
Rüdiger Walter
Aalen (Weltexpresso) - Doch das Wüten der Wehrmacht in den Kriegsjahren 1941-45 war nicht die einzige Massenmord-Erfahrung der ukrainischen Bevölkerung im 20. Jahrhundert. Viele der ukrainischen Kriegsgefangenen, die in den deutschen Elendslagern dem Hungertod entgegen vegetierten, hatten das wenige Jahre zuvor schon einmal erlebt. Und sie brachten diese beiden Ereignisse unmittelbar miteinander in Verbindung, wie viele Überlebende später bezeugten.
In den Jahren 1932 und 1933, Adolf Hitler war noch nicht oder gerade erst an der Macht, verhungerten rund 4 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer, ein Zehntel der Bevölkerung. Die, die elend verhungerten, waren großteils ukrainische Bauernfamilien, sie verhungerten auf den ertragreichsten Böden Europas. Im ukrainischen Gedächtnis hat dieser Massenmord einen Namen: „Holodomor“.i
Die sowjetische ebenso wie die jetzige russische Propaganda wollte und will davon bis heute nichts wissen: Damals habe es eine „allgemeine Hungersnot“ gegeben, eine Laune der grausamen Natur. Die Natur kenne bekanntlich keine Schuldigen, sie sei eben, wie sie ist. Doch das ist schlicht ein Märchen. Diese Hungersnot war menschgemacht, sie richtete sich gegen eine definierte Menschengruppe, sie war bewusst und umsichtig ins Werk gesetzt, politisch gewollt und mit Gewehrläufen durchgesetzt.
Weite Teile Ukraines sind mit Schwarzerde bedeckt, den ertragreichsten Böden Europas. Sie erlauben zwei Getreideernten im Jahr. Doch die Kornkammer Europas zu sein, war in der gesamten ukrainischen Geschichte immer Segen und Fluch zugleich und weckte koloniale Begehrlichkeiten der umliegenden Mächte. Als gegen Ende des Ersten Weltkriegs aus den Trümmern der Imperien zahlreiche Nationalstaaten entstanden bzw. wieder entstanden – Ungarn, Polen, Tschechoslowakei, Jugoslawien – entstand auch ein eigenständiger Staat Ukraine. Doch die Existenz der Volksrepublik Ukraine war nur von kurzer Dauer. Für Lenin stand fest, dass die bolschewistische Revolution ohne Zugriff auf die ukrainischen Ressourcen nicht überlebensfähig sein würde: „Setzt um Gottes Willen alle Energie und alle revolutionären Maßnahmen ein, um Getreide, Getreide und nochmals Getreide zu schicken!!“, telegraphierte er 1919 seinen Statthalternii. Bolschewistische Truppen eroberten die junge Republik, wurden zurückgeschlagen, rückten erneut vor, Kyiv wechselte 1919 ein gutes Dutzend mal die Kriegsherren. Und inmitten des Chaos griffen überall Bauern zu den Waffen, die sich die Konfiszierung ihrer Ernte nicht gefallen lassen wollten. Erst 1922 war dann militärisch alles entschieden, doch die neuen Herren im Kreml hatten schmerzlich lernen müssen, dass sie es in Ukraine mit einer höchst eigenwilligen Bevölkerung zu tun hatten.
Was folgte, war eine Phase wirtschaftlicher und kultureller Liberalisierung, die sogenannte „Neue ökonomische Politik“. Die Bauern durften ihre Ernte selbst verkaufen und die Ukrainer genossen eine gewisse kulturelle Autonomie. Das nahm den Dampf aus dem Kessel und verbesserte die Versorgungssituation. Doch 1928 drehte sich der Wind. Stalin hatte seine Machtposition gefestigt und begann, die Landwirtschaft rigoros zu verstaatlichen. Unter den Anhängern des sowjetischen Sozialismus wird die sogenannte „Kollektivierung der Landwirtschaft“ bis heute als Fortschrittserzählung betrachtet, doch im Grunde stellte sie die Wiedereinführung der 1861 von Zar Alexander II. abgeschafften Leibeigenschaft dar – die Bauern wurden nun zu Leibeigenen des Staates. Übrigens wurde noch bis 1974, weit über Stalin hinaus, ukrainischen Bauern der Besitz von Pässen verwehrt, sie konnten ihre Dörfer nicht verlassen und ihre Kinder waren gezwungen, in der Kolchose zu arbeiten, sobald sie erwachsen wurden (3).
Diese Rückverwandlung freier Bauern in Leibeigene ließ sich nur mit äußerster Gewalt durchsetzen. Unrealistisch hohe Ablieferungsquoten wurden festgelegt, die dazu führten, dass vielen Bauern die gesamte Ernte einschließlich des Saatguts beschlagnahmt wurde. Wer die Abgabequoten im meteorologisch schlechten Erntejahr 1932 nicht erfüllen konnte, und das waren die meisten Bauern, wurde mit zusätzlichen Sanktionen belegt. Begleitet wurde das Aushungern der ukrainischen Bauernschaft von einer Hasskampagne, die allenfalls mit der antisemitischen Hetze der Nazis vergleichbar ist. Das von der Partei kultivierte Feindbild waren die „Kulaken“, die reichen Bauern als Sinnbild des Ausbeuters. Aber das war eine Schimäre, diese Bauern waren nicht reich, es gab keinen Großgrundbesitz mehr, es waren lauter Familienbetriebe. Zum „Kulak“ wurde schon, wer mehr als eine Kuh besaß, und letztlich, wer sich der Kollektivierung widersetzte. Abertausende landeten im Gulag. Die Partei propagierte die „Eliminierung der Kulaken als Klasse“ – doch eliminiert wurden Menschen. Zwei Denkfiguren halfen, die Barbarei ideologisch zu verbrämen: Da die Ernte dem Staat gehörte, musste, wer noch etwas zu essen hatte, es dem Staat gestohlen haben – wer überlebte, bewies damit, ein Dieb zu sein. Stalin fügte dem eine weitere Variante hinzu: Wer Hungers starb, diskreditierte den Sozialismus. Die, die starben, waren also Saboteure und Verräter, die somit auch nichts anderes als den Tod verdient hatten (4). Derart propagandistisch geimpfte Jugendbrigaden wurden von weither heran gekarrt. Zu ihnen gehörte der junge Lew Kopelew, der sich zeitlebens für seine damalige Mittäterschaft schämte. Sie durchkämmten die Dörfer und Häuser nach Essbarem und rissen den Familien buchstäblich die Kochtöpfe vom Herd. Wo ein Schornstein rauchte, musste es noch etwas zu beschlagnahmen geben. Komsomolzen standen mit Gewehren im Anschlag bereit, die wenigen Felder, auf denen noch etwas wuchs, vor den Verhungernden zu schützen.
Der Hungertod ist ein elendes Martyrium. Der Körper verbrennt seine letzten Reserven, und dann sich selbst. Entsetzliche Szenen spielten sich, millionenfach multipliziert, im Winter und Frühjahr 1933 ab: Kleine Kinder, die sich die dürren Ärmchen blutig bissen, Mütter, die ihren Kindern einschärften, sie nach ihrem Tod aufzuessen, Eltern, die flehentlich Reisenden an den Fenstern der Zugabteils ihre Kinder entgegenstreckten, die Straßenränder voller ausgemergelter Leichen. Schließlich war niemand mehr da, um die Verhungerten zu begraben, ganze Landstriche waren entvölkert.
Die nachfolgenden Ernten fielen weit hinter die der Vorjahre zurück. Es fehlte an Saatgut, wo es welches gab, wurde es zu spät ausgebracht, es fehlte an Bauern, die massenhaft neu Angesiedelten waren unerfahren und kamen mit den Gegebenheiten nicht zurecht. Landmaschinen waren kaum verfügbar oder defekt. Aber darum ging es nicht. Die potentiell rebellische ukrainische Bauernschaft war dezimiert, die auf Leibeigenschaft und der Zwangsarbeit im Gulag basierende sozialistische Fortschrittsgeschichte gewaltsamer Industrialisierung hatte endlich freie Bahn. Während der gesamten gesteuerten Hungersnot exportierte die Sowjetunion weiterhin in großem Stil Weizen, um Devisen für dem Import von Industriegütern zu erwirtschaften. Das volle Ausmaß des Holodomor sowie der zur gleichen Zeit in Kasachstan ins Werk gesetzten „Sowjetisierung durch Hunger“ (5) zeigte sich erst bei der sowjetischen Volkszählung 1937. Die Ergebnisse waren so schockierend, dass das Zahlenwerk sogleich in den Tresoren des Kreml weggeschlossen wurde. Die Statistiker, die es erarbeitet hatten, waren unversehens zu Trägern eines Staatsgeheimnisses geworden – Stalin ließ sie kurzerhand verhaften und erschießen (6).
Die Nationalsozialisten betrachteten den Holodomor voller Interesse. Er brachte sie auf neue Ideen. Als die Wehrmacht 1941 in der Sowjetunion einfiel, waren die Zukunftspläne längst ausgearbeitet. Der „Generalplan Ost“ sah den Hungertod von 30 Millionen Menschen vor und anschließend die deutsche Besiedelung des derart aufbereiteten „Lebensraums“. Das System der leibeigenschaftlichen Kolchosen rührten die Deutschen nicht an, es fügte sich bestens in ihre Pläne. Der spätere Kriegsverlauf hat diese Massenmordplanung letztlich vereitelt.
Am 30. November 2022 bewertete die große Mehrheit der Abgeordneten des Deutschen Bundestages den Holodomor als Völkermord. Dem lag ein gemeinsamer Antrag der Fraktionen von CDU/CSU, SPD, Grünen und FDP zugrunde, ein bemerkenswert lesenswertes Dokument (7). Nur zwei Fraktionen verweigerten dem Antrag ihre Zustimmung: Die AfD und, Schulter an Schulter mit ihr, die Partei Die LINKE (8).
(1) Anne Applebaum: Roter Hunger: Stalins Krieg gegen die Ukraine, München, 2019;
Timothy Snyder: Bloodlands: Europa zwischen Hitler und Stalin, München 2011, S. 43ff;
Serhii Plokhy: Das Tor Europas: Die Geschichte der Ukraine, Hamburg 2022, S. 347ff;
Yaroslav Hrytsak: Ukraine: Biographie einer bedrängten Nation, München 2024, S. 264ff;
Vitalii Ogiienko (ed): The Holodomor and the Origins of the Soviet Man: Reading the Testimony of Anastasia Lysyvets, Stuttgart, 2022;
Timothy Snyder: The Making of Modern Ukraine. Class 15. Ukrainization, Famine, Terror: 1920s-1930s: https://www.youtube.com/watch?v=1dy7Mrqy1AY
(2) Applebaum, Roter Hunger, S. 44
(3) Hrytsak: Ukraine, S. 369
(4) Timothy Snyder: The Holodomor - A Look Back at Stalin’s 1932-33 Genocide in Ukraine https://www.youtube.com/watch?v=wVkM44gym1c, dort ab 28:10
(5) Hierzu Robert Kindler: Stalins Nomaden: Herrschaft und Hunger in Kasachstan, Hamburg 2014
(6) Applebaum, Roter Hunger, S. 373ff; Karl Schlögel: Terror und Traum – Moskau 1937, München 2008, 2022, S.153ff.
(7) https://dserver.bundestag.de/btd/20/046/2004681.pdf
(8) https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2022/kw48-de-holodomor-923060
Foto:
©Deutschlandfunk
Info:
Die Artikel folgen der Veranstaltung zum Holocaust-Gedenktag am 27. 1. 2025 in der Stadtkirche Aalen
Video-Aufzeichnung: https://www.youtube.com/watch?v=gX_iyBeUyKY
Leseempfehlungen
Zur Gewaltgeschichte Osteuropas:
Timothy Snyder: Bloodlands
Europa zwischen Hitler und Stalin C.H.Beck, 34.- €
Zum Holodomor:
Anne Applebaum: Roter Hunger
Stalins Krieg gegen die Ukraine Siedler, 39.- €
Zur Geschichte Ukraines:
Serhii Plokhy: Das Tor Europas
Die Geschichte der Ukraine Hoffmann und Campe, 30.- €
Yaroslav Hrytsak: Ukraine
Biographie einer bedrängten Nation C.H.Beck, 34.- €
Literarische Annäherungen:
Francesca Melandri: Kalte Füße
Wagenbach, 24.- €
Andrej Kurkow: Im täglichen Krieg
Haymon, 22.90 €
Namen und Schreibweisen
Dieser Text weicht in zweierlei Hinsicht vom allgemeinen Sprachgebrauch ab:
- Ukrainische Orte werden mit ihren ukrainischen Namen bezeichnet. Die in der deutschen Sprache gebräuchlichen Ortsnamen sind nahezu durchgängig Transkriptionen der russischen Bezeichnungen: Die Hauptstadt Ukraines heißt „Kyiv“ (oder „Kyjiv“). „Kiew“ ist die Transkription des russischen Namens der Stadt. Odesa etwa wird im Ukrainischen mit einem „s“ geschrieben, das Doppel-S entspricht der russischen Schreibweise. Chernobyl heißt eigentlich Chornobyl, der Dnjepr Dnipro. Im deutschen Sprachgebrauch spiegelt sich also unreflektiert der Blickwinkel der Kolonialmacht wider.
- Das Land wird als „Ukraine“ bezeichnet und nicht als „DIE Ukraine“. Der im Deutschen gebräuchliche Artikel verweist ebenfalls auf eine koloniale Sichtweise: Sie nimmt nicht ein politisches und gesellschaftliches Gemeinwesen, eine Nation, in den Blick, sondern vielmehr ein Territorium. Weitergedacht: Ein Territorium, das in irgendjemandes Besitz ist, eine Art Niemandsland, eine Kornkammer, bereit für den Eroberer. So haben das die Zaren gesehen, die Bolschewiki und auch die Nazis. Auch diese mentale Erbschaft gilt es sich bewusst zu machen - und auszuschlagen.
Anmerkung der Redaktion: Die berühmte polnische Regisseurin Agnieszka Holland hat auf der Berlinale 2019 im Wettbewerb ihren Film Red Secrets – Im Fadenkreuz Stalins (Mr. Jones) gezeigt, in dem der britische Reporter Jones in die Ukraine fährt und fassungslos die Hungersnot erlebt, Artikel schreibt, die veröffentlicht werden, aber keiner, erst recht nicht Churchill ihm glaubt. Der Film zeigt das Elend und seine Entstehung, aber wurde bei den Filmfestspielen nicht weiter beachtet und lief wohl auch nicht in den deutschen Kinos.
Bisherige Artikel der Serie:
https://weltexpresso.de/index.php/zeitgesehen/33981-kriegsmuede
https://weltexpresso.de/index.php/zeitgesehen/33967-jahidne
https://weltexpresso.de/index.php/zeitgesehen/33968-blutige-erde
https://weltexpresso.de/index.php/zeitgesehen/33969-holodomor