66, 67, 68 - Die Anfangsjahre der „großen Verweigerung“, Teil 3 a
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Das erste Halbjahr 1968 war von Ereignissen geprägt, welche die linke Szene des Ruhrgebiets für lange Zeit bestimmen sollten.
In der ersten Januar-Woche meldete sich Dagmar bei mir, ein junges Mädchen von schätzungsweise 16 Jahren, das sich als Aktivistin des „Zentrums Baumstraße“ (zu dieser Zeit ein Treffpunkt der linken Jugend, nördlich des Dortmunder Hauptbahnhofs gelegen) vorstellte und mich zur Sitzung einer Initiativgruppe einlud. Es ginge um neue Formen der Jugendarbeit und meine Erfahrungen aus dem „Club Civil“ seien dabei sehr gefragt.
Es war ein kalter und grauer Sonntagvormittag, an dem ich diese Wohnzimmerversammlung im Stadtteil Dortmund-Derne, in dem ich lebte, aufsuchte. Dagmar war auch anwesend und ich hatte den Verdacht, dass sie bewusst zur Anwerbung ausgewählt worden war. Denn die anderen Teilnehmer, mit einer Ausnahme ausschließlich Männer, bewegten sich in der Altersklasse von ca. 25 bis 40 und entsprachen überwiegend nicht mehr dem, was man unter Jugend versteht. Zwei waren mir vom Jugendmagazin ELAN bekannt, einen ordnete ich wegen seiner dogmatischen Ausdrücke, die er ständig wiederholte, der (verbotenen) KPD zu. Ich machte gute Miene zum zunächst rätselhaften Spiel und hörte mir alles an.
Reiner, den ich flüchtig von den Aktionen gegen die Notstandsgesetze kannte und der bei IG Metall-Jugend ein Ehrenamt innehatte, übernahm die Versammlungsleitung und kündigte für März die Gründung der „Sozialistischen Deutschen Arbeiter-Jugend“ an. Einer der Söhne Willy Brandts, Peter (der spätere Historiker), würde auch mitmachen. Als Erster Vorsitzender würde Rolf Priemer (1940 - 2017), der Chefredakteur von ELAN, zur Verfügung stehen. Auch ein anderer aus der ELAN-Redaktion, nämlich Reinhard Junge, wäre dazu bereit, sich für ein Vorstandsamt nominieren zu lassen. Etwa 17 Jahre später, 1985, erschien Junges erster Kriminalroman mit Ruhrgebietsmotiven. Danach hat er zusammen mit Jürgen Pomorin (Leo P. Ard) TV-Serien geschrieben.
Gründungsdatum sollte der 5. Mai 1968 sein, der 150. Geburtstag von Karl Marx. Mit der Verwaltung der GRUGA-Halle in Essen sei bereits ein Vorvertrag abgeschlossen worden. Es war offensichtlich, dass sich die im Untergrund arbeitende KPD an die Jugend- und Studentenproteste anhängen wollte und dazu ihre einstige (und seit 1956 ebenfalls verbotene) Jugendorganisation, die „Freie Deutsche Jugend“, reaktivieren wollte. Und möglicherweise war noch mehr geplant. Ich tippte auf eine Neugründung der KPD.
Ich notierte mir alle Gesprächspunkte, die bereits verlautbarungsfähig waren, stufte das Vorhaben jedoch als nicht eilbedürftig ein. Denn die undogmatische Linke in Dortmund diskutierte mehrheitlich ganz andere Themen. Vier Wochen vorher war Rudi Dutschke in der Fernsehinterview-Reihe „Zu Protokoll“ Gast von Günter Gaus gewesen. Dabei hatte er seine politischen Vorstellungen verständlich geschildert und diese in den Kontext einer Ideen- und Wirkungsgeschichte gestellt, die von Marx über Adorno und Horkheimer bis Marcuse reichte und auch die Ethik des Protestantismus einschloss. Für uns, die wir uns relativ fern von West-Berlin in den Niederungen der Provinz mühten, lieferte Dutschke geeignete Argumente und Bilder, um die eigenen Standpunkte deutlicher machen zu können.
Zwar verfolgten auch wir die Auseinandersetzungen zwischen Berliner Studenten und Springer - Konzern, doch die antisozialistische Hetze der Springer-Blätter verpuffte bei uns. Zum einen, weil das Ruhrgebiet nicht den so genannten Frontstadt-Charakter West-Berlins aufwies; zum andern, weil sich die ideologischen Einflussmöglichkeiten auf „BILD“ und „Die Welt“ beschränkten. Das „Revolverblatt“ wurde zwar auch im Revier viel gelesen, vor allem von den Werktätigen in den Zechen und Stahlwerken. Es stand aber in großer Konkurrenz zu normalen Tageszeitungen wie „WAZ Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ und „Westfälische Rundschau“, letztere war ein SPD-Blatt. „Die Welt“ hingegen erschien uns als Kleinbürgerverschnitt der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Wenn uns die Lektüre der Gazetten des Klassenfeinds nötig erschien, lasen wir lieber das Original, die „FAZ“.
Rudi Dutschkes Rede auf dem Vietnam-Kongress in West-Berlin (17. und 18. Februar 1968) löste bei uns ein großes Echo aus. Allerdings hielten wir seine Interpretation dieses Kriegs für fragwürdig. Sicherlich handelte es sich bei diesem militärischen Konflikt um den Versuch, die Hegemonie der USA in der westlichen Welt skrupellos durchzusetzen. Doch die Viet-Minh und ihr Führer Ho Tschi-Minh waren nicht nur die einstigen Befreier von japanischer und französischer Kolonialherrschaft. Sie waren zu einem wesentlichen Teil auch fremdbestimmt: durch die Volksrepublik China und durch die Sowjet Union. Auch die Thesen des mit Dutschke befreundeten deutsch-chilenischen Schriftstellers Gaston Salvatore („Schaffen wir zwei, drei, viele Vietnam“) überzeugte uns nicht. Den revolutionären Ideen und Reden von beginnenden Volksaufständen fehlte das, was sie ständig behaupteten, nämlich eine Basis in den Massen. Diese Verkennung der Realitäten führte nach meiner Überzeugung zur gewaltbereiten „Bewegung 2. Juni“ und schließlich zur „Roten Armee Fraktion“.
Allerdings: Wenn ich mich in Frankfurt am Main mit Mitgliedern des Bundesausschusses des „Verbands der Kriegsdienstverweigerer VK“ traf, hörte ich auch ganz andere Einschätzungen, begegnete gar einer enthusiastischen Zustimmung, die an Radikalität die West-Berliner Linke noch übertraf. Im Stadtteil Sachsenhausen, wo ich heute lebe, gab es sogar eine „Rote Garde Sachsenhausen“ - und die war kein Karnevalsverein.
Doch im Ruhrgebiet nahmen wir die Hessen ohnehin nicht ganz ernst, schließlich hatten sie sich 1949 Frankfurt als neue Bundeshauptstadt (das Parlamentsgebäude war bereits fertiggestellt) durch Adenauers rheinisch-katholische Intrige wegnehmen lassen. Das Beste an und aus Frankfurt war die „Frankfurter Schlagerbörse“ von Hanns Verres (1928 - 2003), die vom Hessischen Rundfunk wöchentlich ausgestrahlt wurde.
Wir, die auf dem Boden der Tatsachen verbliebenen undogmatischen Linken in Dortmund, Bochum oder Gelsenkirchen, blickten am Anfang des Jahres 1968 nicht nur nach West-Berlin, sondern auch nach Prag. Dort hatte am 4. Januar das Zentralkomitees der KPČ Alexander Dubček zum 1. Sekretär der Kommunistischen Partei gewählt. Das war der Beginn des kurzen Prager Frühlings, der bis in den Sommer des Jahres anhielt. Das Schlagwort vom „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ begeisterte uns; aber auch Rudi Dutschke fuhr im März nach Prag. Es schien so, als hätte er dort den ersehnten Ruf nach Freiheit in Verbindung mit dem revolutionären Elan der Massen wahrgenommen.
Foto:
Cover einer späteren Nummer des Jugendmagazins ELAN
© Weltkreis Verlag, Dortmund (erloschen)