Serie: DIE KRIMIBESTENLISTE im Juni 2021, Teil 4
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Diese beiden so unterschiedlichen Krimis, den DONNERSTAG MORDCLUB und den WEITER HIMMEL muß man einfach zusammenbinden, denn sie zeigen zwei Seiten Englands. Das skurrile, auch wohlhabende und seinen Teezeremonien verhaftete Ex-Kolonialland, im Grunde anständig, und eine Schicht von Reichen, die ihren Wohlstand und ihr bürgerliches Renommee insgeheim durch besonders üble Verbrechen erkaufen.
Interessant an beiden Krimis ist auch die Frauenperspektive. Während im Seniorenclub die Frauen die Vifen sind, aktiv, intelligent, kreativ eben, die auch den Mord aufklären, ist es hier Privatdetektiv Jackson Brodie, der extra in ein nordenglisches Küstendorf zieht, damit er mit den Intrigen, der Gier nach immer mehr und den unsozialen Verhältnissen, die Verbrecher gebären, nichts mehr zu tun hat. Kleine Aufträge erwartet er, Überwachungen ungetreuer Ehemänner oder Ehefrauen, etc. Was er jedoch am Schluß entlarvt, ist ein Mißachtung von Frauen auf doppelter Ebene. Sie werden von Männern als wirtschaftliche Ware verkauft, das sind die am Anfang schönen jungen Dinger, meist aus osteuropäischen Staaten, die gewinnbringend verkauft werden und so lange unter Rauschgift gesetzt werden, bis sie nicht mehr wissen, wie sie heißen von diesen angeblichen Ehrenmännern, die sich gleichzeitig repräsentative Ehefrauen halten, die also auf anderer Ebene, nämlich soziale Ware darstellen, wozu ihre Gebärfähigkeit gehört.
War das zu kompliziert? Es geht einfach darum, daß nur die Handlung zu erzählen, zu wenig und gleichzeitig zu viel ist. Denn in diesem Krimi dürfen die Täter nicht vorzeitig bekannt werden, dann wäre der Sog dahin und gleichermaßen geht es überhaupt nicht nur um Handlung, sondern um die Strukturen unserer, hier der englischen Gesellschaft, die möglich macht, daß die größten Schurken als Biedermänner, ja als besonders geehrte Mitglieder der Gesellschaft erscheinen. Der Schein und das Sein ist es, was Kate Atkinson in WEITER HIMMEL zum Thema macht. Keine Großmafia, sondern mafiöse Strukturen, die das Leben aller Leute ruinieren, zuerst nur das der anderen, aber kaum geht es an Aufklärung, erkennt man die Lebenslügen, den Sumpf der gesellschaftlich so gut beleumdeten Akteure. Männer eben.
Der subtile Witz an der Geschichte ist, daß noch vor Privatdetektiv Brodie, Atkinsonlesern wohl bekannt, ein anderer Mann das von drei Männern geschickt aufgebaute gesellschaftliche Lügengebäude zum Einsturz bringt. Das ist Vincent Ives, der im Golfclub den drei Helden Tommy, Andy und Steve als Watschenmann dient. Ein Versager vor dem Herrn, sei es finanziell oder bei Frauen oder oder, der gebannt mit gebücktem Kreuz zu seinen Peinigern aufblickt, bis er einen Zipfel einer furchtbaren Wahrheit erwischt, die ihn zu einem furchtlosen Menschen und Rächer für das Böse machen wird.
Es geht also um das Doppelleben von drei guten Bürgen, drei guten Ehemännern, Vätern, das mit Frauenkauf und -verkauf zu tun hat, mit Prostitution und Drogen. Aber mehr darf man einfach nicht verraten: das ist ein subtil geschriebenes, geschickt konstruiertes Buch, das man rundherum empfehlen kann.
Fortsetzung folgt
DIE KRIMIBESTENLISTE IM JUNI 2021
1 (1) David Peace: „Tokio, neue Stadt“
Aus dem Englischen von Peter Torberg
Liebeskind, München 2021
432 Seiten, 24 Euro
Tokio 1949, 1964, 1988. Rätsel bis heute: Wie kam Shimoyama, Präsident der Nationalen Eisenbahngesellschaft, unter den Zug? Sie zerbrechen daran: Spione, Detektive, Schriftsteller. Neu sind nur die Machtverhältnisse. Alt ist die Macht, undurchschaubar. Sprachgewaltig, Totenklage aus dem Diesseits.
2 (3) Colin Niel: „Nur die Tiere“
Aus dem Französischen von Anne Thomas
Lenos, Basel 2021
286 Seiten, 22 Euro
Massif Central, Côte d‘Ivoire. Verschwunden: die freizügige Frau eines wohlhabenden Mannes. Ein Schafzüchter findet zeitweilig bei ihr großes Glück. Der Mörder ist verknallt in die Fiktion einer Geliebten. Ein armer Mann macht Euros im Netz. Globalisierung: Sehnsucht ist Einsamkeit. Noir vom Land.
3 (-) Johannes Groschupf: „Berlin Heat“
Suhrkamp, Berlin 2021
254 Seiten, 14,95 Euro
Berlin 2021 nach Corona. Tom Lohoff, Tausende Euro Wettschulden, vermietet seine Plattenbauwohnung an zwei Typen, die darin einen AfD-Politiker gefangen halten. Desaster vorprogrammiert. Wie decouvriert man Braune? Zieh‘ ihnen parodistisch die Farbe ab. Showdown Reichskanzlei. Heißer Berlin-Roman.
4 (10) „Kate Atkinson: Weiter Himmel“
Aus dem Englischen von Anette Gruber
Dumont, Köln 2021
476 Seiten, 24 Euro
Yorkshire, Küste. Vier Golffreunde, drei davon Gentlemen mit Vergangenheit und üblen Geschäften. Dazu die Frauen: Mitwisserinnen, Aufgestiegene, brave Mütter – nordenglischer Mittelstand und seine Finsternisse. Dazwischen – immer noch clever – Privatdetektiv Jackson Brodie, leiser Held großer Romane.
5 (6) Louisa Luna: „Tote ohne Namen“
Aus dem Englischen von Andrea O‘Brien
Suhrkamp, Berlin 2021
444 Seiten, 15,95 Euro
San Diego. Zwei blutjunge Latinas aufgeschlitzt. Das Police Department engagiert Alice Vega samt Partner, nicht zur reinen Freude der Kollegen von der DEA. Die wollen die Tunnel aus Mexiko selbst kontrollieren, durch die die Mädchen kommen. Im Showdown tut sich Unerwartetes auf.
6 (-) Friedrich Ani: „Letzte Ehre“
Suhrkamp, Berlin 2021
270 Seiten, 22 Euro
München. „Verhämmerung“ – unvorstellbar zugerichtet ist die Frau eines Polizeikollegen. Verschwunden ist die 17-jährige Finja. Kommissarin Fariza Nasri hilft einer gequälten Frau, ihre Stimme zu finden. Und Fariza selbst? Männergewalt, Frauenzerstörung. So komplex, so herznah wie Ani schreibt keiner.
7 (2) Simone Buchholz: „River Clyde“
Suhrkamp, Berlin 2021
230 Seiten, 15,95 Euro
Hamburg, Glasgow. Disruption allerorten. Staatsanwältin Chastity Riley nimmt bei ihren schottischen Ahnen eine Auszeit. Ihre verlassenen Kumpels von der Polizei reden sich mit Vornamen an und üben Achtsamkeit in der „Blauen Nacht“. Trauer. Hamburger Immobilienhaie sind dagegen winzige Fischlein
8 (-) Sara Paretsky: „Landnahme“
Aus dem Englischen von Else Laudan
Ariadne im Argument Verlag, Hamburg 2021
544 Seiten, 24 Euro
Chicago, Kansas. Bis zu Chiles Militärdiktatur zurück und zum Ort eines Massakers führen Vic Warshawskis lange fruchtlosen Suchbewegungen. Was hat die talentierte Musikerin Lydia Zamir zur verstörten Obdachlosen gemacht? Was soll mit den Morden am Seeufer vertuscht werden? Vic geht auf höchstes Risiko.
9 (-) Beth Ann Fennelly/Tom Franklin: „Das Meer von Mississippi“
Aus dem Englischen von Eva Bonné
Heyne Hardcore, München 2021
384 Seiten, 22 Euro
Große Mississippiflut 1927. Fennelly und Franklin erzählen von Scharmützeln zwischen Schwarzbrennern und Prohibitionsagenten, Mord und Sabotage. Dazwischen einsam, kinderlos Dixie Clay, der unverhofft ein Baby überlassen wird. Bis die Naturkatastrophe die Verhältnisse durcheinanderwirbelt.
10 (-) Richard Osman: „Der Donnerstagsmordclub“
Aus dem Englischen von Sabine Roth
List, Berlin 2021
458 Seiten, 15,99 Euro
Kent. Alter – zählt nicht! Vier Senioren, geführt von Ex-Agentin Elizabeth (mit Panzerführerschein), lösen Cold Cases zum Spaß. Ernster sind die Morde an einem Unternehmer und seinem noch kriminelleren Kompagnon vor den Toren ihrer Luxusresidenz. Liebenswürdiger Cosy mit einer Prise schwarzem Humor.
Die Krimibestenliste, wo kann man sie lesen, wer erstellt sie, wo wird sie veröffentlicht?
WO? außerhalb von WELTEXPRESSO?
Die Krimibestenliste auf Deutschlandfunk Kultur
www.deutschlandfunkkultur.de
Die Krimibestenliste erscheint nicht mehr am ersten Sonntag des Monats in der Printausgabe: www.faz.net !!! Die zukünftigen Krimibestenlisten 2021 sind allerdings noch nicht einmal online für die FAS verfügbar. In der Vergangenheit veröffentlichte die FAS, die Sonntagszeitung der FAZ, an jedem ersten Sonntag im Monat die jeweilige Liste im Feuilletonteil. Noch einmal im Klartext: Leider gibt es die Liste ab 2021 noch nicht einmal im FAZ-Internet. Ob die FAZ und FAS wissen, welche Einbuße sie damit bei Krimilesern erfahren? Da muß man froh sein, daß der Deutschlandfunk Kultur die Kriminalromane als anspruchsvolles Genre noch nicht aufgegeben hat, sondern weiterhin jeden ersten Freitag im Monat die neue Liste bringt, die wir sobald wir können, nachveröffentlichen.
An jedem ersten Freitag des Monats geben also 18 Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Die Krimibestenliste war zuvor eine Kooperation der Frankfurter Allgemeinen mit Deutschlandfunk Kultur, der Sender, der nun die Krimibestenliste alleine veröffentlicht und trägt. Das wäre schon für die Regierungskoalition in Sachsen-Anhalt ein wichtiges Argument, den Rundfunkgebühren zuzustimmen.
Die Jury:
Tobias Gohlis, Sprecher der Jury
Volker Albers, „Hamburger Abendblatt“
Andreas Ammer, „Druckfrisch“, ARD
Gunter Blank, „Rolling Stone“
Thekla Dannenberg, „Perlentaucher“
Hanspeter Eggenberger, „Tages-Anzeiger“
Fritz Göttler, „Süddeutsche Zeitung“
Jutta Günther, „Radio Bremen Zwei“
Sonja Hartl, „Zeilenkino“, „Crimemag“, „Deutschlandfunk Kultur“
Hannes Hintermeier, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“
Alf Mayer, „CulturMag“, „Strandgut“
Kolja Mensing, „Deutschlandfunk Kultur“
Marcus Müntefering, „Der Spiegel“
Ulrich Noller, „Deutschlandfunk Kultur“, „Deutschlandfunk“, „SWR“, „WDR“
Frank Rumpel, „SWR“
Ingeborg Sperl, „Der Standard“
Sylvia Staude, „Frankfurter Rundschau“
Jochen Vogt, „NRZ“, „WAZ“
Wie funktioniert die Abstimmung?
Die Krimibestenliste wird im Auftrag von Deutschlandfunk Kultur durch eine Jury aus Kritikerinnen und Kritikern erstellt.
Es sind die obigen 19 Spezialistinnen und Spezialisten für Kriminalliteratur aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, die aus der laufenden Produktion monatlich jeweils vier Titel vorschlagen, die sie mit sieben, fünf, drei oder einem Punkt bewerten.
Der so gefundene Punktwert pro Titel wird mit der Zahl der für ihn abgegebenen Stimmen multipliziert. Daraus wird die monatliche Liste berechnet.
Jedes Jurymitglied darf insgesamt drei Mal für denselben Titel votieren. Voten für Titel, an deren Entstehung oder Vorbereitung man beteiligt war, sind verboten.
Die Titel dürfen nicht älter als zwölf Monate und keine Wiederauflagen, Sammelbände oder Anthologien sein. Unterschiede zwischen Hardcover, Paperback und Taschenbuch werden nicht gemacht.
Im Durchschnitt kommen fünf Titel neu auf die monatliche Liste. Die Ziffer in Klammern gibt den Rang des Vormonats an.
Foto:
Cover
Info:
Rezensionen der Vormonate
Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im Februar 2021
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21208-tim-macgabhanns-der-erste-tote-von-suhrkamp-auf-platz-1
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21211-tim-macgabhanns-der-erste-tote-von-suhrkamp-auf-platz-2
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21226-dark-von-candice-fox-aus-dem-suhrkamp-verlag-auf-platz-7
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21248-westwind-von-samantha-harvey-im-atrium-verlag-auf-platz-3
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21249-boeses-blut-von-robert-galbraith-verlag-blanvalet-auf-dem-achten-rang
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21280-der-tschechische-thriller-die-residentur-trotz-qualitaet-und-aktualitaet-herausgefallen
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21256-das-grosse-aufraeumen-von-david-wish-wilson-suhrkamp-auf-platz
Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im März 2021
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21466-die-experten-von-merle-kroeger-bei-suhrkamp-auf-platz-1
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21465-mim-visier-des-snipers-von-stephen-hunter-festa-verlag-leider-verschwunden
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21464-verweigerung-von-graham-moore-eichborn-verlag-auf-platz-6
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21483-speziell-zum-weltfrauentag-gestapelte-frauen-von-patricia-melo-auf-platz-3
Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im April 2021
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21737-unter-den-auf-der-liste-verschwundenen-auch-der-solist-von-jan-seghers
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21748-frederick-forsyth-die-akte-odessa-piper-verlag
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21764-merle-kroegers-die-experten-weiterhin-auf-platz-1
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21801-die-sechs-neuen-krimis-auf-der-liste
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Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im Mai 2021
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/22067-david-peace-tokio-neue-stadt-von-liebeskind-auf-platz-1
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/22216-verabschiedung-der-vier-ausgeschiedenen-wie-orkun-ertener
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/22235-vor-gericht-von-matthias-wittekindt-auf-platz-4
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/22234-senkrechtstarter-tokio-neue-stadt-von-david-peace-auf-platz-1
Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im Juni 2021
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/22548-david-peace-mit-tokio-neue-stadt-weiterhin-auf-platz-1
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