KT und Feminismus 2 2019Zum Kongress Kritische Theorie und Feminismus,  Teil 2/3

Heinz Markert

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Menschliche Sexualität geht nicht in einem in sich Geschlossenen auf. Kunst ohne eine Art Bi im Geschlecht geht nicht. Jede Sexualität kokettiert mit dem Geschlecht der anderen. Nur so kommt es zur reichhaltigen Palette an Farben, Facetten und Prägungen, die höhere Kultur bedingen.


Die avantgardistische junge Musikkunst in BR-Fernsehen zeigt es in der Startrampe von ‚pulse‘ spätabends und in 'KLassik Sweet, Spot'. Kultur ist auch ein Surfen auf der Palette der Humanität und des ‚Naturschönen‘. Die Trennung der Sparten relativiert sich.

Missverständnisse

Die Kastrationsdrohung und der dualistische Geschlechtsunterschied, bei jeweils verstörendem Mangel des anderen, sind dazu angetan überlebt werden zu können. Das andere wird immer in seinem Anderssein auch geliebt und es braucht auch nicht des Kindes als Penisersatz. „An menschlicher Sexualität“ geht etwas nicht auf, so lautete die zweite These zum letzten Panel am zweiten Tage zum Thema ‚Nichtidentisches und die Sehnsucht nach der „vollen Identität“. ...und was ist eigentlich das Weib?“‘.

Nichtabgeschlossen-Sein und Offensein ist das Desiderat. Dem entspricht die Kritische Theorie mit dem Terminus des Nichtidentischen, einer ihrer Zentralkategorien. Neuere Fassungen von Freud liegen in ihm selbst begründet. Marxismus und Psychoanalyse, undogmatisch verstanden, sind das Lebenselexier der Kritischen Theorie, damit kehrt sie sich von allen orthodoxen Marxismen ab.

Kinder erkunden die Differenz, begehren aber beide in der Unterschiedlichkeit. Mangel und Spaltung gehen auf einen Kurzschluss Freuds zurück. Sexualität sei ein gesellschaftliches Verhältnis. Diese Dimension war bei Freud unterentwickelt, Daraus hat die Kritische Theorie die Konsequenzen gezogen. Damit erledigt sich auch der autoritäre Charakter. Gesellschaft als überdimensionierte Macht verpasst Menschen Trennung und Eindeutigkeit. Die Nicht-Eindeutigkeit und die spezifische Differenziertheit liegt in jedem Geschlecht selbst. Ambivalenz ist wohl nur ein schwacher Ausdruck dafür.

Gleich um Gleich – Warentausch

Adorno hat sich unendlich darum bemüht, das Recht des Besonderen in die Waagschale zu werfen. Er reklamierte „Die Vermittlung des Allgemeinen und Besonderen in der Versöhnung der Differenz“. Es ist der Gegensatz zum vermaledeiten Bumerang „all das zu vernichten, was anders ist“. Das richtet sich auch gegen die Warenförmigkeit, den Warentausch, der alles über einen Leisten balbiert. Darin ging er in eins mit Walter Benjamin. Beide waren und wurden in der Forderung des Nichtidentischen Brüder in ein und demselben Geist. „Gefährlich ist das Imaginieren einer vollen Identität“, hierauf pochte Christine Kirchhoff in Tagen, in denen es zur unvermeidlichen Identität nur so von den Dächern pfeift. Der autoritäre Charakter ist ein vom Identitätsverlangen besessener. Das dürfen wir als Stumpfsinn bezeichnen.

Und wenn es darum gehen soll, zu wissen, was das Weib will, so ist zu sagen, dass es so offen und so wenig eindeutig ist, wie der Mann, der bereit ist sich der Präpotenz zu entschlagen.

Exkurs: Zur Ambivalenz in der innergeschlechtlichen Differenzierung

Die Referentin Ilka Quindeau bezog sich einleitend auf den Umstand, dass das Geschlecht ‚divers‘ vom Bundesverfassungsgericht angefordert wurde. „Es ist ein erster Schritt, um die Pathologisierung jener zu beseitigen, die sich nicht mit einem festen Geschlecht verbunden fühlen“. Die Debatte drehe sich auch hier um die Diskussion von Allgemeinem und Besonderen. Sie bezieht sich auf Robert Jesse Stoller (1925 -1991). Dieser artikulierte seine Ablehnung von Freuds Glauben an die biologische Bisexualität. Sie offerierte in Schaubildern die Zusammengesetztheit der sexuellen Orientierung, die in jedem Menschen variiere. Es existiere ein unterschiedliches Verhältnis in der Dreiheit von Role Identity, Core Identity und Sex. Die Zusammengesetztheit lässt sich in einem Bild der drei Schichten darstellen, in die selbst jeweils immer wieder auch variierende Teile der anderen eingesprenkelt sind.

Identitätsbildung entwickle sich durch und in Kultur. Das Geschlechter-Infragestellen gab es schon bei Freud mit dem Vorschlag, ‚lasst uns bloß als denkende Wesen auf die Erde schauen‘.

Die Referentin lieferte das Beispiel von dem Jungen Christian, der fasziniert ist von den Kleidern seiner Schwester und weiblichen Familienmitgliedern. Erkannte er darin nun eine Transvestität oder meinte er, dass er transsexuell sei? - Bald fühlte er sich mal als Mann, ein andermal als Frau. Später hatte sich seine Frau daran gewöhnt, es kam zu keinem Wechsel mehr. Das könnte eine kulturelle Varianz bedeuten, zu der wir offenbar mehr oder weniger ausgestattet sind. In abendlichen Lokalen zeigen sich diese Varietäten. Es geht hierbei um multiple geschlechtliche Identifizierung, die übrigens eine Grundbedingung für die Ausübung von Kunst ist. Es dreht sich also weniger um die eindeutige, sondern um eine immer auch konstituierte Sexualität. Dies mag phänomenal, chromosomal oder endokrinologisch ausgelegt werden. Nichts ist also nur nebeneinander, sondern stets auch verschiedentlich ineinander. Es handelt sich konsequent um ein Mischungsverhältnis.

Wenn es also um den neuen Mann oder die andere Frau geht, dann versetzen diese sich in das andere Geschlecht hinein und umgekehrt; wer das nicht vermag, hat ein Problem. Aber gleichwohl: Männer sind mehr im Verzug als Frauen. Die Referentin betont: das Geschlecht ist nicht willenshaft konstruierbar, es ist konfiguriert. Bei Reimut Reiche findet sich die Formulierung von den ‚rätselhaften Beschaffenheiten‘, wie auch in ähnlicher Weise bei Laplanche. Dies haftet an einem lebenslangen Prozess. Auch Zuschreibungen hinterlassen Spuren. Leben ist eine kulturelle Setzung, geht nicht entlang einer anthropologischen Konstante.

Die Geschichte von Christian kann dazu anregen, die Verschiedenheit und den Gegensatz in eine produktive Spannung zu bringen, eine post-ödipale Identität zu gewinnen. Divers bringt „grundstürzende Veränderungen“, an dichotom wird bedingterweise noch festgehalten. Nun kam nach dem „progressiven Neoliberalismus“ eines Reagan die illiberale Gegenbewegung, die wieder in autoritäre Muster zurückdrängt. Aber die Entwicklung „vollzieht sich permanent“. Leben differenziere sich aus sich heraus, erkenne sich erst im zeitlichen Prozess, arbeite sich raus dem Dualismus. Ein nichtidentisches Qeer hätte Adorno vielleicht gefallen, als gleichsam negativ-dialektische Lebensweise. Hat er nicht in vielen Zeilen für das Queer gestritten? Dennoch, das Queer ist von ihm auch eingefangen worden durch seine geistige Differenziertheit, während dem gegenwärtigen Queer vorgeworfen wird, dass es Inkommensurables zu vermengen die Tendenz ausweise.

Foto:
de.wikipedia.org

Info:
Panel IV: Psychoanalyse und Kritische Theorie:

Samstag, 9. Februar 2019 · Christine Kirchhoff: Nicht-Identisches und die Sehnsucht nach der „vollen Identität“. ...und was will eigentlich das Weib?

Ilka Quindeau: „Männlich, weiblich, divers“ – zur Ambivalenz geschlechtlicher Identifizierungen

Die Teile der Serie in WELTEXPRESSO

1. Weiblich/männlich-dialektisch – ohne DIAMAT und PRÄ
https://weltexpresso.de/index.php/lust-und-leben/15236-weiblich-maennlich-dialektisch-ohne-diamat-und-prae
2. Nichtidentisches und Identität
https://weltexpresso.de/index.php/lust-und-leben/15238-nichtidentisches-und-identitaet
3. Für eine Kritik der schlechten Allgemeinheit ist Benjamin zuständig
https://weltexpresso.de/index.php/lust-und-leben/15240-fuer-eine-kritik-der-schlechten-allgemeinheit-ist-benjamin-zustaendig