Serie: DIE KRIMIBESTENLISTE im Juni 2021, Teil 2
Katharina Klein
Hamburg (Weltexpresso) – Das ist uns eine gute Gewohnheit, nicht nur die neue Liste anzuschauen und zu besprechen, erst allgemein, dann im Detail in Buchbesprechungen, sondern auch die zu verabschieden, die die Liste verlassen, aber selten aus qualitativen Gründen, sondern meist aus zeitlichen, wenn sie schon zu lange auf der Liste standen. Neue müssen auch eine Chance haben. Richtig so.
Jetzt aber zur oben abgebildeten Merle Kröger und ihren DIE EXPERTEN, ein wirklich hervorragender Roman, dem es gelingt, Zeitgeschichtliches, was in der frühen BRD nicht offen diskutiert und geändert wurde, so zu hinterfragen, daß wir verstehen lernen, weshalb dies antikommunistischen Westdeutschland so vertiert die falschen Entscheidungen traf, die Altnazis konnten überwintern und der Feind stand angeblich im Osten. Sehr sehr interessant. Und spannend dazu. Stand seit März auf der Liste.
Zufällig ergibt sich eine ganz ähnliche Situation für die frühere DDR. Denn es wir im Anschlußdeutschland ein Fall ausgegraben und neu vor Gericht gebracht, der es nötig macht, daß der damalige Berliner Ermittler, der jetzt in Dresden arbeitet, nein, lebt schon, aber in Pension, in Berlin vor Gericht aussagt. Da geht es nicht um Weltbewegendes, aber um die Durchforstung der Vergangenheit, nebenbei auch der eigenen. Hat uns gefallen!
DER HEILIGE KING KONG von James McBride soll, so hat die Kollegin geschrieben, dann etwas ganz Besonderes sein, wenn man sich darauf einläßt, und Wort für Wort liest. Dann entwickelt sich vor einem eine so eigene Welt, von der man sich gerne gefangennehmen läßt. Es geht um schwarze Leben in New York, nicht die der großen Welt, sondern der Kleinen, Aberwitziges passiert, Trauriges auch, aber eben ganz spezifisch eine überschaubare Welt mit überschaubarem literarischen Personal. Kam im April auf die Liste.
Wie war das mit S.A. Cosby? BLACKTOP WASTELAND? Manchmal muß man bei den vielen Krimis kurz stutzen und fragt sich, wer und was war damit? Ja, das war dieser Schwarze, der nach früher Verbrecherkarriere ein solides Leben führte und dann nur einmal, ein einziges Mal den großen Coup landen will und sich auf einmal Problemen gegenübersieht, die nicht mal die Polizei sind, gegen die ein Mensch allein wenig ausrichten kann, es sei denn man ist besagter Beauregard ‚Bug‘ Montage. Stand ebenfalls seit April auf der Liste.
Bleibt als Fünfte Patrícia Melo, rechts im Bild, an deren Auftritt mit GESTAPELTE FRAUEN wir uns besonders erinnern, weil dieser Krimi einerseits hinreißend ist und im März mit Aplomb in der Krimibestenliste, was zum 8. März, dem Weltfrauentag, besonders gut paßte. Wenn Sie diesen Roman noch nicht gelesen haben, sollten sie es nachholen! Dringend. Wie gesagt, seit März auf der Krimibestenliste.
Merle Kröger und Patrícia Melo waren also drei Monate auf der Krimibestenliste. Mit Recht. Zwei tolle Schreiberinnen, zwei tolle, so völlig unterschiedliche Romane.
Fortsetzung folgt.
DIE KRIMIBESTENLISTE IM JUNI 2021
1 (1) David Peace: „Tokio, neue Stadt“.
Aus dem Englischen von Peter Torberg
Liebeskind, München 2021
432 Seiten, 24 Euro
Tokio 1949, 1964, 1988. Rätsel bis heute: Wie kam Shimoyama, Präsident der Nationalen Eisenbahngesellschaft, unter den Zug? Sie zerbrechen daran: Spione, Detektive, Schriftsteller. Neu sind nur die Machtverhältnisse. Alt ist die Macht, undurchschaubar. Sprachgewaltig, Totenklage aus dem Diesseits.
2 (3) Colin Niel: „Nur die Tiere“
Aus dem Französischen von Anne Thomas
Lenos, Basel 2021
286 Seiten, 22 Euro
Massif Central, Côte d‘Ivoire. Verschwunden: die freizügige Frau eines wohlhabenden Mannes. Ein Schafzüchter findet zeitweilig bei ihr großes Glück. Der Mörder ist verknallt in die Fiktion einer Geliebten. Ein armer Mann macht Euros im Netz. Globalisierung: Sehnsucht ist Einsamkeit. Noir vom Land.
3 (-) Johannes Groschupf: „Berlin Heat“
Suhrkamp, Berlin 2021
254 Seiten, 14,95 Euro
Berlin 2021 nach Corona. Tom Lohoff, Tausende Euro Wettschulden, vermietet seine Plattenbauwohnung an zwei Typen, die darin einen AfD-Politiker gefangen halten. Desaster vorprogrammiert. Wie decouvriert man Braune? Zieh‘ ihnen parodistisch die Farbe ab. Showdown Reichskanzlei. Heißer Berlin-Roman.
4 (10) „Kate Atkinson: Weiter Himmel“
Aus dem Englischen von Anette Gruber
Dumont, Köln 2021
476 Seiten, 24 Euro
Yorkshire, Küste. Vier Golffreunde, drei davon Gentlemen mit Vergangenheit und üblen Geschäften. Dazu die Frauen: Mitwisserinnen, Aufgestiegene, brave Mütter – nordenglischer Mittelstand und seine Finsternisse. Dazwischen – immer noch clever – Privatdetektiv Jackson Brodie, leiser Held großer Romane.
5 (6) Louisa Luna: „Tote ohne Namen“
Aus dem Englischen von Andrea O‘Brien
Suhrkamp, Berlin 2021
444 Seiten, 15,95 Euro
San Diego. Zwei blutjunge Latinas aufgeschlitzt. Das Police Department engagiert Alice Vega samt Partner, nicht zur reinen Freude der Kollegen von der DEA. Die wollen die Tunnel aus Mexiko selbst kontrollieren, durch die die Mädchen kommen. Im Showdown tut sich Unerwartetes auf.
6 (-) Friedrich Ani: „Letzte Ehre“
Suhrkamp, Berlin 2021
270 Seiten, 22 Euro
München. „Verhämmerung“ – unvorstellbar zugerichtet ist die Frau eines Polizeikollegen. Verschwunden ist die 17-jährige Finja. Kommissarin Fariza Nasri hilft einer gequälten Frau, ihre Stimme zu finden. Und Fariza selbst? Männergewalt, Frauenzerstörung. So komplex, so herznah wie Ani schreibt keiner.
7 (2) Simone Buchholz: „River Clyde“
Suhrkamp, Berlin 2021
230 Seiten, 15,95 Euro
Hamburg, Glasgow. Disruption allerorten. Staatsanwältin Chastity Riley nimmt bei ihren schottischen Ahnen eine Auszeit. Ihre verlassenen Kumpels von der Polizei reden sich mit Vornamen an und üben Achtsamkeit in der „Blauen Nacht“. Trauer. Hamburger Immobilienhaie sind dagegen winzige Fischlein
8 (-) Sara Paretsky: „Landnahme“
Aus dem Englischen von Else Laudan
Ariadne im Argument Verlag, Hamburg 2021
544 Seiten, 24 Euro
Chicago, Kansas. Bis zu Chiles Militärdiktatur zurück und zum Ort eines Massakers führen Vic Warshawskis lange fruchtlosen Suchbewegungen. Was hat die talentierte Musikerin Lydia Zamir zur verstörten Obdachlosen gemacht? Was soll mit den Morden am Seeufer vertuscht werden? Vic geht auf höchstes Risiko.
9 (-) Beth Ann Fennelly/Tom Franklin: „Das Meer von Mississippi“
Aus dem Englischen von Eva Bonné
Heyne Hardcore, München 2021
384 Seiten, 22 Euro
Große Mississippiflut 1927. Fennelly und Franklin erzählen von Scharmützeln zwischen Schwarzbrennern und Prohibitionsagenten, Mord und Sabotage. Dazwischen einsam, kinderlos Dixie Clay, der unverhofft ein Baby überlassen wird. Bis die Naturkatastrophe die Verhältnisse durcheinanderwirbelt.
10 (-) Richard Osman: „Der Donnerstagsmordclub“
Aus dem Englischen von Sabine Roth
List, Berlin 2021
458 Seiten, 15,99 Euro
Kent. Alter – zählt nicht! Vier Senioren, geführt von Ex-Agentin Elizabeth (mit Panzerführerschein), lösen Cold Cases zum Spaß. Ernster sind die Morde an einem Unternehmer und seinem noch kriminelleren Kompagnon vor den Toren ihrer Luxusresidenz. Liebenswürdiger Cosy mit einer Prise schwarzem Humor.
Die Krimibestenliste, wo kann man sie lesen, wer erstellt sie, wo wird sie veröffentlicht?
WO? außerhalb von WELTEXPRESSO?
Die Krimibestenliste auf Deutschlandfunk Kultur
www.deutschlandfunkkultur.de
Die Krimibestenliste erscheint nicht mehr am ersten Sonntag des Monats in der Printausgabe: www.faz.net !!! Die zukünftigen Krimibestenlisten 2021 sind allerdings noch nicht einmal online für die FAS verfügbar. In der Vergangenheit veröffentlichte die FAS, die Sonntagszeitung der FAZ, an jedem ersten Sonntag im Monat die jeweilige Liste im Feuilletonteil. Noch einmal im Klartext: Leider gibt es die Liste ab 2021 noch nicht einmal im FAZ-Internet. Ob die FAZ und FAS wissen, welche Einbuße sie damit bei Krimilesern erfahren? Da muß man froh sein, daß der Deutschlandfunk Kultur die Kriminalromane als anspruchsvolles Genre noch nicht aufgegeben hat, sondern weiterhin jeden ersten Freitag im Monat die neue Liste bringt, die wir sobald wir können, nachveröffentlichen.
An jedem ersten Freitag des Monats geben also 18 Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Die Krimibestenliste war zuvor eine Kooperation der Frankfurter Allgemeinen mit Deutschlandfunk Kultur, der Sender, der nun die Krimibestenliste alleine veröffentlicht und trägt. Das wäre schon für die Regierungskoalition in Sachsen-Anhalt ein wichtiges Argument, den Rundfunkgebühren zuzustimmen.
Die Jury:
Tobias Gohlis, Sprecher der Jury
Volker Albers, „Hamburger Abendblatt“
Andreas Ammer, „Druckfrisch“, ARD
Gunter Blank, „Rolling Stone“
Thekla Dannenberg, „Perlentaucher“
Hanspeter Eggenberger, „Tages-Anzeiger“
Fritz Göttler, „Süddeutsche Zeitung“
Jutta Günther, „Radio Bremen Zwei“
Sonja Hartl, „Zeilenkino“, „Crimemag“, „Deutschlandfunk Kultur“
Hannes Hintermeier, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“
Alf Mayer, „CulturMag“, „Strandgut“
Kolja Mensing, „Deutschlandfunk Kultur“
Marcus Müntefering, „Der Spiegel“
Ulrich Noller, „Deutschlandfunk Kultur“, „Deutschlandfunk“, „SWR“, „WDR“
Frank Rumpel, „SWR“
Ingeborg Sperl, „Der Standard“
Sylvia Staude, „Frankfurter Rundschau“
Jochen Vogt, „NRZ“, „WAZ“
Wie funktioniert die Abstimmung?
Die Krimibestenliste wird im Auftrag von Deutschlandfunk Kultur durch eine Jury aus Kritikerinnen und Kritikern erstellt.
Es sind die obigen 19 Spezialistinnen und Spezialisten für Kriminalliteratur aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, die aus der laufenden Produktion monatlich jeweils vier Titel vorschlagen, die sie mit sieben, fünf, drei oder einem Punkt bewerten.
Der so gefundene Punktwert pro Titel wird mit der Zahl der für ihn abgegebenen Stimmen multipliziert. Daraus wird die monatliche Liste berechnet.
Jedes Jurymitglied darf insgesamt drei Mal für denselben Titel votieren. Voten für Titel, an deren Entstehung oder Vorbereitung man beteiligt war, sind verboten.
Die Titel dürfen nicht älter als zwölf Monate und keine Wiederauflagen, Sammelbände oder Anthologien sein. Unterschiede zwischen Hardcover, Paperback und Taschenbuch werden nicht gemacht.
Im Durchschnitt kommen fünf Titel neu auf die monatliche Liste. Die Ziffer in Klammern gibt den Rang des Vormonats an.
Fotos:
Kröger ©wdr.de
Melo ©unionsverlag.com
Info:
Rezensionen der Vormonate
Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im Februar 2021
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21208-tim-macgabhanns-der-erste-tote-von-suhrkamp-auf-platz-1
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21211-tim-macgabhanns-der-erste-tote-von-suhrkamp-auf-platz-2
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21226-dark-von-candice-fox-aus-dem-suhrkamp-verlag-auf-platz-7
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21248-westwind-von-samantha-harvey-im-atrium-verlag-auf-platz-3
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21249-boeses-blut-von-robert-galbraith-verlag-blanvalet-auf-dem-achten-rang
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21280-der-tschechische-thriller-die-residentur-trotz-qualitaet-und-aktualitaet-herausgefallen
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21256-das-grosse-aufraeumen-von-david-wish-wilson-suhrkamp-auf-platz
Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im März 2021
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21466-die-experten-von-merle-kroeger-bei-suhrkamp-auf-platz-1
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21465-mim-visier-des-snipers-von-stephen-hunter-festa-verlag-leider-verschwunden
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21464-verweigerung-von-graham-moore-eichborn-verlag-auf-platz-6
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21483-speziell-zum-weltfrauentag-gestapelte-frauen-von-patricia-melo-auf-platz-3
Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im April 2021
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21737-unter-den-auf-der-liste-verschwundenen-auch-der-solist-von-jan-seghers
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21748-frederick-forsyth-die-akte-odessa-piper-verlag
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21764-merle-kroegers-die-experten-weiterhin-auf-platz-1
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21801-die-sechs-neuen-krimis-auf-der-liste
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21802-tom-hillenbrand-montecrypto-bei-kiwi-neu-auf-platz-4
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21825-simone-buchholz-mit-river-clyde-auf-platz
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21839-die-zwei-schwestern-von-chan-ho-kei-auf-platz-9
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21851-blacktop-wasteland-von-s-a-cosby-auf-platz
Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im Mai 2021
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/22067-david-peace-tokio-neue-stadt-von-liebeskind-auf-platz-1
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/22216-verabschiedung-der-vier-ausgeschiedenen-wie-orkun-ertener
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/22235-vor-gericht-von-matthias-wittekindt-auf-platz-4
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/22234-senkrechtstarter-tokio-neue-stadt-von-david-peace-auf-platz-1
Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im Juni 2021
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/22548-david-peace-mit-tokio-neue-stadt-weiterhin-auf-platz-1