
Rüdiger Walter
Aalen (Weltexpresso) - Gegen 9 Uhr morgens an jenem Samstag, dem 27. Januar 1945 – genau heute vor 80 Jahren – erreicht die erste Patrouille der Roten Armee das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz, zunächst das Nebenlager Monowitz. Primo Levi hat diese erste Begegnung beschrieben: Vier junge Soldaten zu Pferde, stumm, scheu, blickten vom „von einer seltsamen Befangenheit gebannt“ vom Lagerrand her „auf die durcheinanderliegenden Leichen, die zerstörten Baracken“ und die wenigen Überlebenden.(1)
Primo Levi nennt jene ersten Sendboten der Befreiung ganz selbstverständlich eine „russische Patrouille“. Damit gibt er die gängige Vorstellung wieder, wonach es „die Russen“ waren, die das Konzentrationslager Auschwitz befreiten. Aber ob jene vier Berittenen wirklich russischer Nationalität waren, ist ungewiss. Sie gehörten der 100. Infanteriedivision des 106. Korps der 60. Armee an. Die wiederum war Teil der 1. Ukrainischen Front(2). Was wir hingegen wissen, ist, dass der Kommandeur jener 100. Schützendivision, der als erster Offizier der Roten Armee das Stammlager Auschwitz betrat, ein ukrainischer Jude war: Major Anatoli Schapiro (3). Das bedeutet im Gegenzug nicht, dass es stattdessen „die Ukrainer“ gewesen seien, die Auschwitz befreit hätten. Die sowjetischen Einheiten waren kunterbunt gemischt, in ihnen kämpften Russen, Ukrainer, Belarusen, Kasachen, Usbeken und Angehörige weiterer zwei Dutzend Nationalitäten. Dass es ein Ukrainer war, der als erster Befreier das Stammlager Auschwitz betrat, war Zufall. Aber es bedeutet, dass die gängigen Klischees, die sich ethnischer Zuschreibungen bedienen, nicht stimmen. Neueren Erhebungen zufolge stellten Soldaten ukrainischer Nationalität Mitte 1944 fast 34 Prozent der sowjetischen Infanterieeinheiten, das entspricht dem Doppelten des ukrainischen Bevölkerungsanteils der Sowjetunion (4). Diese Zahl ist zwar nicht repräsentativ, denn kurz zuvor waren viele neurekrutierte Soldaten aus den eben erst befreiten Gebieten Ukraines in die Rote Armee geströmt, aber insgesamt geht die Forschung davon aus, dass Ukrainer „etwa 20–25 Prozent“ der Roten Armee stelltenv, was immer noch einen weit überproportionalen Anteil ausmacht.
Auch der Blutzoll, den die ukrainische Bevölkerung im 2. Weltkrieg bezahlte, übersteigt bei Weitem ihren Bevölkerungsanteil in der Sowjetunion. Es gibt nur grobe Schätzungen, sie reichen von 8 bis 14 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainern, die während des 2. Weltkrieges zu Tode kamen. Das entspricht einem Fünftel bis einem Drittel der Gesamtbevölkerung. Nur Polen wies eine ähnliche Opferrate auf, und nur in Belarus waren die Zahlen nochmals höher, nahe 40 Prozent (5). Ukraine, Belarus, Polen – das war die Todeszone des Zweiten Weltkriegs, mehr noch, die tödlichste Region der Erde zwischen 1930 und 1945, die „Bloodlands“, wie der Historiker Timothy Snyder sie nennt.
Hier war der Schauplatz des Holocausts. In den Bloodlands lebten und starben die meisten europäischen Juden. Ukrainische Juden stellten rund ein Viertel aller im Holocaust Ermordeten. Aber hier spielte sich das Morden nicht in Tötungsfabriken ab, sondern flächendeckend an zahllosen Erschießungsgräben. Das bekannteste Massaker ist das von Babyn Yar, einer Schlucht auf dem Stadtgebiet der ukrainischen Hauptstadt Kyiv: Dort wurden am 29. und 30. September 1941 innerhalb von nur 36 Stunden 33.771 Kyiver Juden von Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD zusammengetrieben und erschossen. Doch „fast jede ukrainische Stadt und Kleinstadt hatte ihr eigenes ‚Babyn Jar‘. Forscher vermuten, dass es insgesamt mehr als 5.000 Orte von Massenerschießungen auf dem Gebiet (Ukraines) gab“(7). Und Juden waren nicht die einzigen Opfer von Massenerschießungen, alleine in Kyiv ermordeten die Deutschen in den 2 Jahren der Besatzung zwischen 150- und 200.000 Menschen.
Eine weitere Opfergruppe waren die sowjetischen Kriegsgefangenen. Der Historiker Dieter Pohl fasst es so zusammen: „Niemals in der Geschichte starben so viele Kriegsgefangene in so kurzer Zeit wie die Rotarmisten in deutscher Hand, besonders während der Monate von Oktober 1941 bis Mai 1942“(8). Die Deutschen ließen sie auf freiem Feld verhungern und erfrieren. 3,3 von 5,7 Millionen sowjetischen Gefangenen kamen so ums Leben, also nahezu 60 Prozent – von denen wiederum etwa ein Drittel Ukrainer waren.
Es gibt ein weiteres Stereotyp, das sozusagen die Kehrseite der ethnischen Zuschreibung der Opfer und Befreier als „die Russen“ darstellt und dessen Entstehung eng mit diesen Hungerlagern verbunden ist. Es ist die Assoziation von Ukrainern als „Kollaborateure“. Personalmangel zwang die SS, ausländische Hilfstruppen für ihre Mordaktionen und die Bewachung der Konzentrationslager anzuwerben. In ihrer rassistischen Völkerkunde schienen Ukrainer dafür besonders geeignet, denen die SS antisowjetische und antisemitische Haltungen zuschrieb. Diese sogenannten „Trawniki-Männer“ rekrutierten die Deutschen unter anderem in jenen elenden Hungerlagern. Dort lernten auch die russischen Kriegsgefangenen rasch, dass sie sich als Ukrainer auszugeben hatten, wollten sie dem sicheren Hungertod entrinnen, und so waren weniger als die Hälfte jener „Trawnikis“, die auch als Mittäter Gefangene blieben, tatsächlich ukrainischer Nationalität.(9) Zum Klischee der „ukrainischen Kollaborateure“ trugen tragischerweise aber auch KZ-Überlebende bei, die jene nicht-deutschen Wachleute, deren Werdegang sie nicht kannten, pauschal als „Ukrainer“ bezeichneten (10)
Keines dieser Klischees stimmt bei näherer Betrachtung. Weder die Opfer, noch die Befreier, noch die Kollaborateure des Zweiten Weltkriegs sortierten sich entlang ihrer Nationalität. Die heutige russische Staats-Propaganda möchte anderes glauben machen: In ihrem Narrativ waren Russen die eigentlichen Opfer der Nazis und die wahren Helden der Befreiung, Ukrainer „Nazis“, und ihr heutiger Krieg, behaupten sie, diene der „Entnazifizierung“ Ukraines. Bei manchen auf Seiten der Linken verfängt das. Doch wo sie unausgesprochen so etwas wie einen „Volkscharakter“ postuliert, ist diese Sichtweise selbst zutiefst rassistisch.
Aber all die abstrakten Zahlen überdecken etwas ganz Wesentliches: Was bedeutet es, wenn davon die Rede ist, dass Ukraine während des Zweiten Weltkrieges ein Viertel seiner Bevölkerung verloren hat? Es bedeutet: Jedes vierte Familienmitglied, in jeder ukrainischen Familie, starb seinen eigenen, gewaltsamen Tod. Niemand blieb davon unberührt.
Unterziehen Sie sich vielleicht einmal für einen kurzen Moment einem Gedankenexperiment: Erstellen Sie im Geiste eine Liste ihrer eigenen Familie und weiteren Verwandtschaft. Dann setzen Sie hinter jeden vierten Namen ein Kreuz. Nur so können Sie erahnen, was sich tief in das kollektive Gedächtnis der Ukrainerinnen und Ukrainer und in die Erfahrungswelt jeder einzelnen Familie eingegraben hat.
(1) Primo Levi: Die Atempause, 1988, München, Wien, S. 181
(2)Datnuta Czech: Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939-1945, Reinbek, 1989, S. 993
(3) https://taz.de/Der-Mann-der-Auschwitz-befreite/!233424/,
siehe auch https://de.wikipedia.org/wiki/Anatoly_Shapiro
(4) Timothy K. Blauvelt: Military Mobilisation and National Identity in the Soviet Union, in: War and Society, Volume 21, Number 1. May 2003, S. 54
(5)Yaroslav Hrytsak: Ukraine – Biographie einer bedrängten Nation, München, 2024, S. 316
(6)ebd., S. 316f; https://texty.org.ua/projects/103857/okupaciya_de/
(7)https://www.ukrainianhistoryportal.org/themenmodule/der-zweite-weltkrieg/der-holocaust-in-der-ukraine/
(8)Dieter Pohl: Die Herrschaft der Wehrmacht: Deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941-1944, München 2008, Frankfurt am Main 2011, S. 201
(9)Angelika Benz: Handlanger der SS: Die Rolle der Trawniki-Männer im Holocaust, Berlin 20015, S. 48 f
(10) Vgl. die Aussage von Eda Lichtmann, zitiert in: Angelika Censebrunn-Benz: Der Fall Demjanjuk, in: Wolfgang Benz (Hrsg.): Die Ukraine: Kampf um Unabhängigkeit – Geschichte und Gegenwart, Berlin 2023, S. 277
Foto:
©Deutschlandfunk
Info:
Die Artikel folgen der Veranstaltung zum Holocaust-Gedenktag am 27. 1. 2025 in der Stadtkirche Aalen
Video-Aufzeichnung: https://www.youtube.com/watch?v=gX_iyBeUyKY
Leseempfehlungen
Zur Gewaltgeschichte Osteuropas:
Timothy Snyder: Bloodlands
Europa zwischen Hitler und Stalin C.H.Beck, 34.- €
Zum Holodomor:
Anne Applebaum: Roter Hunger
Stalins Krieg gegen die Ukraine Siedler, 39.- €
Zur Geschichte Ukraines:
Serhii Plokhy: Das Tor Europas
Die Geschichte der Ukraine Hoffmann und Campe, 30.- €
Yaroslav Hrytsak: Ukraine
Biographie einer bedrängten Nation C.H.Beck, 34.- €
Literarische Annäherungen:
Francesca Melandri: Kalte Füße
Wagenbach, 24.- €
Andrej Kurkow: Im täglichen Krieg
Haymon, 22.90 €
Namen und Schreibweisen
Dieser Text weicht in zweierlei Hinsicht vom allgemeinen Sprachgebrauch ab:
- Ukrainische Orte werden mit ihren ukrainischen Namen bezeichnet. Die in der deutschen Sprache gebräuchlichen Ortsnamen sind nahezu durchgängig Transkriptionen der russischen Bezeichnungen: Die Hauptstadt Ukraines heißt „Kyiv“ (oder „Kyjiv“). „Kiew“ ist die Transkription des russischen Namens der Stadt. Odesa etwa wird im Ukrainischen mit einem „s“ geschrieben, das Doppel-S entspricht der russischen Schreibweise. Chernobyl heißt eigentlich Chornobyl, der Dnjepr Dnipro. Im deutschen Sprachgebrauch spiegelt sich also unreflektiert der Blickwinkel der Kolonialmacht wider.
- Das Land wird als „Ukraine“ bezeichnet und nicht als „DIE Ukraine“. Der im Deutschen gebräuchliche Artikel verweist ebenfalls auf eine koloniale Sichtweise: Sie nimmt nicht ein politisches und gesellschaftliches Gemeinwesen, eine Nation, in den Blick, sondern vielmehr ein Territorium. Weitergedacht: Ein Territorium, das in irgendjemandes Besitz ist, eine Art Niemandsland, eine Kornkammer, bereit für den Eroberer. So haben das die Zaren gesehen, die Bolschewiki und auch die Nazis. Auch diese mentale Erbschaft gilt es sich bewusst zu machen - und auszuschlagen.
Bisherige Artikel der Serie:
https://weltexpresso.de/index.php/zeitgesehen/33981-kriegsmuede
https://weltexpresso.de/index.php/zeitgesehen/33967-jahidne
https://weltexpresso.de/index.php/zeitgesehen/33968-blutige-erde