Bildschirmfoto 2019 09 01 um 07.50.19Ein Brief gegen den Krieg rettete mir nach dem Krieg das Leben

Kurt Nelhiebel

Bremen (Weltexpresso) - Heiß wie im Hochsommer brennt die Sonne von einem wolkenlosen Himmel. Vor wenigen Stunden ist der zweite Weltkrieg, der heute am 1. September vor 80 Jahren durch den Überfall auf Polen begann,  zu Ende gegangen und ich bin auf dem Weg zurück in meine Heimat.

Vor ein paar Tagen war ich in Berlin in sowjetische Gefangenschaft geraten, hatte aber fliehen können, bevor ich eines Morgens bei Treuenbrietzen abermals Rotarmisten in die Hände fiel. Sie redeten lachend auf mich ein und riefen immer wieder „Vojna kaput“, der Krieg ist vorbei. In der Nacht hatte Nazideutschland kapituliert  Die Soldaten banden mir einen Fetzen weißen Stoffs um den linken Arm und ließen mich ziehen. Im Laufe des Tages entledigte ich meiner Uniformjacke und schlüpfte in eine Windbluse, die ich in einem Haufen weggeworfenen Kleidung entdeckt hatte

Ich wandere  durch eine vom Frühling verzauberte Landschaft, vorbei an ausgebrannten Fahrzeugen im Straßengraben und Toten mit grauen Gesichtern. Als müsste ich bei diesem Anblick meines eigenen Lebens vergewissern, greife ich nach den Briefen meines Vaters in der linken Brusttasche. Aber dort ist nichts. Ich hatte die Briefe in der weggeworfenen Jacke vergessen, lief zurück und fand die Jacke auch wieder. Bis auf einen Brief, der ins Futter gerutscht war, fand ich allerdings nichts mehr vor. Sorgfältig verstaute ich den nun einzigen Brief in der Windbluse.

Nach mehrtätigem Fußmarsch erreiche ich die Lausitz, wo mir auf einem Waldweg Männer mit umgehängtem Gewehr aus einem Gebüsch entgegenspringen. Tschechische Partisanen, denke ich. Wortlos ziehen sie mir Jacke und Hemd über den Kopf und beäugen meine Achselhöhlen. Die suchen nach Ungeziefer, denke ich und mache eine entsprechende Bemerkung. Als Antwort bekomme ich einen Faustschlag ins Gesicht. So hatte ich mir die Rückkehr in mein Geburtsland nicht vorgestellt. Dass die Männer nach der Tätowierung suchten, die Angehörige der Waffen-SS in der Achselhöhle hatten, wusste ich damals nicht.

In der Nähe von Hohenelbe steige ich ohne Fahrkarte in einen Zug. Während des ersten Halts in Arnau  fordert mich eine Zivilstreife auf, auszusteigen. Ich werde in eine Schule gebracht, wo mich in einem dämmrigen Flur bewaffnete Männer in Zivilkleidung  umringen.

„Wo habt ihr den aufgegabelt?“ werden meine Bewacher gefragt.  „Gleich umlegen!”  „Das ist meine Sache“, ruft einer. Die Männer denken anscheinend, dass ich sie nicht verstehe, aber ich verstehe jedes Wort. Ich soll erschossen werden. Es geht nur noch darum, wer es macht. Meine Beine werden schwer wie Blei und mein Herz schlägt wild gegen die Rippen. Werden sie mir die Augen verbinden?

Vom Eingang her nähert sich ein Mann im hellen Staubmantel. „Was ist mit dem?”, fragt er.  Meine Bewacher schildern den Hergang. Dann sagt der Hinzugekommene auf Tschechisch zu mir:„Komm’ mit!” Ich folge ihm in eines der Klassenzimmer. Bevor die Tür hinter uns ins Schloss fällt, höre ich noch den Zuruf: „Keine langen Geschichten, Herr Kommandant.” Der Mann im Staubmantel zeigt auf die erste Bankreihe. Ich setze mich. Er spannt einen Bogen Papier in die Schreibmaschine auf dem Pult und fragt nach den Personalien. „Du Verräter“, zischt er mich an,“

Vor Aufregung komme ich nicht auf den Gedanken, ihm zu sagen, dass mein Vater  Nazigegner ist. Auch an den Brief in meiner Brusttasche denke ich nicht. Da reißt der Mann  den Bogen Papier aus der Maschine und wirft ihn zerknüllt auf den Boden. “Komm’ mit“, sagt er, und bringt mich zum Ausgang.

Der macht es jetzt selbst, denke ich. Draußen regnet es. Zum ersten Mal seit Wochen öffnet der Himmel seine Schleusen. Wir überqueren die Straße. Der Mann klopft an eine Tür und schiebt mich in einen düsteren Raum mit dicken Balken unter der Decke. An einem Tisch sitzen drei Männer in dunkelblauen Uniformen beim Kartenspiel. Einer von ihnen unterzieht mich auf  Geheiß des Mannes im hellen Staubmantel einer Leibesvisitation.  „Waffen?” Der Gendarm verneint. Anschließend tastet mich der Kommandant in Zivil selbst noch einmal ab und zieht mit spitzen Fingern den Brief meines Vaters aus der Jacke.

Eine steile Falte zuckt über seine Stirn. Er setzt sich auf  eine Tischkante und liest den Brief laut vor. Gespannt blicke ich in sein Gesicht – es ist  ein gut geschnittenes Gesicht mit einem Menjoubärtchen auf der Oberlippe. Jetzt kommt er an die Stelle, die ich rot angestrichen habe. „Die Entscheidung muss bald fallen, soll denn unsere Jugend völlig verbluten?  Wann wird das Volk endlich von der Kriegsfurie erlöst?”

Mit zusammengezogenen Augenbrauen tritt der Mann ganz dicht an mich heran und sagt mit gepresster Stimme in gebrochenem Deutsch: „Dieser Brief hat Dir das Leben gerettet.” Dann wendet er sich ab und befiehlt einem der Gendarmen, mir einen Passierschein für freies Geleit auszustellen. Als die Schreibmaschine zu klappern beginnt, verlässt der Mann im hellen Staubmantel grußlos den Raum. Ich darf gehen. Auf der Straße löst sich meine Anspannung. Tränen treten mir in die Augen, rinnen vereint mit den Regentropfen über meinen Wangen. Unbewusst greife ich  an die Brusttasche, in der neben dem Brief meines Vaters der Passierschein knistert.

*    *     *      *

Nach der Wende im Osten  habe ich über die tschechische Botschaft in Bonn versucht, meinen Lebensretter ausfindig zu machen. Ich wollte mich bei ihm bedanken. Meine Bitte wurde nach Prag weiter geleitet. Am 20. Januar 1991 schrieb mir die Botschaft: „Sie werden wohl Verständnis dafür haben, dass in Hostinné (Arnau) die Suche nach Ihrem Retter auf Schwierigkeiten stoßen kann.“  Dabei ist es geblieben.


Foto:
Hitlers letzter öffentlicher Auftritt. Auszeichnung von Kindersoldaten.
Aus Chronik des Jahrhunderts