Serie: DIE KRIMIBESTENLISTE im April 2021, Teil 1
Elisabeth Römer
Hamburg (Weltexpresso) – Das ist jedes Mal das Spannende an der neuen Liste: wer ist noch dabei und wer ist seit dem letzten Monat verschwunden - und dies zurecht, weil viele Monate benannt oder ganz schnell wieder weg, wie DER SOLIST von Jan Seghers.
Deshalb erst einmal der Überblick. Das neue Jahr hatte große Umwälzungen auf der Krimibestenliste mit sich gebracht: Neu ist gut, heißt das Motto. Nachdem im Januar gleich sieben (!) Krimis neu auf die Liste kamen, waren es im Februar vier, im März dann wieder fünf und jetzt schon wieder sechs neue Kriminalromane.
Während im Januar und Februar kein einziger deutscher Autor dabei war, ja, auch keine Autorin, was wir massiv monierten, ja, es ist ein Skandal, sind es jetzt im April fünf!!! Warum uns das wichtig ist, ist sehr einsichtig. Kriminalromane haben viele Funktionen für Leser. Immer aber bedeuten sie auch, das unterschwellige, das geheime Leben der jeweiligen Gesellschaft an ihren Rändern zu durchleuchten, also mehr mitzubekommen als ein Hochglanzpapier, eine Rundreise oder auch ein sehr guter Reiseführer es können. Und warum sollte das nur für die USA, die bevorzugte literarische Landschaft für die Krimibestenliste, gelten? Wir finden gerade die Gegensätze interessant: auf der einen Seite andere Länder, andere Sitten und die gleichen Verbrechen erlesen zu können, und auf der anderen Seite unser eigenes Land von einer Seite kennenzulernen, über die man meist nichts Genaues weiß, zwar ahnt und vermutet, aber in solcher Direktheit eben nicht kennt.
Das ist der Grund, warum wir im Januar und Februar massiv die Listen ohne einen einzigen deutschen Autor kritisierten, genauso wie die fast 100prozentige Anwesenheit von „aus dem Englischen“ auf der Liste. Das ist auf der Aprilliste jetzt fast paritätisch, es bleiben nur noch vier Übersetzungen aus dem Englischen, weil der knallharte und saugute Roman GESTAPELTE FRAUEN aus dem Unionsverlag von der brasilianischen Patricia Melo, neu seit März, aus dem Portugiesischen übersetzt ist. Gut so.
Gegenüber der Märzliste fällt auf, daß einerseits die seit Januar gelisteten Romane zweier Frauen: Robert Galbraith‘ (Pseudonym von K.J. Rowling) BÖSES BLUT bei Blanvalet und WESTWIND von Samantha Harvey von Atrium nicht mehr dabei sind – beide Bücher bleiben Empfehlungen! siehe untenstehenden Rezensionen – und VERWEIGERUNG von Graham Moore, bei Eichborn erschienen, sowie Doug Johnstones DER BRUCH, Polar Verlag, die seit Februar dabei waren. Das also kann man gut verstehen, daß neue Krimis alte verdrängen. Aber zwei, die gerade neu auf der Märzliste standen, sind im April wieder verschwunden.
Über Ottessa Moshfegh DER TOD IN IHREN HÄNDEN, Hanser Berlin, können wir nichts sagen. Da ist etwas schiefgelaufen mit dem Rezensionsexemplar. Aber das auch DER SOLIST von Jan Seghers, Suhrkamp Verlag, gleich wieder verschwunden ist, verwundert auf den ersten Blick, auf den zweiten nicht.
DER SOLIST von Jan Seghers
Dieser Krimi liest sich weg wie nichts! Zuerst ist man angenehm überrascht darüber, nicht erst lange in etwas eingeführt zu werden, sondern mit dem Solisten, das ist Neuhaus, im September 2017 unterwegs zu sein und auf dem Weg aus dem Hessischen nach Berlin gleich den Mann etwas kennenzulernen, der nicht nur ein Solist ist, sondern etwas von einem Autisten an sich hat. Ein Mutterproblem hat er auch, massiv dazu, aber es geht ja um den Krimiplot! Der ereilt ihn, als er direkt vor Berlin angehalten hatte und in seinen Kurzschlaf fiel. Neuhaus, der ohne Vornamen lebt und Wert darauf legt, daß er auch in persönlichen Gesprächen Neuhaus bleibt, ist nämlich aus Berlin von der SETA, der neu gegründeten Sondereinheit Terrorabwehr, als Experte aus Frankfurt angefordert worden. Auf unbestimmte Zeit, denn hier gibt es ein Problem.
Günstig, daß der Tote gefunden wird, als Neuhaus gerade vor Berlin steht und von Günther Jeschke, dem Leiter der SETA, direkt an den Ort des Mordes am Landwehrkanal – natürlich muß man bei Mord und Landwehrkanal immer an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht denken – befohlen wird.
Diesen Mord nun haben wir schon lange mitbekommen. Denn es gibt einen anonymen Anrufer, der einem gewaltbereiten Muslim namens Salah seine Anweisungen zum Morden gibt – und auch die Waffe, eine Pistole, die vor siebzehn Jahren nach einem Mord verschwunden war. Saleh, dessen Schönheit der Autor rühmt, ist mit dem Massenmörder Anis Amri befreundet gewesen und hat den Kontakt zum Islamischen Staat über den Messengerdienst Telegram mit „Ich war ein Freund von Anis. Ich lebe in Berlin. Ich will etwas machen“ gesucht und gefunden und wird mit genauen Mordinstruktionen auf Mordtour geschickt.
Noch ehe Neuhaus richtig angekommen ist und die SETA kennenlernt, ist er schon mittendrinnen, was ihm seine Kollegin, die noch sehr junge Deutschtürkin Suna-Marie erleichtert. Noch immer liest sich das alles leicht weg. Und doch stellen sich die ersten Zweifel ein. Irgendwie ist da nichts gebrochen. Neuhaus ist ein so auf seine Aufgabe fixierter ernsthafter Arbeiter und persönlich Gespaltener, wie wir sie aus etlichen Krimis kennen, und Suna-Marie mit ihrer warmherzigen türkischen Familie macht auf Neuhaus einen tiefen Eindruck in ihrer familienwarmen Eingebundenheit, der Familienliebe, die ihm fehlt. Das wird sehr ausgewalzt, während die weiteren Morde geschehen, die aber erst noch auf einen politischen Nenner zu bringen sind: nach dem ermordeten jüdischen Aktivisten, ist die nächste eine muslimische Anwältin...
Zu kurz dagegen kommen im Roman seine übrigen Kollegen, allen voran Günther Jsschke, der Einsatzleiter, die allesamt blaß und stereotyp bleiben, was ein Fehler ist, wenn man an die Auflösung denkt. Also, da hat man erst einmal einen richtig guten Eindruck von einem deutschen Krimi und dann findet man alles so was von vorhersehbar, konstruiert, ohne lebendige Menschen. Eigentlich ist man sogar ärgerlich, denn man hatte ja so gerne zu lesen angefangen und fühlt sich am Schluß düpiert, daß dieser Krimi nicht psychologisch interessant, sondern soziologisch vorhersehbar ausgeht.
DIE KRIMIBESTENLISTE IM APRIL 2021
Die Krimibestenliste, wo kann man sie lesen, wer erstellt sie, wo wird sie veröffentlicht?
WO? außerhalb von WELTEXPRESSO?
Die Krimibestenliste auf Deutschlandfunk Kultur
www.deutschlandfunkkultur.de
Die Krimibestenliste erscheint nicht mehr am ersten Sonntag des Monats in der Printausgabe: www.faz.net !!! Die zukünftigen Krimibestenlisten 2021 sind allerdings noch nicht einmal online verfügbar. In der Vergangenheit veröffentlichte die FAS, die Sonntagszeitung der FAZ, an jedem ersten Sonntag im Monat die jeweilige Liste im Feuilletonteil. Noch einmal im Klartext: Leider gibt es die Liste ab 2021 noch nicht einmal im FAZ-Internet. Ob die FAZ und FAS wissen, welche Einbuße sie damit bei Krimilesern erfahren? Da muß man froh sein, daß der Deutschlandfunk Kultur die Kriminalromane als anspruchsvolles Genre noch nicht aufgegeben hat, sondern weiterhin jeden ersten Freitag im Monat die neue Liste bringt, die wir sobald wir können, nachveröffentlichen.
An jedem ersten Freitag des Monats geben also 18 Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Die Krimibestenliste war zuvor eine Kooperation der Frankfurter Allgemeinen mit Deutschlandfunk Kultur, der Sender, der nun die Krimibestenliste alleine veröffentlicht und trägt. Das wäre schon für die Regierungskoalition in Sachsen-Anhalt ein wichtiges Argument, den Rundfunkgebühren zuzustimmen.
Die Jury:
Tobias Gohlis, Sprecher der Jury
Volker Albers, „Hamburger Abendblatt“
Andreas Ammer, „Druckfrisch“, ARD
Gunter Blank, „Rolling Stone“
Thekla Dannenberg, „Perlentaucher“
Hanspeter Eggenberger, „Tages-Anzeiger“
Fritz Göttler, „Süddeutsche Zeitung“
Jutta Günther, „Radio Bremen Zwei“
Sonja Hartl, „Zeilenkino“, „Crimemag“, „Deutschlandfunk Kultur“
Hannes Hintermeier, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“
Alf Mayer, „CulturMag“, „Strandgut“
Kolja Mensing, „Deutschlandfunk Kultur“
Marcus Müntefering, „Der Spiegel“
Ulrich Noller, „Deutschlandfunk Kultur“, „Deutschlandfunk“, „SWR“, „WDR“
Frank Rumpel, „SWR“
Ingeborg Sperl, „Der Standard“
Sylvia Staude, „Frankfurter Rundschau“
Jochen Vogt, „NRZ“, „WAZ“
Wie funktioniert die Abstimmung?
Die Krimibestenliste wird im Auftrag von Deutschlandfunk Kultur durch eine Jury aus Kritikerinnen und Kritikern erstellt.
Es sind die obigen 19 Spezialistinnen und Spezialisten für Kriminalliteratur aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, die aus der laufenden Produktion monatlich jeweils vier Titel vorschlagen, die sie mit sieben, fünf, drei oder einem Punkt bewerten.
Der so gefundene Punktwert pro Titel wird mit der Zahl der für ihn abgegebenen Stimmen multipliziert. Daraus wird die monatliche Liste berechnet.
Jedes Jurymitglied darf insgesamt drei Mal für denselben Titel votieren. Voten für Titel, an deren Entstehung oder Vorbereitung man beteiligt war, sind verboten.
Die Titel dürfen nicht älter als zwölf Monate und keine Wiederauflagen, Sammelbände oder Anthologien sein. Unterschiede zwischen Hardcover, Paperback und Taschenbuch werden nicht gemacht.
Im Durchschnitt kommen fünf Titel neu auf die monatliche Liste. Die Ziffer in Klammern gibt den Rang des Vormonats an.
Foto:
Cover
Info:
Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im Dezember 2020
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20678-goetter-und-tiere-von-denise-mina-von-ariadne-weiterhin-auf-platz-
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20679-platz-6-eric-plamondon-mit-taqawan-aus-dem-lenos-verlag
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20680-platz-1-denise-mina-goetter-und-tiere-ariadne-im-argument-verlag
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20735-die-guten-krimis-von-gestern-annas-rendon-steph-cha-u-a
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20733-real-tigers-von-mick-herron-von-diogenes-auf-platz-4
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20894-platz-9-und-10-ungewoehnliche-amerikanische-verbrecher-damals-1919-und-heute
Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im Januar 2021
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20958-dark-von-candice-fox-von-suhrkamp-auf-platz-1
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20962-dominique-manotti-mit-marseille-73-von-ariadne-bleibt-auf-platz-2
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20972-unter-den-ausgeschiedenen-kalmann-von-joachim-b-schmidt
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21031-unter-den-ausgeschiedenen-heisses-blut-von-un-su-kim
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21023-unter-den-ausgeschiedenen-dammbruch-von-robert-brack
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21050-neu-auf-platz-8-nicci-french-mit-eine-bittere-wahrheit
konnten wir noch nicht besprechen, das wollten wir im Zusammenhang mit der Februarliste leisten, aber, siehe Teil 1, leider ist DIE RESIDENTUR einfach weggefallen. Deshalb wird in einem der nächsten Teile eine Besprechung folgen!
Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im Februar 2021
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21208-tim-macgabhanns-der-erste-tote-von-suhrkamp-auf-platz-1
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21211-tim-macgabhanns-der-erste-tote-von-suhrkamp-auf-platz-2
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21226-dark-von-candice-fox-aus-dem-suhrkamp-verlag-auf-platz-7
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21248-westwind-von-samantha-harvey-im-atrium-verlag-auf-platz-3
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21249-boeses-blut-von-robert-galbraith-verlag-blanvalet-auf-dem-achten-rang
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21280-der-tschechische-thriller-die-residentur-trotz-qualitaet-und-aktualitaet-herausgefallen
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21256-das-grosse-aufraeumen-von-david-wish-wilson-suhrkamp-auf-platz
Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im März 2021
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21466-die-experten-von-merle-kroeger-bei-suhrkamp-auf-platz-1
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21465-mim-visier-des-snipers-von-stephen-hunter-festa-verlag-leider-verschwunden
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21464-verweigerung-von-graham-moore-eichborn-verlag-auf-platz-6
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21483-speziell-zum-weltfrauentag-gestapelte-frauen-von-patricia-melo-auf-platz-3
Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im April 2021
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21737-unter-den-auf-der-liste-verschwundenen-auch-der-solist-von-jan-seghers