wittekindSerie: DIE KRIMIBESTENLISTE im MAI 2021,  Teil 3

Elisabeth Römer

Hamburg (Weltexpresso) – Ach herrje! Vier alte weiße Männer rudern zwei Mal die Woche auf der Elbe, im Vierer ohne Steuermann, der 1931 in Dresden gebaut wurde; sie leben in Zizzwitz, einem Weiler nahe Dresden. Sie sind wirklich alt, alle aus dem Beruf ausgeschieden, von einem ist die Frau verstorben. Sie werden in Norwegen Urlaub machen und drei ihre Frauen mitnehmen. Wie schön. Das ist wirklich das Letzte, was mich interessiert. Und wie es Matthias Wittekindt dann gelingt, eine so unwillige Leserin wie mich in Bann zu schlagen, das ist schon hohe Schreibkunst.

Und daß ihm das gelang, mußte ich feststellen, da ich nach dem Lesen von knapp der Hälfte der 310 Seiten dann tatsächlich von diesem Fall träumte, die potentiell Verdächtigen im Traum durchging und mich wunderte, weshalb ein für mich Verdächtiger überhaupt keine Rolle spielte. Das ist doch allerhand und mir noch bei keinem Kriminalroman passiert! Also las ich nächsten Tages noch stärker interessiert weiter. Daß es überhaupt zu dieser Anteilnahme gekommen ist, stellt der Autor mit Hilfe eines Tricks her. Dieser Trick macht gleichzeitig die ewigen Rückblenden zu etwas absolut Notwendigem. Manz ist nämlich als Kriminaldirektor aus dem Dienst in Dresden ausgeschieden, aber damals als Kriminalhauptkommissar aus Berlin hierher versetzt worden. Und nun bekommt er einen Brief vom Berliner Gericht, daß ein Mord, von dessen Klärung er durch seine Versetzung Ende 1990 abgezogen wurde, und der nie zu einem Täter führte, nun endlich durch alte DNA-Spuren den Mörder belasteten, der deshalb nun dreißig Jahre später vor Gericht kommt, wo Manz nun als Zeuge aussagen soll.

Manz muß sich also erinnern, aber er erinnert sich einfach nicht! Was tun? Er ruft den damaligen Polizeifotografen an, mit dem er sich befreundet hatte – und nicht nur er, denn dessen Frau spielt im Roman eine große Rolle, ist aber für die Mordaufklärung hier nicht relevant – und der ein Freund geblieben ist, sogar mitkommt nach Norwegen und bittet ihn um die Akten des Falls. Der ist beruflich inzwischen aufgestiegen und stellt sich zögerlich an, denn das darf er eigentlich nicht, Akten weitergeben, aber Manz ist durchsetzungsfähig und bekommt ein dickes Bündel Fotokopien. Der Trick ist nun, daß der Autor damit eine Situation schafft, wo die Rückblenden durch das Lesen der Papiere einfach sachlogisch notwendig werden und wir mit Manz uns die damalige Ermittlungsergebnisse vergegenwärtigen. Nur Manz schiebt ab und zu ein: „Ach ja, jetzt fällt es mir wieder ein.“ Wir natürlich nicht. Das ist durchaus witzig gemacht.

Die Sache selbst ist ganz und gar nicht witzig, wie es Morde und Mörder so an sich haben. Es war kurz vor Weihnachten 1990, als eine gewisse Regina Zeisig, rund 60 Jahre, im Berliner Ortsteil Buckow (ist das nicht der Ort der Ballade von der Süßkirschenzeit, eins der frühen Lieder von Wolf Biermann, Hamburger wie ich, auf seiner ersten Platte mit Wolfgang Neuss zu hören), also als diese Frau erwürgt wurde. Wir werden nun mit und durch Manz Zeuge seiner damaligen beruflichen Unfähigkeit, die durchaus auch private Gründe hatte. Er hatte mit seiner Kollegin eine kurzzeitige Liebesbeziehung, wobei Liebe wohl zu hoch gegriffen ist, aber das Wort Affäre schon passend ist. Das war zur Mordzeit schon beendet, die Zusammenarbeit ging weiter, aber seine Kollegin Vera hing erst durch und starb schnell an ihrer Krebserkrankung, von der er keine Ahnung hatte.

Klar, daß hier mehr aufzuklären ist als der Mord. Wie Manz das macht, dem der Autor den Griffel schwingt, ist allerhand, führt es doch dazu, daß die Mordermittlung immer stärker gekoppelt wird mit der niederschmetternden Feststellung, wie sich Manz damals durch Weggang doppelt aus der Affäre zog. Und das Schlimmste, wie er das alles so viele Jahre verdrängt hatte. Angenehm ist das persönliche Aufarbeiten nie, aber hilfreich am Ende nach vielen seelischen Schmerzen doch!

FORTSETZUNG FOLGT


DIE KRIMIBESTENLISTE IM MAI 2021

1 (-) David Peace: „Tokio, neue Stadt“
Aus dem Englischen von Peter Torberg
Liebeskind, München 2021
432 Seiten, 24 Euro
Tokio 1949, 1964, 1988. Rätsel bis heute: Wie kam Shimoyama, Präsident der Nationalen Eisenbahngesellschaft, unter den Zug? Sie zerbrechen daran: Spione, Detektive, Schriftsteller. Neu sind nur die Machtverhältnisse. Alt ist die Macht, undurchschaubar. Sprachgewaltig, Totenklage aus dem Diesseits.


2 (8) Simone Buchholz: „River Clyde“
Suhrkamp, Berlin 2021
230 Seiten, 15,95 Euro
Hamburg, Glasgow. Disruption allerorten. Chastity nimmt bei ihren schottischen Ahnen eine Auszeit von der Strafjustiz, ihre verlassenen Kumpels von der Polizei reden sich mit Vornamen an und üben Achtsamkeit in der „Blauen Nacht“. Trauer. Hamburger Immobilienhaie sind dagegen winzige Fischlein.


3 (-) Colin Niel: „Nur die Tiere“
Aus dem Französischen von Anne Thomas
Lenos, Basel 2021
286 Seiten, 22 Euro
Massif Central, Côte d‘Ivoire. Verschwunden: die freizügige Frau eines wohlhabenden Mannes. Ein Schafzüchter findet zeitweilig bei ihr großes Glück. Der Mörder ist verknallt in die Fiktion einer Geliebten. Ein armer Mann macht Euros im Netz. Globalisierung: Sehnsucht ist Einsamkeit. Noir vom Land.


4 (3) Matthias Wittekindt: „Vor Gericht“
Kampa, Zürich 2021
318 Seiten, 19,90 Euro
Dresden, Berlin. Kriminaldirektor a. D. Manz ist recht zufrieden mit sich und seinem Ruhestand, bis er noch einmal zu einem 30 Jahre zurückliegenden Fall aussagen soll. Ein Revisionsverfahren: Fast alles, was Manz für sicher und fest gehalten hatte, beginnt zu bröckeln. Seine Ehe, der Fall, die Gewissheit.


5 (2) S. A. Cosby: „Blacktop Wasteland“
Aus dem Englischen von Jürgen Bürger
Ars Vivendi, Cadolzburg 2021
320 Seiten, 22 Euro
Virginia: Schulden, Arztrechnungen, Billigkonkurrenz – Beauregard Montages Perspektiven verengen sich. Dabei will er nur gut zu Frau und Kindern sein und Duster fahren. Als schnelles Geld winkt, fackelt er nicht lange, hat aber seine Rechnung ohne die Partner gemacht. Letzter Ausweg: Gewalt.


6 (-) Louisa Luna: „Tote ohne Namen“
Aus dem Englischen von Andrea O‘Brien
Suhrkamp, Berlin 2021
444 Seiten, 15,95 Euro
Louisa Luna: „Tote ohne Namen“ (Deutschlandradio / Suhrkamp)n Diego. Zwei blutjunge Latinas aufgeschlitzt. Das Police Department engagiert Alice Vega samt Partner, nicht zur reinen Freude der Kollegen von der DEA. Die wollen die Tunnel aus Mexiko selbst kontrollieren, durch die die Mädchen kommen. Im Showdown tut sich Unerwartetes auf.


7 (1) Merle Kröger: „Die Experten“
Suhrkamp, Berlin 2021
688 Seiten, 20 Euro
Kairo in den1960er-Jahren: Rita Hellberg, 17, ist mit ihrem Vater, einem Flugzeugingenieur bei Hitler und nun auch beim ägyptischen Präsidenten Nasser, und ihrer neurotischen Mutter unter die „Experten“ geraten, einer Gruppe von Ingenieuren und Wissenschaftlern, die für Ägypten Raketen und Flugzeuge bauen soll. Erste Liebe, Orient, Nazis, Anschläge, im Hintergrund die BRD und Israel. Geschichte stört Gegenwart.


8 (10) James McBride: „Der heilige King Kong“
Aus dem Amerikanischen von Werner Löcher-Lawrence
btb, München 2021
448 Seiten, 22 Euro
Brooklyn 1969: Diakon Cuffy, den alle nur Sportcoat nennen, ist ein Kind Gottes, ein versoffenes. Seit Jahren nährt er sich von selbstgebranntem „King Kong“, überlebt alles, und schießt auf den 19-jährigen Dealer Deems, natürlich vorbei. Das löst allerhand aus, vor allem das wundersame Fabulieren McBrides.


9 (6) Patrícia Melo: „Gestapelte Frauen“
Aus dem Portugiesischen von Barbara Mesquita
Unionsverlag, Zürich 2021
252 Seiten, 22 Euro
Acre, West-Brasilien. Femicídio. Die namenlose Icherzählerin, Anwältin, erforscht die Urteilsfindung über Frauenmorde: zu viele, gestapelt in ihrem Notizbuch. Eine 14-jährige Indigene wird von drei Upperclass-Jungs vergewaltigt und zerstückelt. Mordermittlung, gellende Anklage, Rachefantasie. Femizid.


10 (-) „Kate Atkinson: Weiter Himmel“
Aus dem Englischen von Anette Gruber
Dumont, Köln 2021
476 Seiten, 24 Euro
Yorkshire, Küste. Vier Golffreunde, drei davon Gentlemen mit Vergangenheit und üblen Geschäften. Dazu die Frauen: Mitwisserinnen, Aufgestiegene, brave Mütter – nordenglischer Mittelstand und seine Finsternisse. Dazwischen – immer noch clever – Privatdetektiv Jackson Brodie, leiser Held großer Romane.


Die Krimibestenliste, wo kann man sie lesen, wer erstellt sie, wo wird sie veröffentlicht?

WO? außerhalb von WELTEXPRESSO?
Die Krimibestenliste auf Deutschlandfunk Kultur
www.deutschlandfunkkultur.de

Die Krimibestenliste erscheint  nicht mehr am ersten Sonntag des Monats in der Printausgabe: www.faz.net !!! Die zukünftigen Krimibestenlisten  2021 sind allerdings noch nicht einmal  online  für die FAS verfügbar. In der Vergangenheit veröffentlichte die FAS, die Sonntagszeitung der FAZ, an jedem ersten Sonntag im Monat die jeweilige Liste im Feuilletonteil. Noch einmal im Klartext: Leider gibt es die Liste ab 2021  noch nicht einmal  im FAZ-Internet. Ob die FAZ und FAS wissen, welche Einbuße sie damit bei Krimilesern erfahren? Da muß man froh sein, daß der Deutschlandfunk Kultur die Kriminalromane als anspruchsvolles Genre noch nicht aufgegeben hat, sondern weiterhin jeden ersten Freitag im Monat die neue Liste bringt, die wir sobald wir können, nachveröffentlichen.

An jedem ersten Freitag des Monats geben also 18 Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Die Krimibestenliste war zuvor eine Kooperation der Frankfurter Allgemeinen mit Deutschlandfunk Kultur, der Sender, der nun die Krimibestenliste alleine veröffentlicht und trägt. Das wäre schon für die Regierungskoalition in Sachsen-Anhalt ein wichtiges Argument, den Rundfunkgebühren zuzustimmen.


Die Jury:

Tobias Gohlis, Sprecher der Jury
Volker Albers, „Hamburger Abendblatt“
Andreas Ammer, „Druckfrisch“, ARD
Gunter Blank, „Rolling Stone“
Thekla Dannenberg, „Perlentaucher“
Hanspeter Eggenberger, „Tages-Anzeiger“
Fritz Göttler, „Süddeutsche Zeitung“
Jutta Günther, „Radio Bremen Zwei“
Sonja Hartl, „Zeilenkino“, „Crimemag“, „Deutschlandfunk Kultur“
Hannes Hintermeier, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“
Alf Mayer, „CulturMag“, „Strandgut“
Kolja Mensing, „Deutschlandfunk Kultur“
Marcus Müntefering, „Der Spiegel“
Ulrich Noller, „Deutschlandfunk Kultur“, „Deutschlandfunk“, „SWR“, „WDR“
Frank Rumpel, „SWR“
Ingeborg Sperl, „Der Standard“
Sylvia Staude, „Frankfurter Rundschau“
Jochen Vogt, „NRZ“, „WAZ“

Wie funktioniert die Abstimmung?

Die Krimibestenliste wird im Auftrag von Deutschlandfunk Kultur durch eine Jury aus Kritikerinnen und Kritikern erstellt.
Es sind die obigen 19 Spezialistinnen und Spezialisten für Kriminalliteratur aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, die aus der laufenden Produktion monatlich jeweils vier Titel vorschlagen, die sie mit sieben, fünf, drei oder einem Punkt bewerten.
Der so gefundene Punktwert pro Titel wird mit der Zahl der für ihn abgegebenen Stimmen multipliziert. Daraus wird die monatliche Liste berechnet.
Jedes Jurymitglied darf insgesamt drei Mal für denselben Titel votieren. Voten für Titel, an deren Entstehung oder Vorbereitung man beteiligt war, sind verboten.
Die Titel dürfen nicht älter als zwölf Monate und keine Wiederauflagen, Sammelbände oder Anthologien sein. Unterschiede zwischen Hardcover, Paperback und Taschenbuch werden nicht gemacht.
Im Durchschnitt kommen fünf Titel neu auf die monatliche Liste. Die Ziffer in Klammern gibt den Rang des Vormonats an.

Foto:
Cover

Info:
Rezensionen der Vormonate

Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im Februar 2021
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21208-tim-macgabhanns-der-erste-tote-von-suhrkamp-auf-platz-1
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21211-tim-macgabhanns-der-erste-tote-von-suhrkamp-auf-platz-2
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21226-dark-von-candice-fox-aus-dem-suhrkamp-verlag-auf-platz-7
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21248-westwind-von-samantha-harvey-im-atrium-verlag-auf-platz-3
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21249-boeses-blut-von-robert-galbraith-verlag-blanvalet-auf-dem-achten-rang
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21280-der-tschechische-thriller-die-residentur-trotz-qualitaet-und-aktualitaet-herausgefallen
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21256-das-grosse-aufraeumen-von-david-wish-wilson-suhrkamp-auf-platz


Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im März 2021
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21466-die-experten-von-merle-kroeger-bei-suhrkamp-auf-platz-1
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21465-mim-visier-des-snipers-von-stephen-hunter-festa-verlag-leider-verschwunden
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21464-verweigerung-von-graham-moore-eichborn-verlag-auf-platz-6
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21483-speziell-zum-weltfrauentag-gestapelte-frauen-von-patricia-melo-auf-platz-3

Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im April 2021
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21737-unter-den-auf-der-liste-verschwundenen-auch-der-solist-von-jan-seghers
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21748-frederick-forsyth-die-akte-odessa-piper-verlag
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21764-merle-kroegers-die-experten-weiterhin-auf-platz-1
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21801-die-sechs-neuen-krimis-auf-der-liste
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21802-tom-hillenbrand-montecrypto-bei-kiwi-neu-auf-platz-4
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21825-simone-buchholz-mit-river-clyde-auf-platz
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21839-die-zwei-schwestern-von-chan-ho-kei-auf-platz-9
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21851-blacktop-wasteland-von-s-a-cosby-auf-platz


Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im Mai 2021
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/22067-david-peace-tokio-neue-stadt-von-liebeskind-auf-platz-1
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/22216-verabschiedung-der-vier-ausgeschiedenen-wie-orkun-ertener
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/22235-vor-gericht-von-matthias-wittekindt-auf-platz-4
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