Wer gewinnt die Bären? Die Wettbewerbsfilme auf der 63. Berlinale vom 7. bis 17. Februar 2013, Teil 20/26

 

Claudia Schulmerich

 

Berlin (Weltexpresso) – Eine große schöne, sentimentalische Filmerzählung, die dem schönen, tiefgründigen, sentimentalen Roman, einem literarischen Welterfolg von Pascal Mercier folgt. Ein Film, in dem ältere Kinozuschauer ihre Jugend und die bewegten Jahre erinnern und die jungen Leute sich denken, daß es toll sein muß, im Alter dann über die Erfahrungen des Lebens zu verfügen und von diesem und von sich selbst mehr zu wissen.

 

Der Film fängt genau das ein, was den Roman – und übrigens auch das Hörbuch – auszeichnet, dieses Schweben auf den Spuren eines anderen, das den Protagonisten Raimund Gregorius (Jeremy Irons) aus seinem intellektuell anspruchsvollen, aber langweiligen Dasein als Gymnasiallehrer in Bern innerhalb von 15 Minuten unverhofft auf den Weg nach Lissabon bringt. Anders als im Buch liest er den geheimnisvollen Namen Amadeu de Prado nicht von der Stirn ab, sondern findet sein Buch voller Reflexionen über das Leben und das Sein in der Manteltasche der jungen Fremden, die er von der Brücke holte, als sie sich hinunterstürzen wollte. Wir sehen diese junge Frau am Schluß wieder, wenn sie ihm dankt und sich als Enkelin des schurkischen Verbrechers Mendez vorstellt, der für sie der geliebte Großpapa war.

 

Der Roman macht sich auf die Suche nach der verlorenen Zeit und Raimund Gregorius wiederum macht sich auf die Suche nach dem Dichter und will in Lissabon diejenigen aufsuchen, die ihm Auskunft geben können und im Roman als handelnde Personen auch vorkommen. Letztes Endes findet sich Gregorius in dem Roman wieder und vor allem seine Gedanken übers Leben und die Fragen ans Schicksal.Aber auch die Frage nach dem Einsatz des eigenen Lebens, denn im Buch werden die revolutionären Aufstände der Jugendlichen nicht als Jugendrevolte gegen die Diktatur, sondern als notwendiges Aufbegehren gegen Fremdherrschaft aufgezeigt, die im Nichts endeten, dennoch aber durch die Geschichte rehabilitiert wurden.

 

Psychoanalytische Details aus dem Buch sind übernommen, wie das Zerbrechen der Brille des Gregorius, als er auf der Straße in Lissabon von einem Fahrradfahrer angerempelt wird. Dramaturgisch dient der Vorfall dazu, den Lehrer in die Augenarztpraxis zu bringen, wo ihn Mariana alias Martina Gedeck behandelt und sich herausstellt, daß ihr Onkel den verehrten Dichter gut kannte, nach dem er sucht. Psychoanalytisch allerdings verweist die neue Brille darauf, daß er nun neu sehen kann, schärfer sieht, die Wahrheit sieht. Diese Verschränkung der Motive kommen im Film genauso komplex zum Ausdruck.

 

Wunderbar sind die Szenen in der Abfolge verschränkt, weil Gregorius, der am Anfang von gar nichts weiß, durch seine Fragen auch die anderen Personen zum Erinnern und Bewahren der Erfahrungen zwingt. Er findet sie alle, die im Buch erwähnt werden, die Schwester(Charlotte Rampling) , die so tut, als ob ihr Bruder, der ganz jung an einem Aneurysma starb, noch lebte. Der Freund Jorge (als junger August Diehl, als alter Bruno Ganz) und Estefania, die er seinem Freund ausspannt (jung: Mélanie Laurent; älter: Lena Olin); Joao Eca, Marianas Onkel und Freund von Jorge und Amadeu. Gregorius bewegt sich von einem zum anderen und entwickelt die Geschichte, die so eine politische wie eine private Liebesgeschichte ist, auf der Grundlage von Poesie und Reflexion, wie sie Amadeu zu Papier brachte.

 

Als die Fäden am Schluß entwirrt sind und die Zeit unter der Diktatur als unbearbeitete Geschichte Portugals erscheint, will Raimund zurück nach Bern fahren und Mariana, die ihn zum Zug begleitete, die in gewisser Weise als guter Geist der Geschichte erscheint und im Film eine viel wichtigere Rolle als im Buch spielt, stößt durch ihre Frage: Ob er nicht lieber bleiben wolle, an, daß er aus seinem nicht mehr langweiligen Leben auf den Spuren eines anderen, es nun selbst mit dem eigenen Leben vielleicht versuchen könnte, vielleicht in Lissabon, vielleicht mit Mariana. Es ist etwas in Raimund Gregorius in Bewegung geraten, während der Zug ohne ihn fährt.

 

 

 

Zur Pressekonferenz:

 

Frage an den Regisseur Bille August nach der Funktion von Lissabon in seinen Filmerzählungen. Er verweist auf das Buch und findet in Lissabon auch die Stimmung wiedergegeben, die das Buch auszeichnet. Daß es sich um Wiedergaben des Buches handelt, betrifft auch die meisten Dinge, die als Fragen gestellt werden. Jeremy Irons fand die verfallende Schönheit der inneren Stadt Lissabons ans Herz gehend, was der Film aufgreift und für ihn waren die Dreharbeiten dort und mit dem Team das Schönste, was er in seinem Beruf seit langem erlebte.

 

Als Irons nach seiner Darstellung gefragt wurde, verweist er darauf, daß er die Atmosphäre des Buches im Film verkörpern wollte, was schwierig war, weil das Buch über die Texte mehr Zeit habe, diese Mischung aus Erinnerung, philosophischen Gedanken und Trauer, wie die Geschichte mit den jungen Aufständischen verfahren sei . Fast alle Schauspieler haben das Buch gelesen, aber erst, nachdem sie vom Film erfuhren. Nur die junge Melanie Laurent gibt zu, das Buch nicht zu kennen, ist aber diejenige, die sofort von ihrer großen Bewunderung für die revolutionäre Situation in Portugal fachkundig spricht.

 

Martina Gedeck spricht ihre Rolle erneut in einer anderen Sprache, hier portugiesisches Englisch und wird nach ihren Erfahrungen gefragt, wie sich diese Situation auf sie als Schauspielerin ausgewirkt habe. Sie empfindet das einerseits als Unsicherheit, die sie aber beflügelt. Es entstünde andererseits ein Zwischenraum zwischen den Personen, der geheimnisvoll sei und als Aura über der Szene liege.

 

Regisseur August hat das Buch interessiert, weil er die Hauptperson mag, die hier eine drastische Veränderung eines Menschen mit sich bringt, eines Mannes, der bisher bieder und ordentlich gelebt hat, und nun auf einen Moment hin sein ganzes Leben ändert auf den Spuren eines anderen, der für ihn ein Held wird, weil sich dessen Reflexionen im Buch mit seinen eigenen Erfahrungen oder Sehnsüchten deckt und er mehr über diesen Dichter herausfinden will.

 

Frage nach der internationalen Besetzung, inwiefern dies die Arbeit beeinflußt habe. August konnte wirklich frei auswählen, wen er haben wollte als Darsteller, was der Sache diente. Aber die unterschiedlichen Sprachen des Filmteams waren nicht wichtig, denn es ging darum, diese alle zusammenzuführen. Frage, wie er damit umgegangen ist, einen Sachverhalt zu schildern, in dem immer wieder ein Risikos eingeht. Die Frage nach dem filmischen Charakter des Arzt und Schriftsteller Amadeu de Prado beantwortet sein Darsteller Jack Huston. Für ihn hat die Figur von Anfang an ein schlechtes Gewissen,weil er aus privilegierten Verhältnissen stammt und darum die gesellschaftlichen Verhältnissen hinterfragt und dann noch – strafverschärfend - seiner Pflicht genügt und den Schlächter von Lissabon – leider – vor dem Tode bewahrt.

 

Pascal Mercier hat das Drehbuch mit kleinen Änderungen akzeptiert und dem Regisseur für diesen Film gedankt, will aber darüberhinaus keine weitere Öffentlichkeit, weil er sich nur als der Verfasser des Buches sieht, das Anlaß für den Film war. Es muß der Film seinen eigenen Gesetzen folgen und es war nicht einfach, immer die philosophischen Sätze aus dem Buch herauszufiltern, die gerade gut in die Filmszene passen.

 

 

 

 

INFO I:

Pascal Mercier

Nachtzug nach Lissabon

Gekürzte Lesung

6 CDs, Laufzeit ca. 450 Min.

ca. € 14,99 sFr 21,90 (unverb. Preisempf.)

ISBN: 978-3-86909-122-8

Erscheinungstermin: 15. Februar 2013

 

INFO II:

Pascal Mercierhat bisher vier Romane veröffentlicht. Als am 23. Juni 1944 in Bern geborener Peter Bieri allerdings weit mehr geschrieben. Denn der Schweizer Philosoph und Schriftsteller Peter Bieri mit dem fachlichen Schwerpunkt der Kognition und des Gehirns als Philosophische Psychologie, der Erkenntnistheorie und Moralphilosophie hatte ab 1993 bis 2005 einen Lehrstuhl für Sprachphilosophie an der Freien Universität Berlin inne und nutzte sein Pseudonym lange, ohne daß einer von dem Mann wußte, der dahintersteckte.

 

Walter Kreye ist ein bewährter Sprecher und durch zahlreiche Film- und Fernsehrollen bekannt. Erzählt zu den renommiertesten Darstellern Deutschlands. Er spielte an bedeutenden Bühnen wie dem Staatstheater Stuttgart, dem Thalia Theater Hamburg sowie der Schaubühne Berlin und ist in zahlreichen Film- und TV-Produktionen wie Katze im Sack, Nichts als Gespenster, Mondscheinkinder und Der Alte zu sehen. Für seine bei Hörbuch Hamburg erschienenen Lesungen der Per Petterson-Romane erhielt er begeisterte Kritiken. Für Hörbuch Hamburg las er auch Lea und Perlmanns Schweigen von Pascal Mercier.

 

http://nachtzug-nach-lissabon.de/  

www.hoerbuch-hamburg.de  

 

Artikel über das Hörbuch:

 

http://weltexpresso.tj87.de/index.php/buecher/1360-zum-filmstart-des-weltbestsellers-am-7-maerz-2013