Bildschirmfoto 2024 09 12 um 00.58.27Serie: Gabriele D'Annunzio - Ein bewegtes Leben zwischen Kultur & Politik, Teil 11/15

Davide Zecca

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Der Silvesterabend vom Jahr 1919 wird als gutes Zeichen für das bevorstehende Geschehen genommen. Das Jahr 1920 wurde auf die Art und Weise eingeläutet, wie Fiume alles feierte: Mit Reden und Maschinengewehrsalven, die in die Dunkelheit feuerten. Der „Comandante“ schreibt: „Es gibt keinen Ort auf dieser Erde, an dem der menschliche Geist freier und neuer ist als an diesen Küsten. Lasst uns diese Schöpfung feiern und dieses Privileg bewahren.“

Dieser Ort, wo der „menschliche Geist freier“ und „neuer ist“, wird zu einer Kommune mit kafkaesken Formen. Gäste und Jünger D'Annunzios beschreiben Fiume ähnlich. Der Dichter-Freund Giovanni Comisso beschreibt seine Erinnerungen so: „Die Patisserien quollen über von wunderbaren Kuchen. Dabei luden jeden Abend die Bürger von Fiume die italienischen Offiziere zu Festen ein, die bis in den nächsten Morgen dauerten. Man aß, man tanzte, man trank.“ Ferner war die Stadt „voller hübscher Frauen“ und es hat „Liebschaften ohne Ende“ gegeben. Fiume wurde „durch das Blut italianisiert. Seitens der Männer gab es keine Eifersuchtsdramen, wohl aber seitens der Frauen. Sie stritten sich um die Italiener. Man sah Arditi, begleitet von Frauen in Militäruniform. Im Durcheinander der Liebe verbreiteten sich Krankheiten."

Diese freie Liebe in Fiume war keineswegs heteronormativ. D'Annunzio begrüßte Homosexualität sowie Nudismus, als er zusah, wie zwei Arditi Hand in Hand auf dem Weg zum Liebesspiel auf einem nahegelegenen Friedhof gingen, schwärmte er: „Sehen Sie sich meine Soldaten an, die zu zweit losziehen wie zur Zeit des Perikles.“.

Der Individualismus von Fiume wurde ebenfalls augenscheinlich bemerkbar. Der britische Schriftsteller Osbert Sitwell als Gast erinnert sich: „Jeder Mann hier schien eine von ihm selbst entworfene Uniform zu tragen: Einige trugen Bärte und hatten ihre Köpfe vollständig rasiert, um dem Kommandanten selbst zu ähneln. Andere hatten riesige Haarbüschel, einen halben Fuß lang, die aus ihrer Stirn wehten, und trugen, ganz hinten auf dem Schädel balancierend, einen schwarzen Fez. Umhänge, Federn und fließende schwarze Krawatten waren allgegenwärtig“. Wohingegen Frauen (männliche) Arditi-Uniformen mit dem Arditi-Markenzeichen, dem „römischen Dolch“ trugen und den männlichen Legionären gleichgestellt waren, wie etwa Margherita Incisa di Camerana, die im „Kommissariat“ die Einheit „La Disperata“ leitete.

Das libertine Leben musste ebenfalls seine natürlichen Dimensionen übertrumpfen – und dafür ist der Rausch ein bewährtes Medium der Wahl. Der belgische Literat, Musiker und D'Annunzios-Jünger Léon Kochnitzky beschrieb ein Ereignis aus seiner Sicht folgendermaßen: „Es gab in der Stadt eine Höhle, die ganz mit den Fellen von Eisbären ausgestopft war. Zwischen dichtem Weihrauchnebel wurden dort unzählige Orgien veranstaltet, unterbrochen von satanisch anmutenden Trankopfern. Die künstlichen Paradiese waren von diesem Bild nicht ausgeschlossen. Das Kokain fiel bisweilen wie Schnee auf das Abendmahl, man atmete das noch in den Schädeln dampfende Blut.“ Andere hingegen, wie der Abgeordnete der Sozialistischen Partei Italiens Filippo Turati sahen in Fiume ein „Bordell, einem Zufluchtsort für die Unterwelt und mehr oder weniger wohlhabende Prostituierte“. 

Fortsetzung folgt

Foto:
Zeichnung:
Gerd Kehrer - MEMORANDUM - 6/6
Zu den Kriegen sowie der Zerstörung der Umwelt im 21. Jahrhundert.
Kohle und Tusche auf Karton, 30 x 30 cm. (C) 2021 Gerd Kehrer

Info:
Zweitveröffentlichung vom 2. April 2024
Die bisherige Serie
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