Zum 200. Geburtstag der Institution des englischen Großschriftstellers Charles Dickens, Teil 4
Claudia Schulmerich
London (Weltexpresso) – Wir haben uns auf die zweite Dickenstournee – unten die Links der ersten - nach London aufgemacht, weil dieser Autor nicht nur das ist, was man einen literarischen Kontinent nennt, sondern die eigenartige geschichtliche Verwobenheit seiner zweihundert Jahre mit dem Thronjubiläum der Queen im gleichen Jahr viele Facetten von Großbritannien gemeinsam beleuchten, aber getrennt aufgeführt werden.
Bis zum 10. Juni – am 9. Juni 1870 starb er - läuft noch die gewaltige Ausstellung DICKENS AND LONDON im Museum of London und dieses Mal haben wir uns mit der gerade erschienen Biographie von Hans-Dieter Gelfert CHARLES DICKENS DER UNNACHAHMLICHE schlauer gemacht, denn man kann über Dickens gar nicht genug wissen, will man Leben, seine Romane und Erzählungen und das England seiner Zeit zusammenbringen. Diesen Anspruch hatte Dickens und wenn Autor Gelfert den liebevollen, von Dickens mit Ironie und Stolz gleichermaßen übernommenen familiären und freundschaftlichen Spitznamen von seiner „Unnachahmlichkeit“ übernahm, sagt das auch etwas über das Dickensbild seines deutschen Biographen aus.
Englische Biographen gibt es wie Sand am Meer. Für Deutschland ist Dickens auch immer ein gewichtiger Schriftsteller gewesen mit hohen Auflagen und Gesamtausgaben. Hans-Dieter Gelfert, so lesen wir, war bis zu seiner Emeritierung Professor für englische Literatur an der Freien Universität Berlin und verfaßte Bücher und übersetzte Gedichte. Sieht man auf den letzten Seiten des 375 starken Buches die Verlagsanzeigen vom Beck VErlag durch, ist man verblüfft, welchen Stellenwert England im Verlagshaus hat und daß Gelfert davon 10 Bücher über Literatur beigesteuert hat.
Insgesamt orientiert sich diese Biographie an der Tatsache, daß Dickens sein eigenes Leben zum Spiegel machte beim Schreiben und die erfahrungsgesättigten Geschichten eben auch deshalb so lebensvoll, so wirklichkeitsnah, so unter die Haut gehend sind, weil er selbst immer wieder solche erlebte. Von den schlimmsten hat man erst nach seinem Tod erfahren. Gelfert entwirft erst einmal das Bild der englischen Gesellschaft, also „Dickens’ England“ und weist damit auch auf die Bedeutung, die man literaturgeschichtlich Dickens Werken und Wirken zukommen lassen muß. Dickens ist nicht nur Literatur, sondern er ist bildet die Kulturgeschichte seiner Zeit genauso ab, wie deren Sozialgeschichte sowie Ethik und dichotomische Gesellschaft.
Dickens ist kein nachgetragener Großer, sondern ein Schriftsteller, der schon zu seiner Zeit als bedeutender Autor und vor allem als Sprechrohr seiner Zeit erkannt wurde – wie Shakespeare beispielsweise. Der Ausdruck DICKENSIAN bezeichnet den Kosmos, den er für Engländer in der Victorianischen Epoche errichtete, in dem die Figuren aus seinen Romanen zu Mitbewohnern des Lebens der Leute wurden, zu sogenannten Alltagsmythen, so als ob sie wirklich gelebt hätten. Was kann einem Schriftsteller Schöneres passieren, als zu schreiben, was eigentlich alle schon ahnten, durch ihn aber Figur, Sprache und Emotion gewinnt. Fortsetzung folgt.
Hans-Dieter Gelfert, Charles Dickens. Der Unnachahmliche, C.H.Beck Verlag
Info:
Ausstellung in London bis 10. Juni 2012
Literatur:
Statt eines eigenen Kataloges verweist das Museum auf das Buch DICKENS’S VICTORIAN LONDON 1839-1901, von Alex Werner und Tony Williams. Auf den Katalog hat man verzichtet, weil die vielen Ausstellungsstücke dann zu den jeweiligen Leihgebern zurückwandern und die Darstellung des sinnlich Wahrnehmbaren schwer schriftlich wiederzugeben ist. Das ist richtig und dennoch schade.
Wir stützen uns auf unsere 15 teilige Winkler Dünndruckausgabe. Tatsächlich sind alle Bücher gelesen, das sieht man noch heute, aber wann, das wissen wir nicht mehr. Allerdings nicht als Kind. Das nämlich ist ein Märchenglaube, daß Dickens ein Kinder- oder Jugendschriftsteller sei. Sein einziger Versuch in diese Richtung scheiterte kläglich. Groß ins Geschäft kommt die neue Ausgabe von GROSSE ERWARTUNGEN im Hanser Verlag (und der gleichnamige Film von David Leans) und DER SCHWARZE SCHLEIER:NEUENTDECKTE MEISTERERZÄHLUNGEN aus dem Aufbau Verlag.
Seit 1870, seinem Todestag, sind über 200 Biographien über Dickens erschienen. Derzeit wird die neueste von Hans-Dieter Gelfert, CHARLES DICKENS. DER UNNACHAHMLICHE im Verlag C.H. Beck angeboten. Die Biographin, die am sichersten zu Hause im 19. Jahrhundert in England ist, Claire Tomalin, arbeitet seit Jahren an einer umfassenden Biographie zu Dickens. Bisher hatte sie auch Frauen in seinem Umfeld porträtiert.
William Raban, ein experimenteller Dokumentarfilmer hat einen Filmessay zusammengestellt THE HOUSELESS SHADOW, in dem wir das London von heute bei Nacht sehen, wozu die Texte von Dickens ertönen, der sich nächtlich durch London bewegte.
Die bisherige Serie Charles Dickens