Die Finalisten des Deutschen Buchpreises 2014 , Teil 15
Claudia Schulmerich
München (Weltexpresso) – Man kann gar nicht anders, als die Icherzählerin im vorliegenden Roman als Gertrud Leutenegger selber anzusehen, so sehr entspricht das, was sie erzählt, dem Bild, das sie schon auf den Fotos ausstrahlt.
Daß man dabei nicht falsch liegt, hat die 1948 geborene Schweizer Schriftstellerin, die mit diesem Roman zudem ebenfalls für den Schweizer Buchpreis nominiert wurde, beim Leseabend im Literaturhaus Frankfurt bestätigt, wobei für jegliche autobiographische Schrift immer auch die Verfremdung, die Poetisierung, die Stilisierung gelten, weshalb Autoren darauf bestehen, daß nichts 1: 1 übernommen worden ist. Daß zudem das Leben meist langwieriger und langweiliger ist, als die in Schrift geronnene Wiedergabe, ist auch eine alte Buchweisheit.
Mit dem autobiographischen Ansatz ist Gertrud Leutenegger sozusagen topaktuell – die meisten der Finalisten bekennen sich dazu, mit ihrem Thema auf liebenswerte Weise von gestern. Gestern nämlich durfte man sich noch derartige Gedanken machen, im stillen London, denn der isländische Vulkan hat die Ruhe über London möglich gemacht, ganze zehn Tage ohne den City-Airport. Daß man diesen Eindruck gewinnt, einer zarten, altmodischen, leicht überspannten Geschichte zu lauschen, hat mit der Entscheidung der Autorin zu tun, das ferne London – aus einem schweizerischen Gebirgsdorf ist es sehr fern und diametral anders im Lebenszuschnitt und der bunten Bevölkerung – einerseits durch die Erzählungen eines Engländer aus der Provinz sprechen zu lassen und andererseits für die auktoriale Erzählerin die Stadt und den Bewohner Jonathan, der auf der London Bridge die Obdachlosenzeitung verkauft, nur als Folie zu nutzen, auf der die längst verloren geglaubten eigenen Erinnerungen an die Heimat, an die Kindheit wiederaufscheinen.
Damit greift Leutenegger einen alten topos der Literatur auf, daß je weiter ich weg bin, ich umso dichter an mich selber herankomme, wenn der häusliche Alltag nämlich nicht das bisher gelebte Leben so überlagert, daß die Erinnerungen ausgelöscht scheinen, die mit Urgewalt auf einmal in der Fremde aus dem Unterbewußten, dem Vorbewußten und Unbewußten wiederauftauchen. Doch geschieht dies in Symmetrie, denn auch der viel jüngere Jonathan, mit dem sie sich auf Englisch unterhalten muß, wird durch sie an sein Zuhause an Cornwalls Küste erinnert und so erzählen sich die beiden was, wie die Chinesen mit dem Kontrabaß!
Daß eine leichte Erotik mitschwingt, hat sich sicher jeder schon gedacht, die wird nun weder ausgeführt, noch begründet, was auch stören täte, weil etwas anderes wichtiger wird: die Anziehung paart sich nämlich mit der Abschreckung. Die ist oberflächlich gegeben dadurch, daß der gut aussehende Jonathan im Profil nur von einer Seite gut aussieht, auf der anderen trägt er seit Geburt ein Feuermal. Tatsächlich galt so etwas sehr viel früher als ambivalent, denn die Feuerzeichnung galt nicht nur als häßliche Verunstaltung, sondern auch als besondere Auszeichnung, wofür auch immer. Auch das ist ein topos, wie überhaupt Gertrud Leutenegger das Feuermal direkt auf den Pan bezieht, der im alten Griechenland vorwiegend um die Mittagszeit die zarte Weiblichkeit durch sein bockiges und ihnen nachstellendes Wesen zutiefst erschreckte, so daß der panische Schrecken sie ereilte, was oft bedeutete, sich an den Boden festgebunden zu fühlen, keinen Schritt weichen zu können und somit Opfer des sexuell aufgeladenen Pans zu werden.
Nein, nein, Jonathan ist ein ganz gesitteter junge Mann, aber die Autorin spielt mit dem Thema unterschwellig, wobei das aber nur ein Grundton ist, der die Erzählung musikalisch begleitet, während das, was einen beim Lesen dann sehr viel mehr interessiert, die Kindheitserinnerungen in einer vergangenen Schweiz sind. Beim Lesen erkennen wir immer wieder Metaphern, die aber nicht ohne weiteres gedeutet sind und so sind wir froh, wenn wir uns selbst etwas erklären können. So muß der Satz auf Seite 84: „Wie oft hatte ich mir zugesprochen, Baum der Hoffnung bleibe stark.“, einfach die Gestalt der mexikanischen Malerin Frida Kahlo evozieren, die in eines ihrer Bilder als Selbstsuggestion hineingeschrieben hatte: Arbol de la Esperanza, mantente firme. Das war 1946 und es rührt einen, wenn eine älter gewordene Schweizerin in London im Jahr 2010 so mit sich selber spricht.
Am Schluß des Buches bedankt sich die Verfasserin für die einzige Sekundärliteratur, die sie für PANISCHER FRÜHLING verwendet hatte und von deren Existenz sie erst in London erfuhr: die Verschickung zu Kriegszeiten von Kindern aus dem ärmlichen East End, in dem sie in London inmitten der heute fast durchgängig farbigen Bevölkerung wohnt, aufs Land, ans Cornwalls Küsten, ein Vorgang, der sie außerordentlich als menschenfreundlicher Akt beeindruckte, weshalb sie ihn in ihr Buch aus dem Jahre 2010 aufnahm.
Da allerdings wunderten wir uns, daß der heute in Zürich lebenden Autorin die gleichmotivierte Aktion der Baseler unbekannt ist. Die holten nämlich nach dem Zweiten Weltkrieg Kinder aus Darmstadt zur Erholung ins Schweizer Paradies mit Schokolade, Milch und Käse; allerdings nur aus Darmstadt, was seine Ursache in der DARMSTÄDTER MADONNA hatte, dieser herrlichen Schutzmantelmadonna von Hans Holbein, in der er den Baseler Bürgermeister seiner Zeit mit Familie verewigt hatte. So tief kann Kunst verbinden. Aber so tief kann sie auch trennen. Denn mit viel Geld hat der Unternehmer Würth aus Schwäbisch Hall diese Madonna dem prinzlichen Haus Hessen abgekauft. Und damit die DARMSTÄDTER MADONNA ins Exil geschickt. Die dortigen Kinder müssen am Ort bleiben. Aber für Gertrud Leutenegger wäre das eine schöne Geschichte. Finden wir.
Was die Jury des Deutschen Buchpreises dazu meint:
Ein Vulkanausbruch auf Island legt den europäischen Luftverkehr lahm, Zehntausende Menschen stranden an den Flughäfen. Während die Bilder der Aschewolke um die Welt gehen, steht über der Themse ein strahlend blauer Frühlingshimmel. Auf der London Bridge begegnet die Erzählerin einem jungen Mann mit einem Feuermal im Gesicht. Die beiden sind einander eigenartig vertraut. Allmählich gehen die vergessenen Geheimnisse des einen in den anderen über. Dann aber verschwindet Jonathan plötzlich und die Erzählerin macht sich auf die Suche: nach Jonathan und nach sich selbst.
INFO:
Gertrud Leutenegger, Panischer Frühling, Suhrkamp Verlag 2014
Vergleichen Sie auch die Berichterstattung der Lesungen der Finalisten aus dem Literaturhaus Frankfurt:
http://weltexpresso.tj87.de/index.php/buecher/3567-im-literaturhaus-frankfurt-hettche-melle-seiler
Der Deutsche Buchpreis wird am 6. Oktober abends im Kaisersaal des Frankfurter Römer bekanntgegeben und verliehen.
Der Börsenverein teilt mit: Die Preisverleihung im Live-Stream mitverfolgen
Wer gewinnt den Deutschen Buchpreis 2014? Zuschauer können von zuhause oder unterwegs aus live dabei sein, wenn am 6. Oktober 2014 der Preisträger oder die Preisträgerin bekanntgegeben wird. Unter www.deutscher-buchpreis.de wird die Preisverleihung ab 18 Uhr in Bild und Ton übertragen.
Mit dem Deutschen Buchpreis 2014 zeichnet die Börsenverein des Deutschen Buchhandels Stiftung den besten deutschsprachigen Roman des Jahres aus. Förderer des Deutschen Buchpreises ist die Deutsche Bank Stiftung, weitere Partner sind zudem die Frankfurter Buchmesse, Paschen & Companie und die Stadt Frankfurt am Main. Die Deutsche Welle unterstützt den Deutschen Buchpreis bei der Medienarbeit im In- und Ausland. Deutschlandfunk und Deutschlandradio Kultur übertragen die Preisverleihung live im Rahmen von „Dokumente und Debatten“ auf den LW 153 und 177 kHz, per Livestream im Internet unter www.deutschlandradio.de sowie im Digitalradio DAB+.