Bildschirmfoto 2024 09 09 um 07.31.20Serie: Gabriele D'Annunzio - Ein bewegtes Leben zwischen Kultur & Politik, Teil 9/15

Davide Zecca

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - "Liebster Kamerad, die Würfel sind gefallen. Ich breche jetzt auf. Morgen werde ich Fiume mit Waffen nehmen. Der Gott Italiens sei mit uns. Ich erhebe mich aus dem fieberhaften Bett. Aber es ist nicht möglich, zu zögern. Einmal mehr wird der Geist das elende Fleisch bezwingen. Unterstützt die Sache kräftig während des Konflikts. Ich umarme euch."

Mit diesen Worten gerichtet an den Ex-Sozialisten Mussolini begann am Morgengrau des 12. September 1919 – zwei Tage später die Ratifikation des Vertrags von Saint-Germain – „il Comandante“ seine „impresa di Fiume“ („Fiume-Unternehmen“). Mit dem Ressentiment der „Vittoria mutilata“ in petto und seinen 2.500 irredentistischen Freischärlern, genannt „Legionäre“, bestehend überwiegend aus der Mehrheit der „Arditi“ („Die Kühnen“), einem Sturmtrupp aus dem Ersten Weltkrieg, die dieses revanchistische Gefühl gänzlich teilen, marschieren sie bunt, lärmend und waffentrotzend teilweise auf gestohlenen Fahrzeugen. An der Spitze steht der „Comandante“ in einem roten Fiat 501, geschmückt mit Blumen auf dem Hauptplatz der istrischen Hafenstadt, dem Geburtsort des Schriftstellers Ödön von Horváths.

In der multiethnischen Stadt Fiume (Rijeka), wo ca. 50.000 Menschen mehrheitlich Italienisch, gefolgt von Kroatisch, Ungarisch, Slowenisch und Deutsch sprechen – ohne dabei eine Patrone abzufeuern – wurden die Ankömmlinge in großer Feierlaune begrüßt: „Lang lebe das italienische Fiume“ und die Anfeuerungsrufe „Eia, Eia, Eia – Alalá“ brüllen die Massen entgegen, dabei werden zahllose Tricolore und Lorbeerkränze geschwungen. Am Nachmittag des 12. September 1919 stieg D'Annunzio auf den Balkon des Gouverneurspalasts von Fiume, wo er sich zuvor ostentativ über die Disziplinaraufforderungen des italienischen Militärgouverneurs Vittorio Emanuele Pittaluga hinwegsetzte: „Italiener aus Fiume! In der verrückten und niederträchtigen Welt ist Fiume heute das Zeichen der Freiheit; in der verrückten und niederträchtigen Welt gibt es nur eine Wahrheit: und das ist Fiume; es gibt nur eine Liebe: und das ist Fiume! Fiume ist wie ein leuchtender Leuchtturm, der inmitten eines Meeres der Niedertracht strahlt... Ich, Soldat, Freiwilliger, Kriegsversehrter, glaube, den Willen des gesunden italienischen Volkes zu interpretieren, indem ich die Annexion von Fiume verkünde“. Mit diesen Worten verkündete D'Annunzio den Anschluss Fiumes an Italien.
Die „Santa Entrata“ („heilige Einzug“) ist schon mal besiegelt, aber die staatsorganisations- und völkerrechtliche Frage bedarf noch tiefgreifender Klärungen. Der poetische Kriegsheld hat nun seinen friedlichen Putsch vollbracht. Englische und französische Militärs halten sich heraus, um Eskalationen zu vermeiden. Die italienische Regierung unter Premierminister Nitti übernimmt in dieser Angelegenheit und lehnt aber dieses Unternehmen strikt ab. General Pietro Badoglio wird als „commissario starodiniario“ beauftragt, um in Venetien-Giulia die Rebellion zu beenden. Badoglios Ultimatum und seine Aufforderung an die Besatzer, in ihre Reihen zurückzukehren und bei Widersetzung, sie vor dem Militärgericht als Deserteure den Prozess zu machen, leistete der „Comandante“ und seine Entourage, die mittlerweile eine Zahl von bis zu 9.000 Einheiten erreichte, keine Gefolgschaft.

Dies veranlasste die italienische Regierung dazu, ein Embargo zu erlassen. Der poetische Soldat verurteilt die Blockade als „Schande“, beleidigt den verhassten Premierminister Nitti in Trentiner-Dialekt als „cagoja“ („Schnecke“, figurativ „Feigling“) und beschuldigt ihn, „Kinder und Frauen verhungern zu lassen“. D'Annunzio sieht sich in die Ecke getrieben – und muss handeln: am 16. September adressierte er an den „mio caro Mussolini“ einen kontroversen Brief, worin er ihn für die mangelnde finanzielle Unterstützung mit den Worten kritisiert: „Ich habe hier alle Soldaten, alle Soldaten in Uniform, von allen Waffengattungen. Es ist ein normales Geschäft. Und ihr helft uns nicht einmal mit Spenden. [...] Gibt es wirklich keine Hoffnung? Und eure Versprechen?“. [...] Andernfalls werde ich kommen, wenn ich hier meine Macht gefestigt habe. Aber ich werde dir nicht ins Gesicht sehen.“ Mussolini organisiert zügig das Geld aus Italien in Höhe von fast drei Millionen Lire, da er für sich ebenfalls Kapital ausschlagen will, indem er den Brief vom „Vate“ und hochdekorierten Kriegsheld zu seinen Gunsten frisiert und diesen in seiner Zeitung „Il Popolo d’Italia“ publiziert.

Foto:
Zeichnung:
Gerd Kehrer - MEMORANDUM - 4/6
Zu den Kriegen sowie der Zerstörung der Umwelt im 21. Jahrhundert.
Kohle und Tusche auf Karton, 30 x 30 cm. (C) 2021 Gerd Kehrer

Info:
Zweitveröffentlichung vom 31. März 2024
Die bisherige Serie
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