Serie: Zum 200. Geburtstag der Institution des englischen Großschriftstellers Charles Dickens, Teil 8
Felicitas Schubert und Gerhard Wiedemann
London (Weltexpresso) – Warum wir Charles Dickens Roman GROSSE ERWARTUNGEN, neu übersetzt von Melanie Walz, aus dem Hanser Verlag, nicht besprechen können, obwohl wir dies direkt zum 200sten Geburtstag am 7. Februar, verbunden mit dem Besuch der großen Londoner Ausstellung, wollten, liegt am großen Erfolg des Buches. Weitere Besprechungen sind für die Presseabteilung nicht mehr nötig. Gut im Nachhinein. Denn so kamen wir auf die Hörspielfassung des Romans, der in der GROSSEN HÖRSPIELEDITION den beiden populären Hörspielen David Copperfield und Oliver Twist beigesellt ist.
Und dann fanden wir nach der Londoner Ausstellung den gesprochenen Dickens gerade richtig. Denn dort wird mit großem Aufwand und einer große Bildauswahl der begnadete Vorleser Dickens gewürdigt. Er hat die LESEREISE eines Autors regelrecht erfunden und hat dadurch seinen Romanen nicht nur seine Handschrift, sondern auch seine Stimme gegeben. Und sind nicht Erzählungen per se auch am intensivsten durch die menschliche Stimme zu erleben, wie die Märchen, die tradiert wurden und ohne das Aufschreiben der Brüder Grimm für den deutschen Sprachraum verloren wären.
Das öffentliche Vorlesen findet seine gegenteilige Korrespondenz in den langen nächtlichen stummen Wanderungen, die er durch London unternahm, was sich in den präzisen Schilderungen von Straßen, Häusern, Geschäften und Menschen in den Romanen niederschlägt. Also sind die Hörspiele nicht nur den echten dickensschen Lesungen nachempfunden, sondern das erzählende Element, ein ständiges Raunen von der Welt, das Dickens perfekt beherrscht, kommt beim Hören wundersam zur Geltung.
Liest man nämlich erst einmal: „Hörspiele. Laufzeit ca. 595 Minuten, findet man das eine lange Zeit. Sie vergeht allerdings wie im Fluge. Und obwohl wir nur GROSSE ERWARTUNGEN, ein Spätwerk aus den Jahr 1860/61, besprechen wollen, hörten wir die anderen beiden, uns viel besser bekannten Romane in ihren Hörspielfassungen gleich auch noch, so liebevoll und – stark gekürzt – gemütlich ist die Ansprache auch bei David Copperfield. Wir schauten gleich auf die Produktionsdaten. Genau. Unser Eindruck stimmt. Es handelt sich bei GROSSE ERWARTUNGEN um eine Aufnahme aus dem Jahr 1980, vom Norddeutschen Rundfunk Irgendwie war das ein anderer Sprachklang. Aber die Stimmen passen gut zum Text und sie werden zum Teil von Schauspielern gesprochen, deren Karriere damals noch vor ihnen lag.
Die Hauptperson ist Pip, dessen Werdegang und die großen Erwartungen, die er hat und die man von ihm hat, wir bis zum vorerst glücklichen Ende folgen. Den Waisenjungen spricht als junger Erzähler Helmut Zierl, als älterer Erzähler Klaus Nägelein. Wie im Roman gibt es erzählende Passagen, die durch einen großen Anteil wörtlicher Rede verlebendigt werden. Pip als Kind spricht also Alexander Heinz, Estella ist das junge Mädchen, die junge Frau, die Pip lange vergeblich begehrt und die dann…aber das kommt erst zum Schluß. Susanne Lothar gibt ihr ihre Stimme.
Joe ist der verlässliche Onkel, den Pip immer wieder vernachlässigt, der Fels in der Brandung, gesprochen von Gerhard Olschewski, seine Frau, die kranke und bald sterbende Schwester des Pip ist Witta Pohl. Eine wichtige Funktion nimmt Miss Havisham ein – Marie-Luise Etzel -, von der Pip sehr lange annimmt, daß sie die Wohltäterin sei, die ihn plötzlich vermögend macht und zum Gentlemen ausbilden läßt, diesen armen Jungen, der als Waise aufwächst und nicht seine Fähigkeiten ausbilden kann, sondern niedere Arbeiten verrichten muß. Den Grund für ihr altruistisches Verhalten sieht Pip darin, daß sie eine Verbindung ihres Mündels Estella mit ihm fördern möchte, also ihn zu einem Ebenbürtigen machen lassen will.
Charles Dickens, Die großen Hörspieleditionen. Große Erwartungen. David Copperfield. Oliver Twist, 9 CDs im Der Hörverlag, November 2011
Info:
Ausstellung in London bis 10. Juni 2012
Literatur:
Statt eines eigenen Kataloges verweist das Museum auf das Buch DICKENS’S VICTORIAN LONDON 1839-1901, von Alex Werner und Tony Williams. Auf den Katalog hat man verzichtet, weil die vielen Ausstellungsstücke dann zu den jeweiligen Leihgebern zurückwandern und die Darstellung des sinnlich Wahrnehmbaren schwer schriftlich wiederzugeben ist. Das ist richtig und dennoch schade.
Wir stützen uns auf unsere 15 teilige Winkler Dünndruckausgabe. Tatsächlich sind alle Bücher gelesen, das sieht man noch heute, aber wann, das wissen wir nicht mehr. Allerdings nicht als Kind. Das nämlich ist ein Märchenglaube, daß Dickens ein Kinder- oder Jugendschriftsteller sei. Sein einziger Versuch in diese Richtung scheiterte kläglich. Groß ins Geschäft kommt die neue Ausgabe von GROSSE ERWARTUNGEN im Hanser Verlag (und der gleichnamige Film von David Leans) und DER SCHWARZE SCHLEIER:NEUENTDECKTE MEISTERERZÄHLUNGEN aus dem Aufbau Verlag.
Seit 1870, seinem Todestag, sind über 200 Biographien über Dickens erschienen. Derzeit wird die neueste von Hans-Dieter Gelfert, CHARLES DICKENS. DER UNNACHAHMLICHE im Verlag C.H. Beck angeboten. Die Biographin, die am sichersten zu Hause im 19. Jahrhundert in England ist, Claire Tomalin, arbeitet seit Jahren an einer umfassenden Biographie zu Dickens. Bisher hatte sie auch Frauen in seinem Umfeld porträtiert.
William Raban, ein experimenteller Dokumentarfilmer hat einen Filmessay zusammengestellt THE HOUSELESS SHADOW, in dem wir das London von heute bei Nacht sehen, wozu die Texte von Dickens ertönen, der sich nächtlich durch London bewegte.
Die bisherige Serie Charles Dickens
http://weltexpresso.tj87.de/index.php/buecher/673-hans-dieter-gelferts-charles-dickens-der-unnachahmliche-aus-dem-c-h-beck-verlag
http://weltexpresso.tj87.de/index.php/buecher/674-neuentdeckte-meistererzaehlungen-der-schwarze-schleier-im-aufbau-verlag
http://weltexpresso.tj87.de/index.php/buecher/682-die-titelgebende-geschichte-der-schwarze-schleier-im-aufbau-verlag