leben länger, Berlin 2015, Matthes & Seitz

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