KrimiZEIT-Bestenliste in ZEIT und NordwestRadio für März 2016, Teil 3

 

Elisabeth Römer

 

Hamburg (Weltexpresso) – Es hat uns keine Ruhe gelassen. Wir mußten den direkt auf Rang 3 geschossenen Thriller von Andreas Pflüger, bekannt als Drehbuchautor und durch seinen ersten Roman OPERATION RUBIKON 2004, sofort lesen. Und wenn man das beginnt, dann sucht man Ausreden, alles andere fahren zu lassen und weiterzulesen. Ein extrem spannendes Buch mit völlig ungewöhnlichen Helden.

 

Einer Heldin, muß man zuerst einmal sagen, aber einer so ungewöhnlichen, daß man sich nur wundern kann, wie ein Autor auf diese Idee kommt, die dann den Plott eben erst so spannend macht: „Sie heißt Jenny Aaron. Sie ist blind und die deutsche Antwort auf James Bond….Es ist wirklich lange her, daß ich ein Buch mit derart nägelkauender Spannung gelesen habe“, sagt Tobias Gohlis in DIE ZEIT, weshalb wir mit der gleichen Meinung ihn gerne zitieren. Aber es ist nicht nur die Heldin ungewöhnlich, sondern auch der Einsatz. Es geht um staatliche Stellen, hier BKA, deren Operationsbasis nicht so ganz klar wird. Sie ist natürlich gesetzlich, aber wird im Einzelfall für besagte Operationen speziell zusammengestellt.

 

Wir befinden uns also in einer Fiktion. Aber die kann mit der Dependence des BKA Treptow deutlich benannt werden, wo das Referat 'Spezialeinsätze' wie auch das Terrorabwehrzentrum untergebracht sind, wohin unsere blinde Ermittlerin unterwegs ist, wobei wir lernen, daß sie nicht nur wie der kleine Prinz auch mit dem Herzen gut sieht, sondern die größten Erlebnisse mit Schallwellen machen, die Gegenstände zurückschicken und es Geschulten möglich macht, die Gegenstände im Raum zu erkennen.

 

Daß Jenny nicht blind geboren wurde, ist bald klar und auch, daß ihr Blindwerden mit dem letzten Auftrag vor fünf Jahren zusammenhing, der als BARCELONA absolut durchs Buch geistert. Denn einer der Tricks, mit denen Pflüger Spannung herstellt, ist, immer wieder dieselben Orte der Erinnerung zu benennen, die aber neue Aspekte bringen, die alten Gewißheiten dawiderstehen, weshalb wir uns in einem ständigen Fluß befinden, wo sich alle möglichen Leute über ihre Erinnerungen das Leben heute schwerer, leichter machen oder ihm ganz entsagen. Tatsächlich liegt über dem Ende eine Trauer und ein Abschiednehmen, daß man dann gerne im Nachwort aufnimmt, daß es wohl weitergehen wird mit den Operationen unter dem Einsatz von Jenny Aaron.

 

Erst einmal geht es um einen merkwürdigen Mord. In der Berliner JVA Tegel hat ein wegen Mord Verurteilter eine Polizeipsychologin zu Kaffee und Kuchen in seine Zelle gelockt, die er dann ermordet und unterm Bett versteckt hatte. Reinhold Boenisch heißt der Täter, dem Aaron schon die ersten vier Morde, deretwegen er verurteilt wurde, nicht abnahm, wohl aber ihn ursprünglich gefaßt hatte, so daß er überhaupt verurteilt werden konnte. Merkwürdig, aber beim Lesen sehr einsichtig. Und dieser Boenisch sagt nun: “Ich rede nur mit Frau Aaron!“ Deshalb ist sie hier und stellt sehr schnell fest, daß er zwar die Tote begrüßt hatte und neben ihr die Nacht verbrachte, aber nicht ihr Mörder ist.

 

Ist das nicht merkwürdig? Woher kommt denn ein anderer Mörder im Gefängnis? Sehr schnell wird einem klar, da stimmt was nicht und durch Unstimmigkeiten in den Aussagen der Bediensteten wird auch schnell klar: Der Fisch stinkt vom Kopf her, die Gefängnisleitung hängt mit drinnen. Das ahnen wir, spielt aber lange keine Rolle, denn vordergründig geht es um die Freipressung eines Gefangenen, der wurde zwecks Familienzusammenführung mit seiner Freundin von Barcelona (!) nach Berlin verlegt, mit dem wir dann übrigens auch den Mörder haben, das kommt aber sehr viel später. Jetzt geht es erst durch die Freipressung dieses Verbrechers durch dessen Bruder Holm. Und hier sind wir bei der zentralen Figur des Romans. Ein vielschichtiger, literaturkundiger, lebenserfahrener und auch ansonsten interessanter Typ, der nur einen Fehler hat, er hat keine Empathie für andere, weshalb er sie abschießt wie andere ein Fliegengitter aufhängen.

 

Da wird rasch ein Bus gekapert, wegen der Freipressung, aber alles ist sehr sinnvoll überlegt. Es sind Schulkinder, das zieht immer und macht das Durchsetzen der eigenen Forderungen – hier der Gefangene und 5 Millionen Euro – leichter, zumal auch noch die Blinde mit im Konzept der Mörderbande ist, die treibt die Preise für die Entführungen einfach hoch. Nein, wir wollen die Geschichte gar nicht weitererzählen, sondern eine seltsame Erfahrung mitteilen. Natürlich ist diese Jenny Aaron die eigentliche Hauptperson, um die sich dienstliche und privat personelle Gruppen bilden. Über sie und ihre Geschichten erfahren wir am meisten, vor allem ihr Verwurzeltsein in einer speziellen asiatischen Kampfkunst, der BUSHIDO, Dem „Weg des Kriegers“, was der Verhaltenskodex der Samurai ist.

 

Das liest man zwar genau mit, aber da es wirklich zwischendrinnen spannend um die Verfolgung und Auffindung, bzw. die Entführung der blinden Jenny geht, überliest man eben deren eigene Angaben, auf welchem Schritt des Weges sie sich gerade befindet, leicht. Da hätte man sich am Schluß des Buches schon eine Zusammenfassung ihrer persönlichen Lehre gewünscht, schon deshalb, weil ihr Gegenspieler, das absolut Böse, das gleiche Mantra hat, eigentlich nie persönlich böse ist, nur so nebenbei die Menschen umnietet, daß man mit dem Zählen nicht mehr mitkommt. Einspruch: es sind wirklich zu viele Tote und es sind auch zu viele tote Polizeibeamten dabei.

 

Aber, das ist das Neue an diesem Krimi, er kommt einem vor, wie eine niedergeschriebene britisch-amerikanische Fernsehserie. Übrigens kämen wir bei der Protagonistin überhaupt nicht so sehr auf James Bond. Ganz sicher aber auf Sherlock Holmes, der diffizilen Denkaufgaben wegen und wenn wir es uns recht überleben, ist das eine Mischung aus Denken und Tat, also dann doch Holmes und Bond.

 

Wo dann der Watson wäre.?Hier ist er mit Pavlick nur unzureichend beschrieben, denn sie sind kongenial Pavlick und Aaron. Im Gegensatz zu sehr ätherischen und alle körperlichen Strapazen aushaltenden Jenny ist dieser ein rechter sinnlicher Mann, dem Andreas Pflüger so rundherum liebevolle Eigenschaften zuschreibt, daß wir nach diesem Buch zumindest mit diesem Mann und auch noch seiner patenten Frau befreundet sein wollen. Eine tolle Charakterdarstellung, von der die nächsten Folgen sicher Früchte tragen….

 

 

Die KrimiZEIT-Bestenliste MÄrz 2016

 

 

 

 

Lfd.

Nr.

Rang

Vor-monat

Titel

1

1

(-)

Garry Disher: Bitter Wash Road

Aus dem Englischen von Peter Torberg

Unionsverlag, 352 S., 21,95 €

Tiverton, Südaustralien. Paul „Hirsch“ Hirschhausen ist degradiert, auf einen Ein-Mann-Posten versetzt. Eine Sechzehnjährige wurde totgefahren. Hirsch (fast) allein gegen Sheriff, Vorgesetzte, Dorfbonzen. Weizen, Wolle, früher Kupfer, leeres Land. Ganz, ganz fein, staubtrocken und herzenswarm.

2

2

(2)

Ryan Gattis: In den Straßen die Wut

Aus dem Englischen von Ingo Herzke

Rowohlt Polaris, 528 S., 16,99 €

Los Angeles 1992. Aufruhr. Stadt ohne Staat. Hier: Feuerwehr, Nationalgarde, Killercops. Dort: Latino-Gangs. Kids als Mobster. Im Tumult Blutrechnungen begleichen. Ernesto, Bruder, guter Mann totgeschleift. Unterm Qualm rennen, schießen sie: Trauer, Fluchtversuche, Machokampf. 6 Tage Wahnsinn. Unbelievable.

3

3

(-)

Andreas Pflüger: Endgültig

Suhrkamp, 459 S., 19,95 €

Barcelona, Moskau, Berlin. In Barcelona wird Spezialagentin Jenny Aaron angeschossen. Verrat, Mord, Bosheit. Jahre danach: Die erblindete BKA-Profilerin stößt erneut auf den Widersacher ihre Lebens. Perfekter, intelligenter Showdown über 48 Stunden. Pflüger kann Action und mehr, so unique in D.

4

4

(-)

Ross Thomas: Porkchoppers

Aus dem Englischen von Jochen Stremmel

Alexander, 310 S., 14,90 €

Chicago, Washington D.C. Gewerkschaftswahlen: Spielfeld für gewitzte Absahner. Ross Thomas, der wusste, wie man’s macht, mixt einen Mordplan, eine gekaufte Wahl, eine Medienintrige, eine traurige Vater-Sohn-Geschichte und das Porträt eines charmanten Säufers. Erstmals vollständig auf Deutsch.

4

5

(1)

Malla Nunn: Tal des Schweigens

Aus dem Englischen von Laudan & Szelinski

Ariadne im Argument-Verlag, 318 S., 13,00 €

Drakensberge, Südafrika 1953. DS Cooper und DC Shabalala sollen den Mord an einer schwarzen Land-Schönheit aufklären – die Arschkarte für Kriminalisten im Apartheid-Staat. Fallstricke überall: Zulu-Traditionen, Rassisten-Traditionen, Frauenunterdrückung sowieso. Behutsam, fein und klug: Nunn.

6

6

(-)

Cormac McCarthy: Der Feldhüter

Aus dem Amerikanischen (sic!) von Nikolaus Stingl

Rowohlt, 288 S., 14,99 €

Knoxville, Tennessee. McCarthys Debüt: Ein Junge, ein Schnapsschmuggler und ein alter Knorz ziehen ihren Weg. Ohne es zu wissen, verbunden durch einen Toten. Drei Männer, Teil der Natur, fern von Zivilisation und law, unterworfen kosmischem Gesetz. Dabei: eine Katze, ein Hund, ein Habicht.

7

7

(3)

Tito Topin: Exodus aus Libyen

Aus dem Französischen von Katharina Grän

Distel Literaturverlag, 233 S., 14,80 €

Libyen 2011. Acht Menschen fliehen vor dem Bürgerkrieg, bloß raus. Zwangsstop in einer umkämpften Wüstenstadt. Jetzt müssen sie sich ihrer persönlichen Wahrheit stellen. Was hat Gaddafis „Verderbtheit“ aus ihnen gemacht? Wie frei können sie werden? Der erste Kriminalroman der „Arabellion“.

8

8

(-)

Michael Robotham: Der Schlafmacher

Aus dem Englischen von Kristian Lutze

Goldmann, 414 S., 14,99 €

Bath, Somerset. Psychiater Joe O’Loughlin zerrissen zwischen Sorge um seine krebskranke Frau, seine Töchter und um den Fall: Wo Harper Crow und ihre Mutter ermordet wurden, gibt es mehr Spuren als nötig – ein oder zwei Serienkiller? Folgt nicht dem Geld, spürt nach Familiengeheimnissen.

Auch als Hörbuch aus dem Hörverlag!

9

9

(-)

 

Eugene McCabe: Die Welt ist immer noch schön

Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser

Steidl, 136 S., 16,00 €

Fermanagh 1975. Doppelte Belagerung: Fünf IRA-Provisionals besetzen das Haus des britischen Colonels Armstrong, um IRA-Gefangene freizupressen, belagert von der Army. Harter Roman über das Sterben. Über Hass, Ideologie, Verrat und innere Verwirrung. Späte Entdeckung eines Juwels.

10

10

(9)

 

Joseph Kanon: Leaving Berlin

Aus dem Englischen von Elfriede Peschel

C. Bertelsmann, 448 S., 19,99 €

Ost-Berlin 1949. Exil-Schriftsteller Alex Meier soll in CIA-Auftrag Kulturbund und Kommunisten bespitzeln. Atmosphärisch genau rekonstruiert: ein Mann im Kalten Krieg mit eigener Agenda zwischen den Stühlen. Cameos: Brecht, Weigel, Janka, andere Kulturgrößen. Clever und ideologieresistent.

 

 

 

INFO:

 

Die monatlich erscheinende Krimi-Bestenliste existiert seit März 2005, als sie erstmals auf der Leipziger Buchmesse, damals noch als KrimiWelt-Bestenliste vorgestellt wurde. Von März 2011 an wird sie regelmäßig an jedem ersten Donnerstag des Monats in der Wochenzeitung DIE ZEIT als KrimiZEIT-Bestenliste veröffentlicht.

 

Vorgestellt wird die KrimiZeit-JahresBestenListe

 

Die KrimiZEIT-Bestenliste März wird am 3.3.2016 in der Wochenzeitung DIE ZEIT, auf ZEITonline unter www.zeit.de/krimizeit-bestenliste und im Nordwestradio veröffentlicht, am Donnerstag, den 3.3.2016 gegen 9.20 live mit Tobias Gohlis und in den Sendungen der „Buchpiloten“, nachzuhören unter www.radiobremen.de/nordwestradio/serien/krimizeit/bestenliste100.html

 

 

Monatlich wählen einundzwanzig auf Kriminalliteratur spezialisierte Literaturkritiker aus Deutschland, Österreich und der Schweiz aus der Masse der Neuerscheinungen die zehn Titel aus, denen sie viele Leser wünschen. Das Beste vom Besten: Immerhin erscheinen übers Jahr verteilt inzwischen über 1800 Kriminalromane auf Deutsch. An jedem ersten Donnerstag im Monat geben Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Sie halten nach dem literarisch interessanten, thematisch ausgefallenen, besonderen Kriminalroman Ausschau. Die besten Zehn werden mit Bibliographie und Kurzbeschreibung hier veröffentlicht.

 

 

Die Jury der KrimiZEIT-Bestenliste auf dem aktuellen Stand:

 

Tobias Gohlis, Kolumnist DIE ZEIT, DeKrPr*, Moderator und Jury- Sprecher der Krimiwelt

Volker Albers, Hamburger Abendblatt, DeKrPr*

Andreas Ammer, „Druckfrisch“, Dlf, BR, DeKrPr*

Gunter Blank, Sonntagszeitung Zürich

Thekla Dannenberg, Perlentaucher

Fritz Göttler, Süddeutsche Zeitung

Michaela Grom, SWR

Hannes Hintermeier, Frankfurter Allgemeine Zeitung

Lore Kleinert, Radio Bremen 

Elmar Krekeler, Die Welt

Kolja Mensing, Dradio Kultur

Ulrich Noller, Deutsche Welle, WDR, DeKrPr*

Jan Christian Schmidt, www.Kaliber 38.de, DeKrPr*

Margarete v. Schwarzkopf, Freie Literaturkritikerin

Ingeborg Sperl, Der Standard - Wien

Sylvia Staude, Frankfurter Rundschau, DeKrPr*

Jochen Vogt, NRZ, WAZ

Hendrik Werner, Weser-Kurier

Thomas Wörtche, Plärrer, culturmag, Dradio Kultur, Penser Pulp bei Diaphanes, DeKrPr*

 

In der Regel kommentieren wir die von der Jury neu plazierten Krimis. Alle weiteren plazierten Krimis der Vormonate entnehmen Sie bitte unseren Krimi-Besprechungen in den vormonatlichen Artikeln, die Sie in der RUBRIK BÜCHER auf dem Titel oder unter dem Autorennamen im Archiv finden.

Das Prozedere der Platzverteilung für die Liste ist ganz einfach. Dreimal darf ein Kritiker aus der Jury einen Roman benennen. Wenn das gut verteilt ist, kann ein Buch einige Monate überwintern, dann hat es nur noch die Chance, in der Jahresbestenliste wieder aufzutauchen, die jeweils Ende Dezember herauskommt und die wir für 2015 hier ebenfalls kommentierten.

 

http://weltexpresso.tj87.de/index.php?option=com_content&view=article&id=6227:die-jahresbestenliste&catid=78:buecher&Itemid=470

 

http://weltexpresso.tj87.de/index.php?option=com_content&view=article&id=6228:vier-der-besten-haben-frauen-geschrieben&catid=78:buecher&Itemid=470

 

 

 

Der letzte Monat in Weltexpresso

 

http://weltexpresso.tj87.de/index.php?option=com_content&view=article&id=6522:an-der-spitze-tal-des-schweigens-von-malla-nunn&catid=78&Itemid=470

 

 

http://weltexpresso.tj87.de/index.php?option=com_content&view=article&id=6523:exodus-aus-libyen-von-tito-topin-aus-dem-distel-literaturverlag-auf-platz-3&catid=78&Itemid=470