donnersSerie: DIE KRIMIBESTENLISTE im Juni 2021,  Teil 3

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Hilf Himmel! Vor lauter Filmen gingen die Krimibesprechungen unter, dabei gibt es heute schon die neue Liste für Juli. Also rasch raus! DER DONNERSTAGS MORDCLUB von Richard Osman, erschienen bei List, ist der perfekte Sommerkrimi, will sagen, er liest sich weg wie nichts, ist aber nicht oberflächlich, sondern ‚bedient‘ die Leser und Leserinnen mit genau dem, wie man sich eine intelligente, ironische, so typisch englische Krimigeschichte vorstellt!

Manchmal wurde mir das schon zu viel, wie sehr der Autor unsere Vorurteile oder auch Urteile über englische Versponnenheit, wie auch lebhaftes Interesse am Nachbarn und der durchaus absurden Handlung in seine Geschichte einfließen läßt. Aber dann muß man dauernd vor sich hinprusten, denn manche Abläufe und auch manche Protagonisten sind einfach zu komisch, hintersinnig, auch feinsinnig, einfach auf, ich muß es wiederholen, intelligente Weise witzig. Um was es geht? Ja, das ist auch wichtig, was aber erst einmal für dieses Buch als nicht anspruchslose, aber heitere Lektüre spricht, ist seine literarische Qualität, der – seien wir ehrlich – natürlich die Geschichte auf gleicher Ebene Äquivalent sein muß – und wird.

Mit der fast achtzigjährigen Joyce ziehen wir ein in Coopers Chase, einer superluxeriösen Seniorenresidenz im Umfeld von Kent, was nach Alter, nach Verwöhntwerden, nach Entspannung und einem eher langweiligen Altersleben klingt. Mitnichten. Denn mit Joyce lernen wir auch die drei weitere Senioren kennen, die sie gerne in ihren Club aufnehmen, der dazu dient, bisher ungeklärte Kriminalfälle zu entschlüsseln, die übrigens auch im deutschen Fernsehen große Auftritte haben, die sogenannten Cold Cases. Die Vier sind perfekt auf diese kriminalistische Arbeit vorbereitet, denn Elizabeth war Geheimagentin, Ron ein erfolgreicher und sprachgewaltiger Gewerkschaftsführer und Ibrahim bringt als Psychiater das Hintergrundwissen über Verbrecher mit. Joyce, die uns mit allen bekanntmachte, ist Krankenschwester gewesen, was bei Mord und Totschlag auch eine nützliche Hilfe sein kann.

Schon recht, eigentlich wäre dieser Mordermittlungsclub eine eher theoretische Angelegenheit, aber warum Osman jetzt ein Buch darüber schreibt – er will dies sogar als Serie fortsetzen - , hat damit zu tun, daß in der Seniorenresidenz wirklich ein aktueller Mord geschieht. Und es trifft nicht den falschen. Der Tote ist derjenige, der für den Besitzer der Luxusimmobilie die Schmutzarbeit macht. Natürlich ist der Besitzer der eigentliche Bösewicht, er hat nämlich vor, seinen Reibach zu machen und einen Großteil des Geländes der Residenz zu verkaufen, der Ermordete hatte dabei seine Schuldigkeit getan.

Doch wer ist der Mörder? Im Verlauf der Handlung kommen viele Stimmen zum Einsatz, auch viele Verdächtigungen und Querverweise, worunter auch Querschläger sind. Es beginnt, wie oben angedeutet, mit Joyce, dem fast achtzigjährigen Frischling, mit der wir die Bewohner und das Leben in der Residenz kennenlernen und die überwiegend erzählt. Dann aber gibt es eine Erzählerstimme und manchmal wußte ich nicht mehr recht, wer gerade seine Kommentierung zur Mordaufklärung abgibt. Das ist letzten Endes nicht wichtig, denn der große Unterschied zur bisherigen theoretischen Mordermittlung der Gruppe liegt in der Beteiligung der Polizei. Insbesondere PC Donna de Freitas wird dabei die Hauptrolle spielen, eine junge Frau, die seitens ihrer Vorgesetzten überhaupt nicht zur Mordermittlung vorgesehen war, die aber die geschickte, ja intrigante – Geheimdienst! - Elizabeth den Oberen als wesentliche Ermittlerin suggeriert und der ein gewisser Chris zur Seite steht.

Donna de Freitas weiß, wem sie ihr Dabeisein verdankt und läßt gegenüber dem Club immer wieder die Polizeiergebnisse durchsickern, ja, man könnte sie sogar für einen Spitzel des Clubs bei der Polizei halten. Aber da es ja um Gerechtigkeit, also um Aufklärung eines Mordes geht, ist das schon in Ordnung, zudem sie selbst auch eine der Erzählstimmen ist, die uns einlullt.

Ja, es ist die Skurrilität des literarischen Personals, das sehr persönlich die Geschicke aller leitet, durchaus aus den besseren Kreisen und im Teetrinken Spitze, weswegen man als Leserin allerlei mitmacht. Insbesondere Elizabeth ist es, eine störrische, wendige und kreative Alte, die uns vormacht, wie nicht Altersschwachsinn mit Alter zu verbinden ist, sondern Altersweisheit, wozu so geniale wie freche Wesenszüge dazu gehören. Weiter so!

Fortsetzung folgt



DIE KRIMIBESTENLISTE IM JUNI 2021

1 (1) David Peace: „Tokio, neue Stadt“.
Aus dem Englischen von Peter Torberg
Liebeskind, München 2021
432 Seiten, 24 Euro

Tokio 1949, 1964, 1988. Rätsel bis heute: Wie kam Shimoyama, Präsident der Nationalen Eisenbahngesellschaft, unter den Zug? Sie zerbrechen daran: Spione, Detektive, Schriftsteller. Neu sind nur die Machtverhältnisse. Alt ist die Macht, undurchschaubar. Sprachgewaltig, Totenklage aus dem Diesseits.


2 (3) Colin Niel: „Nur die Tiere“
Aus dem Französischen von Anne Thomas
Lenos, Basel 2021
286 Seiten, 22 Euro

Massif Central, Côte d‘Ivoire. Verschwunden: die freizügige Frau eines wohlhabenden Mannes. Ein Schafzüchter findet zeitweilig bei ihr großes Glück. Der Mörder ist verknallt in die Fiktion einer Geliebten. Ein armer Mann macht Euros im Netz. Globalisierung: Sehnsucht ist Einsamkeit. Noir vom Land.


3 (-) Johannes Groschupf: „Berlin Heat“
Suhrkamp, Berlin 2021
254 Seiten, 14,95 Euro

Berlin 2021 nach Corona. Tom Lohoff, Tausende Euro Wettschulden, vermietet seine Plattenbauwohnung an zwei Typen, die darin einen AfD-Politiker gefangen halten. Desaster vorprogrammiert. Wie decouvriert man Braune? Zieh‘ ihnen parodistisch die Farbe ab. Showdown Reichskanzlei. Heißer Berlin-Roman.


4 (10) „Kate Atkinson: Weiter Himmel“
Aus dem Englischen von Anette Gruber
Dumont, Köln 2021
476 Seiten, 24 Euro

Yorkshire, Küste. Vier Golffreunde, drei davon Gentlemen mit Vergangenheit und üblen Geschäften. Dazu die Frauen: Mitwisserinnen, Aufgestiegene, brave Mütter – nordenglischer Mittelstand und seine Finsternisse. Dazwischen – immer noch clever – Privatdetektiv Jackson Brodie, leiser Held großer Romane.


5 (6) Louisa Luna: „Tote ohne Namen“
Aus dem Englischen von Andrea O‘Brien
Suhrkamp, Berlin 2021
444 Seiten, 15,95 Euro

San Diego. Zwei blutjunge Latinas aufgeschlitzt. Das Police Department engagiert Alice Vega samt Partner, nicht zur reinen Freude der Kollegen von der DEA. Die wollen die Tunnel aus Mexiko selbst kontrollieren, durch die die Mädchen kommen. Im Showdown tut sich Unerwartetes auf.


6 (-) Friedrich Ani: „Letzte Ehre“
Suhrkamp, Berlin 2021
270 Seiten, 22 Euro

München. „Verhämmerung“ – unvorstellbar zugerichtet ist die Frau eines Polizeikollegen. Verschwunden ist die 17-jährige Finja. Kommissarin Fariza Nasri hilft einer gequälten Frau, ihre Stimme zu finden. Und Fariza selbst? Männergewalt, Frauenzerstörung. So komplex, so herznah wie Ani schreibt keiner.


7 (2) Simone Buchholz: „River Clyde“
Suhrkamp, Berlin 2021
230 Seiten, 15,95 Euro

Hamburg, Glasgow. Disruption allerorten. Staatsanwältin Chastity Riley nimmt bei ihren schottischen Ahnen eine Auszeit. Ihre verlassenen Kumpels von der Polizei reden sich mit Vornamen an und üben Achtsamkeit in der „Blauen Nacht“. Trauer. Hamburger Immobilienhaie sind dagegen winzige Fischlein


8 (-) Sara Paretsky: „Landnahme“
Aus dem Englischen von Else Laudan
Ariadne im Argument Verlag, Hamburg 2021
544 Seiten, 24 Euro

Chicago, Kansas. Bis zu Chiles Militärdiktatur zurück und zum Ort eines Massakers führen Vic Warshawskis lange fruchtlosen Suchbewegungen. Was hat die talentierte Musikerin Lydia Zamir zur verstörten Obdachlosen gemacht? Was soll mit den Morden am Seeufer vertuscht werden? Vic geht auf höchstes Risiko.


9 (-) Beth Ann Fennelly/Tom Franklin: „Das Meer von Mississippi“
Aus dem Englischen von Eva Bonné
Heyne Hardcore, München 2021
384 Seiten, 22 Euro

Große Mississippiflut 1927. Fennelly und Franklin erzählen von Scharmützeln zwischen Schwarzbrennern und Prohibitionsagenten, Mord und Sabotage. Dazwischen einsam, kinderlos Dixie Clay, der unverhofft ein Baby überlassen wird. Bis die Naturkatastrophe die Verhältnisse durcheinanderwirbelt.


10 (-) Richard Osman: „Der Donnerstagsmordclub“
Aus dem Englischen von Sabine Roth
List, Berlin 2021
458 Seiten, 15,99 Euro

Kent. Alter – zählt nicht! Vier Senioren, geführt von Ex-Agentin Elizabeth (mit Panzerführerschein), lösen Cold Cases zum Spaß. Ernster sind die Morde an einem Unternehmer und seinem noch kriminelleren Kompagnon vor den Toren ihrer Luxusresidenz. Liebenswürdiger Cosy mit einer Prise schwarzem Humor.


Die Krimibestenliste, wo kann man sie lesen, wer erstellt sie, wo wird sie veröffentlicht?

WO? außerhalb von WELTEXPRESSO?
Die Krimibestenliste auf Deutschlandfunk Kultur
www.deutschlandfunkkultur.de

Die Krimibestenliste erscheint  nicht mehr am ersten Sonntag des Monats in der Printausgabe: www.faz.net !!! Die zukünftigen Krimibestenlisten  2021 sind allerdings noch nicht einmal  online  für die FAS verfügbar. In der Vergangenheit veröffentlichte die FAS, die Sonntagszeitung der FAZ, an jedem ersten Sonntag im Monat die jeweilige Liste im Feuilletonteil. Noch einmal im Klartext: Leider gibt es die Liste ab 2021  noch nicht einmal  im FAZ-Internet. Ob die FAZ und FAS wissen, welche Einbuße sie damit bei Krimilesern erfahren? Da muß man froh sein, daß der Deutschlandfunk Kultur die Kriminalromane als anspruchsvolles Genre noch nicht aufgegeben hat, sondern weiterhin jeden ersten Freitag im Monat die neue Liste bringt, die wir sobald wir können, nachveröffentlichen.

An jedem ersten Freitag des Monats geben also 18 Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Die Krimibestenliste war zuvor eine Kooperation der Frankfurter Allgemeinen mit Deutschlandfunk Kultur, der Sender, der nun die Krimibestenliste alleine veröffentlicht und trägt. Das wäre schon für die Regierungskoalition in Sachsen-Anhalt ein wichtiges Argument, den Rundfunkgebühren zuzustimmen.


Die Jury:

Tobias Gohlis, Sprecher der Jury
Volker Albers, „Hamburger Abendblatt“
Andreas Ammer, „Druckfrisch“, ARD
Gunter Blank, „Rolling Stone“
Thekla Dannenberg, „Perlentaucher“
Hanspeter Eggenberger, „Tages-Anzeiger“
Fritz Göttler, „Süddeutsche Zeitung“
Jutta Günther, „Radio Bremen Zwei“
Sonja Hartl, „Zeilenkino“, „Crimemag“, „Deutschlandfunk Kultur“
Hannes Hintermeier, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“
Alf Mayer, „CulturMag“, „Strandgut“
Kolja Mensing, „Deutschlandfunk Kultur“
Marcus Müntefering, „Der Spiegel“
Ulrich Noller, „Deutschlandfunk Kultur“, „Deutschlandfunk“, „SWR“, „WDR“
Frank Rumpel, „SWR“
Ingeborg Sperl, „Der Standard“
Sylvia Staude, „Frankfurter Rundschau“
Jochen Vogt, „NRZ“, „WAZ“


Wie funktioniert die Abstimmung?

Die Krimibestenliste wird im Auftrag von Deutschlandfunk Kultur durch eine Jury aus Kritikerinnen und Kritikern erstellt.
Es sind die obigen 19 Spezialistinnen und Spezialisten für Kriminalliteratur aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, die aus der laufenden Produktion monatlich jeweils vier Titel vorschlagen, die sie mit sieben, fünf, drei oder einem Punkt bewerten.
Der so gefundene Punktwert pro Titel wird mit der Zahl der für ihn abgegebenen Stimmen multipliziert. Daraus wird die monatliche Liste berechnet.
Jedes Jurymitglied darf insgesamt drei Mal für denselben Titel votieren. Voten für Titel, an deren Entstehung oder Vorbereitung man beteiligt war, sind verboten.
Die Titel dürfen nicht älter als zwölf Monate und keine Wiederauflagen, Sammelbände oder Anthologien sein. Unterschiede zwischen Hardcover, Paperback und Taschenbuch werden nicht gemacht.
Im Durchschnitt kommen fünf Titel neu auf die monatliche Liste. Die Ziffer in Klammern gibt den Rang des Vormonats an.

Foto:
Cover

Info:
Rezensionen der Vormonate

Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im Februar 2021
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21208-tim-macgabhanns-der-erste-tote-von-suhrkamp-auf-platz-1
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21211-tim-macgabhanns-der-erste-tote-von-suhrkamp-auf-platz-2
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21226-dark-von-candice-fox-aus-dem-suhrkamp-verlag-auf-platz-7
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21248-westwind-von-samantha-harvey-im-atrium-verlag-auf-platz-3
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21249-boeses-blut-von-robert-galbraith-verlag-blanvalet-auf-dem-achten-rang
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21280-der-tschechische-thriller-die-residentur-trotz-qualitaet-und-aktualitaet-herausgefallen
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21256-das-grosse-aufraeumen-von-david-wish-wilson-suhrkamp-auf-platz


Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im März 2021
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21466-die-experten-von-merle-kroeger-bei-suhrkamp-auf-platz-1
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21465-mim-visier-des-snipers-von-stephen-hunter-festa-verlag-leider-verschwunden
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https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21483-speziell-zum-weltfrauentag-gestapelte-frauen-von-patricia-melo-auf-platz-3


Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im April 2021
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21737-unter-den-auf-der-liste-verschwundenen-auch-der-solist-von-jan-seghers
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https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21801-die-sechs-neuen-krimis-auf-der-liste
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21802-tom-hillenbrand-montecrypto-bei-kiwi-neu-auf-platz-4
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21825-simone-buchholz-mit-river-clyde-auf-platz
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21839-die-zwei-schwestern-von-chan-ho-kei-auf-platz-9
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21851-blacktop-wasteland-von-s-a-cosby-auf-platz


Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im Mai 2021
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/22067-david-peace-tokio-neue-stadt-von-liebeskind-auf-platz-1
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https://weltexpresso.de/index.php/buecher/22235-vor-gericht-von-matthias-wittekindt-auf-platz-4
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/22234-senkrechtstarter-tokio-neue-stadt-von-david-peace-auf-platz-1


Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im Juni 2021
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/22548-david-peace-mit-tokio-neue-stadt-weiterhin-auf-platz-1
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/22549-die-ausgeschiedenen-kroeger-wittekindt-melo-cosby-mcbride