Serie: Zum 200. Geburtstag der Institution des englischen Großschriftstellers Charles Dickens, Teil 6

 

Verdienstvoll vom Aufbau Verlag, diese Herausgabe von ‚neuentdeckten’ Meistererzählungen, ist der erste Gedanke.Und vom Zeitpunkt her gerade richtig zum großen Geburtstagsjubiläum. Dann schaut man ins Buch, schön in rotes Leinen gebunden, und liest auf dem Schutzumschlag…

 

„Sämtliche Erzählungen wurden für diese Ausgabe neu übersetzt, einige erscheinen zum ersten Mal in deutscher Sprache.“ Aha. Wie war das jetzt mit den „Neuentdeckungen“? Dann lasen wir auf der hinteren Umschlagseite: „Neben seinen berühmten Romanen hinterließ der bekannteste englische Romancier eine ganze Schatzkiste voller Erzählungen, die heute in Vergessenheit geraten sind oder nie in deutscher Sprache erschienen.“ Stimmt. Das mit dem Vergessen. Haben wir je die Erzählungen gelesen? Unseren Knicken und Bleistiftstrichen in unserer Winkler Dünndruckausgabe aus dem Jahr 1957-73 nach: ja. Aber vergessen haben wir sie trotzdem und sind schon hoch zufrieden, daß wir die meisten der Romaninhalte noch in Erinnerung haben.

 

Also sind wir einverstanden mit diesem Erzählband, den Marlies Juhnke ausgewählt und Ulrike Seeberger übersetzt hat, in dem man sicher erst einmal das Nachwort von Anne Varty lesen sollte. Wir aber stürzten uns gleich in die erste Erzählung „Der Mordprozeß“ und staunen. Auf ein paar Seiten (5-24) fängt Dickens eine ganze Welt ein: wir lernen den Icherzähler, einen ehrbaren Hagestolz kennen, der knochentrocken von merkwürdigen Erlebnissen erzählt, die man bei jedem anderen als Phantasien einschätzen täte, aber bei diesem gewissenhaften Erzähler wortwörtlich glaubt, weil er zwischen den nüchternen Worten und den unglaublichen Seherfahrungen keine andere Interpretation als die Wirklichkeit zuläßt.

 

Dabei wird nicht linear erzählt. Nein, Dickens wendet einen literarischen Kniff an, denken wir, wenn so ganz langsam das Unheimliche aufgebaut wird. Er fällt nicht mit der Tür ins Haus, schreibt nichts von Übersinnlichem oder so, sondern raunt - mit mehreren Anläufen - von seltsamen Ereignissen, die sich zugetragen haben, so daß wie in einer Umkreisung eines Gegenstandes, mehrere Vorgeschichten hintereinander unsere Aufmerksamkeit auf etwas Kommendes richten, das uns dann erst entschlüsseln wird, was es mit den vielen Vorläufen auf sich hatte. Da hat uns längst der Schauer gepackt und wir glauben dem Erzähler jedes Wort. Um was es aber geht, das sollten Sie selber lesen.

 

Auch die zweite Geschichte „In die Gesellschaft gehen“ hat einen Icherzähler. Das merkt man allerdings nicht sofort, weil immer nur von „er“ und „über ihn“ geredet wird.Wieder sind es nur 16 Seiten, ab Seite 25, in denen eine unheimliche Geschichte zum Vorschein kommt, wobei auffällt, daß die Physiognomie der Menschen, ja ihre gesamte Gestalt in der Regel eine Handlungskomponente erhalten. Fortsetzung folgt.

P.S.I: Das Lesebändchen! Wie oft wollen wir bei Rezensionen verbittert anmerken, daß trotz der guten Herstellung und des saftigen Preises, solch ein Buch auf die Selbstverständlichkeit eines eingebundenen Bändchens verzichtet. Was schon bei einem Roman wichtig ist, seine Lesemarkierung verlässlich einzulegen, das ist bei einem Erzählband noch wichtiger, weil er tatsächlich öfter aus der Hand gelegt und wieder aufgeschlagen wird. Dank also an den Aufbau Verlag für eine Selbstverständlichkeit, die heute schon fast ein Luxus ist.

 

P.S.II: Die älteren Romanausgaben hatten wir mit Absicht angefügt, denn wir wollten im Kontext der Ausstellung in London und unserer Serie natürlich auch die so gelobte Neuübersetzung von GROSSE ERWARTUNGEN aus dem Hanser Verlag besprechen. Gleichwohl hieß es, das Buch sei erfolgreich und kein Rezensionsexemplar mehr zu bekommen. Kein Kommentar. Uns waren dann die wirklichen Neuausgaben aus dem Aufbau Verlag erst recht teuer.

 

Charles Dickens, Der schwarze Schleier. Neuentdeckte Meistererzählungen, Aufbau Verlag 2011

 

Info:

Ausstellung in London bis 10. Juni 2012


Literatur:

Statt eines eigenen Kataloges verweist das Museum auf das Buch DICKENS’S VICTORIAN LONDON 1839-1901, von Alex Werner und Tony Williams. Auf den Katalog hat man verzichtet, weil die vielen Ausstellungsstücke dann zu den jeweiligen Leihgebern zurückwandern und die Darstellung des sinnlich Wahrnehmbaren schwer schriftlich wiederzugeben ist. Das ist richtig und dennoch schade.

Wir stützen uns auf unsere 15 teilige Winkler Dünndruckausgabe. Tatsächlich sind alle Bücher gelesen, das sieht man noch heute, aber wann, das wissen wir nicht mehr. Allerdings nicht als Kind. Das nämlich ist ein Märchenglaube, daß Dickens ein Kinder- oder Jugendschriftsteller sei. Sein einziger Versuch in diese Richtung scheiterte kläglich. Groß ins Geschäft kommt die neue Ausgabe von GROSSE ERWARTUNGEN im Hanser Verlag (und der gleichnamige Film von David Leans) und DER SCHWARZE SCHLEIER:NEUENTDECKTE MEISTERERZÄHLUNGEN aus dem Aufbau Verlag.

Seit 1870, seinem Todestag, sind über 200 Biographien über Dickens erschienen. Derzeit wird die neueste von Hans-Dieter Gelfert, CHARLES DICKENS. DER UNNACHAHMLICHE im Verlag C.H. Beck angeboten. Die Biographin, die am sichersten zu Hause im 19. Jahrhundert in England ist, Claire Tomalin, arbeitet seit Jahren an einer umfassenden Biographie zu Dickens. Bisher hatte sie auch Frauen in seinem Umfeld porträtiert.

William Raban, ein experimenteller Dokumentarfilmer hat einen Filmessay zusammengestellt THE HOUSELESS SHADOW, in dem wir das London von heute bei Nacht sehen, wozu die Texte von Dickens ertönen, der sich nächtlich durch London bewegte.

 

 

Die bisherige Serie Charles Dickens

 

http://weltexpresso.tj87.de/index.php/buecher/413-nicht-alle-13-143-literarischen-figuren-dickens-sind-in-seiner-londoner-ausstellung

 

http://weltexpresso.tj87.de/index.php/buecher/412-die-dickens-ausstellung-in-london-erzaehlt-von-einem-mann-und-seiner-stadt

 

http://weltexpresso.tj87.de/index.php/buecher/411-die-ausstellung-dickens-und-london-im-museum-of-london

 

http://weltexpresso.tj87.de/index.php/buecher/673-hans-dieter-gelferts-charles-dickens-der-unnachahmliche-aus-dem-c-h-beck-verlag