Serie: Zum 200. Geburtstag der Institution des englischen Großschriftstellers Charles Dickens, Teil 7
Claudia Schulmerich
London (Weltexpresso) – Gerne verweilt Dickens bei Zwergen, Aufsteigern, Absteigern, also Menschen, die in ihrem Leben nicht an einem gestellten Platz verharren, sondern aus sich und ihrem Schicksal etwas machen: in jede Richtung, die die Vorsehung vorhat. Was der Mensch sei, was sein Geschick, ist die nicht aufzulösende Frage, die Dickens ständig stellt. Nicht, indem er sie ausspricht, sondern indem er erzählt und uns diese Fragen stellen läßt. Ein Wort- und Geschichtenverführer.
Schließlich die titelgebende Geschichte „Der schwarze Schleier“ (101-118). Da kann man gar nicht anders, als die literarische Meisterschaft Dickens zu bewundern. „Eines Winterabends gegen Ende des Jahres 1800, vielleicht auch ein Jahr oder zwei früher oder später, saß ein junger Arzt, der sich gerade in diesem Geschäft niedergelassen hatte, in seinem kleinen Wohnzimmer bei einem fröhlich prasselnden Kaminfeuer und lauschte auf den Wind, der den Regen in platschenden Tropfen an die Fensterscheiben schlagen ließ oder gräßlich im Schornstein heulte.“, fängt die Geschichte an. So wickelt er uns ein, dieser Charles Dickens. Wem würde man solche eine Datumsanzeige durchgehen lassen. Aber das Bild, das er entwirft, ist so allgemeingültig, daß wir sofort mit diesem jungen Arzt in seinem kleinen Wohnzimmer sitzen, so anschaulich schildert der Autor das Drumherum.
Wir können sicher sein, das nun das Gegenteil kommt! Erst einmal erfahren wir, daß er noch nie ein Patienten hatte und sehnlich seit langem auf den ersten wartet, damit er seine geliebte Rose heiraten kann. Und plötzlich wie eine Erscheinung, ist sie da: die erste Patientin. Ja, ihr Gesicht verhüllt von einem schwarzen Schleier, durch den sie später sogar ein Glas Wasser an den Mund führt. Sehr ausschweifend und umständlich kommt es nun zur Geschichte der Kranken, die nicht körperlich, sondern seelisch krank ist, weil ein Dritter krank ist.Und schon sind wir mittendrinnen in der Erzählung, um wen und um was es geht und was der Arzt dabei soll. Wahrlich schauerlich das Ende.
Übrigens sind unter jeder Erzählung die Originaltitel und Erscheinungsjahr und -ort vermerkt. Uns hätten dabei auch die potentiellen deutschen Ausgaben interessiert. Wo nötig, sind im Text Erklärungen in Sternchenform auf den entsprechenden Seiten eingefügt, wenn Namen erwähnt werden, die damals jeder kannte oder sonstige inhaltlichen Lesehilfen. In der Nachbemerkung bringt Anne Varty die wichtigsten beruflichen Daten von Dickens, dessen Werk ohne seine Kenntnis als Gerichtsreporter schwerlich vorstellbar ist. Auch die titelgebende Geschichte spielt hierbei eine Rolle, denn sie wurde erstmals in „Skizzen von Boz zur Illustration des alltäglichen Lebens alltäglicher Menschen“ zwischen 1833-37 veröffentlicht. Diese wurden in der Winkler-Dünndruckausgabe als „Londoner Skizzen“ veröffentlicht, wo wir auf Seite 479 auch „Der schwarze Schleier finden“. Höchst interessant übrigens, die Unterschiede in der Übersetzung nachzuverfolgen.
P.S.I: Das Lesebändchen! Wie oft wollen wir bei Rezensionen verbittert anmerken, daß trotz der guten Herstellung und des saftigen Preises, solch ein Buch auf die Selbstverständlichkeit eines eingebundenen Bändchens verzichtet. Was schon bei einem Roman wichtig ist, seine Lesemarkierung verlässlich einzulegen, das ist bei einem Erzählband noch wichtiger, weil er tatsächlich öfter aus der Hand gelegt und wieder aufgeschlagen wird. Dank also an den Aufbau Verlag für eine Selbstverständlichkeit, die heute schon fast ein Luxus ist.
P.S.II: Die älteren Romanausgaben hatten wir mit Absicht angefügt, denn wir wollten im Kontext der Ausstellung in London und unserer Serie natürlich auch die so gelobte Neuübersetzung von GROSSE ERWARTUNGEN aus dem Hanser Verlag besprechen. Gleichwohl hieß es, das Buch sei erfolgreich und kein Rezensionsexemplar mehr zu bekommen. Kein Kommentar. Uns waren dann die wirklichen Neuausgaben aus dem Aufbau Verlag erst recht teuer.
Charles Dickens, Der schwarze Schleier. Neuentdeckte Meistererzählungen, Aufbau Verlag 2011
Info:
Ausstellung in London bis 10. Juni 2012
Literatur:
Statt eines eigenen Kataloges verweist das Museum auf das Buch DICKENS’S VICTORIAN LONDON 1839-1901, von Alex Werner und Tony Williams. Auf den Katalog hat man verzichtet, weil die vielen Ausstellungsstücke dann zu den jeweiligen Leihgebern zurückwandern und die Darstellung des sinnlich Wahrnehmbaren schwer schriftlich wiederzugeben ist. Das ist richtig und dennoch schade.
Wir stützen uns auf unsere 15 teilige Winkler Dünndruckausgabe. Tatsächlich sind alle Bücher gelesen, das sieht man noch heute, aber wann, das wissen wir nicht mehr. Allerdings nicht als Kind. Das nämlich ist ein Märchenglaube, daß Dickens ein Kinder- oder Jugendschriftsteller sei. Sein einziger Versuch in diese Richtung scheiterte kläglich. Groß ins Geschäft kommt die neue Ausgabe von GROSSE ERWARTUNGEN im Hanser Verlag (und der gleichnamige Film von David Leans) und DER SCHWARZE SCHLEIER:NEUENTDECKTE MEISTERERZÄHLUNGEN aus dem Aufbau Verlag.
Seit 1870, seinem Todestag, sind über 200 Biographien über Dickens erschienen. Derzeit wird die neueste von Hans-Dieter Gelfert, CHARLES DICKENS. DER UNNACHAHMLICHE im Verlag C.H. Beck angeboten. Die Biographin, die am sichersten zu Hause im 19. Jahrhundert in England ist, Claire Tomalin, arbeitet seit Jahren an einer umfassenden Biographie zu Dickens. Bisher hatte sie auch Frauen in seinem Umfeld porträtiert.
William Raban, ein experimenteller Dokumentarfilmer hat einen Filmessay zusammengestellt THE HOUSELESS SHADOW, in dem wir das London von heute bei Nacht sehen, wozu die Texte von Dickens ertönen, der sich nächtlich durch London bewegte.
Die bisherige Serie Charles Dickens
http://weltexpresso.tj87.de/index.php/buecher/673-hans-dieter-gelferts-charles-dickens-der-unnachahmliche-aus-dem-c-h-beck-verlag