66, 67, 68 - Die Anfangsjahre der „großen Verweigerung“, Teil 3 b
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Als uns die Nachricht von der Ermordung Martin Luther Kings am 4. April 1968 erreichte, versammelten wir uns spontan auf dem Alten Markt in der Dortmunder Innenstadt zu einer friedlichen Demonstration.
Ein Anruf bei Polizeipräsident Fritz Riwotzki (1910 - 1978), einem ehemaligen Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime, hatte zur Anmeldung genügt. Eine Streifenwagenbesatzung sorgte dafür, dass wir im Zentrum des Platzes unsere eilig erstellten Plakate ungestört aufstellen konnten. Um uns herum ging das übliche Treiben auf den Geschäftsstraßen Westenhellweg, Hansastraße und Ostenhellweg weiter. Nur wenige Passanten gesellten sich zu uns.
Mit dem 11. April 1968, einem Gründonnerstag, änderte sich am vergleichsweise bislang beschaulichen Jahresverlauf alles. An diesem Tag wurde Rudi Dutschke in West-Berlin von einem Attentäter niedergeschossen und lebensgefährlich verletzt. Er starb an den Spätfolgen der erlittenen Gehirnverletzung am 24. Dezember 1979.
In der Nachbarstadt Essen wurde die Druckerei des Springer - Verlags blockiert, Einige Auslieferfahrzeuge wurden mit Molotow-Cocktails in Brand gesetzt, Einsatzfahrzeuge der Polizei wurden demoliert. Die Ostermärsche wurden zu einer Protest- und Gedenkveranstaltung für Martin Luther King und Rudi Dutschke. Ich hatte wie bereits in den beiden Vorjahren am Marsch von Bochum nach Dortmund teilgenommen, der am Ostermontag stattfand. Er gehörte zu den machtvollsten Demonstrationen, an denen ich je teilgenommen habe. Nach der Abschlusskundgebung auf dem Neuen Markt trafen sich Mitglieder von „VK“, „Club Civil“ und der „Kampagne für Demokratie und Abrüstung“ in der Gaststätte im Dortmunder Hauptbahnhof. Der Meinungsaustausch wurde beherrscht von der Frage nach alten und neuen Nazis. Schließlich hatte Josef Bachmann, der Dutschke-Attentäter, sein politisches Weltbild aus der „Deutschen National- und Soldatenzeitung“ gewonnen. Der Handlanger Bachmann fügte sich in ein Bild, das bislang geprägt war von Kurt Georg Kiesinger, dem ehemaligen NSDAP-Mitglied und Bundeskanzler, oder von Hans Globke (1898 - 1973), dem Kommentator der „Nürnberger Gesetze“ und Staatssekretär Konrad Adenauers.
Nikolaus Koch, Professor an der Pädagogischen Hochschule in Dortmund und gut bekannt mit dem katholischen Ruhrbischof Franz Hengsbach, erinnerte daran, dass die restaurative Politik Adenauers durch die Große Koalition fortgesetzt und keinesfalls beendet worden wäre. Er lud die Runde ein, sich künftig in engen Abständen in seinem Haus in Witten-Bommern, über dem Ruhrtal gelegen, zu politischen Gesprächen zu treffen. Ich beteiligte mich daran bis April 1969; denn dann wurde ich zum zivilen Ersatzdienst eingezogen.
Auch in Frankreich protestierte die akademische Jugend. Am 3. und 6. Mai wurde die Sorbonne in Paris besetzt. In der Nacht vom 10. auf den 11. Mai kam es in Paris zu Straßenkämpfen, die als „Nacht der Barrikaden“ in die Geschichte eingingen.
Die Situation dort begann bereits zu eskalieren, als ich am Morgen des 4. Mai nach Bremen fuhr, um an der Jahreshauptversammlung des „Verbands der Kriegsdienstverweigerer VK“ im Gemeindezentrum der St. Stephani-Kirche teilzunehmen. Die Tagung wurde beherrscht von der Frage, inwieweit man sich mit einer Delegation der Viet Minh (zunehmend auch als Viet Cong bezeichnet), die als Gast eingeladen worden war, solidarisieren sollte. Bis Mitternacht wurde darüber heftig diskutiert. Dann erinnerte der Versammlungsleiter, dass der 150. Geburtstag von Karl Marx angebrochen und es an der Zeit sei, diesen Tag ausklingen zu lassen. Wir verabredeten uns, vor der Wiederaufnahme der Tagung am nächsten Vormittag an einer Demonstration gegen den Besuch des US-amerikanischen Botschafters George McGhee teilzunehmen.
Nachtruhe fand jedoch kaum einer der Teilnehmer. Obwohl über Bremen ein leichter Nieselregen niederging, spazierten mehrere Gruppen am Weserufer entlang und suchten nach Gaststätten, die bis zum frühen Morgen geöffnet hatten. Wir vier Delegierte aus Dortmund ließen uns in einer Bierbar am Wall nieder und diskutierten bis zum Sonnenaufgang. Dann verscheuchten wir unsere Müdigkeit durch einen Spaziergang durch den klaren Frühsommermorgen zur Windmühle und warteten, bis das Gästehaus der Kirche wieder öffnete und wir uns erfrischen konnten. Anschließend begaben wir uns zur Schiffsanlegestelle in der Nähe der Weserburg, wo ein US-amerikanisches Schnellboot ankerte, das der Botschafter besuchen wollte und das bereits von Polizisten rundum gesichert war. „Hey, hey George McGhee, we don’t like a friend like thee” skandierten wir. Wieder zurück im Kongressgebäude, arbeiteten wir im Schnellverfahren sämtliche offenen Tagungspunkte ab, ohne dass es noch zu einer Pro-Viet Cong-Deklaration gekommen war. Die Viet Cong-Fahne, die ich geschenkt bekam, nutzte ich noch einige Jahre zuhause im Garten als Tischdecke.
Die bisherigen Ereignisse bestärkten uns Dortmunder in der Überzeugung, einen Gesprächskreis zu initiieren, der über die bestehenden Vereine und Gruppen hinausreichen sollte. So kam es am 10.5.68 im Hinterzimmer der Gaststätte „Wicküler Eck“ in der Nähe des Dortmunder Westentors zur Gründung des „Jakobiner-Clubs“. Von der parallel verlaufenen „Nacht der Barrikaden“ hörten wir erst am nächsten Tag. Bis zum Frühjahr 1976 trafen wir uns regelmäßig, mal in Dortmund, mal in Bremen, mal in Hannover, mal in Heidelberg. Noch heute stehen etwa 20 von ursprünglich über 80 Teilnehmern in regelmäßigem Briefkontakt. Und nach wie vor geht es sowohl um die Anfangsjahre der „großen Verweigerung“ als auch um die notwendigen Veränderungen in einem Staat, der unter die Fuchtel der Neoliberalisten geraten war.
Die Verabschiedung der Notstandsgesetze am 30. Mai 1968 hatten wir kommen sehen; vor allem, nachdem IG Metall und ÖTV unter dem Druck der SPD eingeknickt waren.
Durch Vermittlung des PLÄNE-Schallplattenverlags wurde ich zum „9. Kongress der Arbeiterjugend beider deutscher Staaten und Westberlins“ am 1. und 2. Juni 1968 (Pfingsten) nach Halle-Neustadt eingeladen. In der gerade fertiggestellten Trabantenstadt Halles trafen sich Vertreter von SED, FDJ, SDAJ, SDS sowie der Jungsozialisten in der SPD zum Meinungsaustausch. Während die offiziellen Vorträge der Prominenz so langweilig waren wie übliche Ost-Parteitage, ging es in den Zirkel-Gesprächen zum Teil sehr kontrovers zu. Vielfach wurden die DDR-Organisationen zur Solidarität mit der unabhängigen Linken in Westdeutschland aufgefordert. Sie sollten sich ein Beispiel nehmen am „Prager Frühling“. Auch die Berliner Mauer und der „Eiserne Vorhang“ zwischen DDR und BRD wurden heftig kritisiert. Erstaunlicherweise äußerten auch einige FDJ-Vertreter Verständnis für die Sicht der Westdeutschen. Sie gaben offen zu, dass es internen Diskussionsbedarf gäbe und dieser würde keinesfalls die Infragestellung der „Errungenschaften“ in der DDR bedeuten.
Am Pfingstmontag fand das Treffen nach einer Bootsfahrt auf der Saale einen denkwürdigen Ausklang in den Saale-Auen, wo eine Art Jahrmarkt aufgebaut war. Nach dem eindrucksvollen Feuerwerk verschafften sich SDS-Mitglieder Zugang zur Rednertribüne und forderten ein „antikapitalistisches Bündnis“ von FDJ, SED und BRD-Linken sowie „Waffen für den SDS“. Doch dieses ungeplante Intermezzo, das die Veranstalter sichtlich überraschte, dauerte nicht lange. Plötzlich schwiegen nicht nur die Mikrofone, auch die Beleuchtung auf dem gesamten Terrain erlosch. Die Jugendlichen aus Ostdeutschland zeigten sich erschüttert über den Dilettantismus ihrer Staatsorgane, die jungen Westdeutschen wurden in ihren Einschätzungen über DDR und SED eher bestätigt.
Am frühen Abend des 3. Juni traten wir vom Leipziger Hauptbahnhof die Rückfahrt an. Zuvor hatten wir in Begleitung unseres FDJ-„Betreuers“ einen Spaziergang durch die Innenstadt unternommen und dabei auch die Ruine der am 30. Mai gesprengten Paulinerkirche gesehen. Noch immer standen Volkspolizeiposten rund um das abgesperrte Areal. Bei der Nachbesprechung der Ereignisse im Interzonen-Zug nach Dortmund wuchs die Erkenntnis, dass mit dieser DDR keine soziale Revolution in Deutschland zu machen sein würde.
Die Hoffnungen auf eine Neubesinnung im real existierenden Sozialismus zerstoben endgültig am 21. August, als die Truppen des Warschauer Pakts in der Tschechoslowakei einmarschierten und den Prager Frühling beendeten. Auch an diesem Tag gab es eine spontane Demonstration in der Dortmunder Innenstadt, an der ich teilnahm. Ich sah enttäuschte Linke und empörte Sozialdemokraten, aber auch viele Konservative, die einen sehr zufriedenen Eindruck vermittelten.
Wenig später, im September, fand der Gründungskongress der „Deutschen Kommunistischen Partei DKP“ statt. Mit ihm wurde die verbotene KPD neu konstituiert, also formal weder aus den Trümmern der alten KPD heraus neu belebt noch neu gegründet. Mit der Rechtfertigung des Einmarschs in Prag vergab sich die Partei alle Chancen, am längst vorhandenen linken Bewusstseinsprozess entscheidend teilzunehmen. Zwar sollte sie bald schon über eine breit aufgestellte Publizistik verfügen, aber diese erreichte fast ausschließlich die bereits hinlänglich Überzeugten.
Die von ihr im Bundestagswahljahr 1969 mit initiierte „ADF - Aktion demokratischer Fortschritt“ kam auf weniger als ein halbes Prozent der Stimmen. Nach der Wahl Willy Brandts zum Bundeskanzler setzten auch viele der unabhängigen Linken auf die SPD und speziell auf die aufsässigen Jungsozialisten. Zumindest bis zum Rücktritt Willy Brandts 1974.
Foto:
Volkspolizei riegelt den Platz um die zu sprengende Paulinerkirche ab © Privat