Elisabeth Römer
Hamburg (Weltexpresso) – „Hamburg, mein Hamburg...!,“ wie verkommst Du doch im neuesten Krimi von Simone Buchholz zum Anhängsel an St. Pauli, noch dazu an seinen Fußballverein, der in den bierseligen Kneipen von Glasgow einen guten Ruf hat. Sie lebt in Hamburg, die Autorin, aber sie kommt aus dem hessischen Hanau, da hätte man doch erwarten können, daß die Glasgower ihre Schmach erwähnen, als sie 1959 gleich zweimal im damaligenHalbfinale des Europapokals der Landesmeister 1959/60 gegen Eintracht Frankfurt untergingen, am 13. April mit 6:1, im Rückspiel in Glasgow am 5.5. mit 3:6.
Nun gut, die Autorin ist erst 12 Jahre später geboren, aber Fußballergebnisse besonderer Art gehen ein in die Gene der lokalen Fußballfans. Doch „Hamburg, mein Hamburg...!“, heißt es auch deshalb, weil die Hamburger Staatsanwältin Chastity Riley das Buch über in Glasgow weilt, wo sie, die von ihren schottischen Wurzeln weiß, von einer ihr unbekannten, verstorbenen Tante deren Haus geerbt hat. Verständlich, daß sie abhaut, um dort nach dem Rechten zu sehen, also sich das Haus anzuschauen, ob sie das überhaupt haben will, ob es schuldenfrei ist oder sie Geld kosten soll. Aber völlig unverständlich, daß sie fliegt, als gerade der verbrecherische katastrophale Brandanschlag eine hohe Anzahl von Menschenleben fordert – und das alles, weil Immobilienspekulanten sich gegenseitig bekriegen. Das behaupte ich mal, denn Genaues weiß man nicht. Das ist wirklich der erste Kriminalroman – so steht es auf dem Titel - , der mit einer viele Menschenleben fordernden Tat beginnt, um die es im Roman weiter überhaupt nicht mehr geht. Abgesehen von der Information, daß hier von fünf beteiligten Immobilienverbrecher drei erschossen werden, erfährt man null über die Ermittlungen, kennt man am Schluß nicht die Schuldigen und letzten Endes auch nicht das konkrete Motiv. Man ahnt nur, es geht um den Reibbach, die Konkurrenz. Das langt nicht. Ernsthaft.
Was man sonst als Todessehnsucht kennt, scheint für die Staatsanwältin ihre Hamburgflucht zu sein. Alle ihre Liebsten sind neun Bücher nach Büchern ums Leben gekommen. Übrig geblieben ist in ihrem zehnten neben Riley allein Kommissar Ivo Stepanovic, der ob ihrer von ihm als Flucht angesehen Reise nach Glasgow sie bittet: „‘Bitte‘, sagt er, noch ein letztes Mal bevor du abhaust.‘ - ‚Ich haue ja nicht für immer ab‘. - ‚Das sagst Du jetzt, Riley.‘“ Es ging übrigens darum, gemeinsam eine zu rauchen; „‘Ich rauche nicht mehr‘, sagte ich mit der Kippe im Mundwinkel.‘“
Sie sehen, hier kann sich niemand auf irgendetwas verlassen. Das kann ja die Sache spannend machen. Tut sie aber nicht. Stattdessen liest man von traumverlorenen Bier- und Whiskytagen und -nächten in differenten Kneipen von Glasgow, die ihr mitsamt den trinkenden Männern ins Gemüt gehen. Frauen gibt es fast keine. Die Erbin erlebt das Schottische sehr atmosphärisch, elegisch, viel Regen, ein wenig Tee – und den titelgebenden River Clyde. Der übernimmt im Roman sogar eine Rolle und spricht zum Leser in kurzen, sich wiederholenden Kapiteln: „Der Fluß neigt sich gen Westen, und auf der Höhe von Partick produziert er ein paar kleine, dunkle Wellen, als würde er Kinder kriegen, aber dann fängt er sie wieder ein, beruhigt sich, legte sich still und wartet. Noch ist hier ja gar nichts passiert.“
Es wird auch nichts passieren, außer, daß die Hamburger Staatsanwältin – ein Beruf, den ihr in Glasgow keiner abnimmt – das geerbte Haus in der Einsamkeit am Meer findet, als sie es zusammen mit Tom aufsucht, der einmal ihre Tante, der sie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich sieht, liebte und nun ihr guter Freund wird. Die Tante ist übrigens auch da, will sagen ihr Geist, der ihr gut zuredet. Putzig ist vieles, schöne Redewendungen, poetische Gefühlslagen, viel, sehr viel Alkohol, ein paarmal Fish und Chips, interessante Kapitelüberschriften, auch zutreffende, wie: „Nächte sind doch die besseren Tage“, zumindest für Online- Zeitungsmacherinnen. Aber irgendwie ist das wie auf einer Glatze Locken drehen. Irgendwie ist hier ein Endstand. Ein doch sehr gewollter.
PS.:
Die Komik haben wir zu erwähnen vergessen, die für den Roman konstitutionell ist und thematisch in der Hamburger Selbstverwirklichungsgruppe von psychisch abgewirtschafteten Polizeibeamten ihren Ausdruck findet, die sich mit Vornamen anreden, ihre Gefühle schildern, ja sich anfassen sollen. Sehr komisch. Echt.
DIE KRIMIBESTENLISTE IM APRIL 2021
Die Krimibestenliste, wo kann man sie lesen, wer erstellt sie, wo wird sie veröffentlicht?
WO? außerhalb von WELTEXPRESSO?
Die Krimibestenliste auf Deutschlandfunk Kultur
www.deutschlandfunkkultur.de
Die Krimibestenliste erscheint nicht mehr am ersten Sonntag des Monats in der Printausgabe: www.faz.net !!! Die zukünftigen Krimibestenlisten 2021 sind allerdings noch nicht einmal online für die FAS verfügbar. In der Vergangenheit veröffentlichte die FAS, die Sonntagszeitung der FAZ, an jedem ersten Sonntag im Monat die jeweilige Liste im Feuilletonteil. Noch einmal im Klartext: Leider gibt es die Liste ab 2021 noch nicht einmal im FAZ-Internet. Ob die FAZ und FAS wissen, welche Einbuße sie damit bei Krimilesern erfahren? Da muß man froh sein, daß der Deutschlandfunk Kultur die Kriminalromane als anspruchsvolles Genre noch nicht aufgegeben hat, sondern weiterhin jeden ersten Freitag im Monat die neue Liste bringt, die wir sobald wir können, nachveröffentlichen.
An jedem ersten Freitag des Monats geben also 18 Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Die Krimibestenliste war zuvor eine Kooperation der Frankfurter Allgemeinen mit Deutschlandfunk Kultur, der Sender, der nun die Krimibestenliste alleine veröffentlicht und trägt. Das wäre schon für die Regierungskoalition in Sachsen-Anhalt ein wichtiges Argument, den Rundfunkgebühren zuzustimmen.
Die Jury:
Tobias Gohlis, Sprecher der Jury
Volker Albers, „Hamburger Abendblatt“
Andreas Ammer, „Druckfrisch“, ARD
Gunter Blank, „Rolling Stone“
Thekla Dannenberg, „Perlentaucher“
Hanspeter Eggenberger, „Tages-Anzeiger“
Fritz Göttler, „Süddeutsche Zeitung“
Jutta Günther, „Radio Bremen Zwei“
Sonja Hartl, „Zeilenkino“, „Crimemag“, „Deutschlandfunk Kultur“
Hannes Hintermeier, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“
Alf Mayer, „CulturMag“, „Strandgut“
Kolja Mensing, „Deutschlandfunk Kultur“
Marcus Müntefering, „Der Spiegel“
Ulrich Noller, „Deutschlandfunk Kultur“, „Deutschlandfunk“, „SWR“, „WDR“
Frank Rumpel, „SWR“
Ingeborg Sperl, „Der Standard“
Sylvia Staude, „Frankfurter Rundschau“
Jochen Vogt, „NRZ“, „WAZ“
Wie funktioniert die Abstimmung?
Die Krimibestenliste wird im Auftrag von Deutschlandfunk Kultur durch eine Jury aus Kritikerinnen und Kritikern erstellt.
Es sind die obigen 19 Spezialistinnen und Spezialisten für Kriminalliteratur aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, die aus der laufenden Produktion monatlich jeweils vier Titel vorschlagen, die sie mit sieben, fünf, drei oder einem Punkt bewerten.
Der so gefundene Punktwert pro Titel wird mit der Zahl der für ihn abgegebenen Stimmen multipliziert. Daraus wird die monatliche Liste berechnet.
Jedes Jurymitglied darf insgesamt drei Mal für denselben Titel votieren. Voten für Titel, an deren Entstehung oder Vorbereitung man beteiligt war, sind verboten.
Die Titel dürfen nicht älter als zwölf Monate und keine Wiederauflagen, Sammelbände oder Anthologien sein. Unterschiede zwischen Hardcover, Paperback und Taschenbuch werden nicht gemacht.
Im Durchschnitt kommen fünf Titel neu auf die monatliche Liste. Die Ziffer in Klammern gibt den Rang des Vormonats an.
Foto:
Cover
Info:
Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im Dezember 2020
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20678-goetter-und-tiere-von-denise-mina-von-ariadne-weiterhin-auf-platz-
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20679-platz-6-eric-plamondon-mit-taqawan-aus-dem-lenos-verlag
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20680-platz-1-denise-mina-goetter-und-tiere-ariadne-im-argument-verlag
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20735-die-guten-krimis-von-gestern-annas-rendon-steph-cha-u-a
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20733-real-tigers-von-mick-herron-von-diogenes-auf-platz-4
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20894-platz-9-und-10-ungewoehnliche-amerikanische-verbrecher-damals-1919-und-heute
Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im Januar 2021
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20958-dark-von-candice-fox-von-suhrkamp-auf-platz-1
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20962-dominique-manotti-mit-marseille-73-von-ariadne-bleibt-auf-platz-2
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20972-unter-den-ausgeschiedenen-kalmann-von-joachim-b-schmidt
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21031-unter-den-ausgeschiedenen-heisses-blut-von-un-su-kim
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https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21050-neu-auf-platz-8-nicci-french-mit-eine-bittere-wahrheit
konnten wir noch nicht besprechen, das wollten wir im Zusammenhang mit der Februarliste leisten, aber, siehe Teil 1, leider ist DIE RESIDENTUR einfach weggefallen. Deshalb wird in einem der nächsten Teile eine Besprechung folgen!
Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im Februar 2021
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21208-tim-macgabhanns-der-erste-tote-von-suhrkamp-auf-platz-1
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21211-tim-macgabhanns-der-erste-tote-von-suhrkamp-auf-platz-2
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21226-dark-von-candice-fox-aus-dem-suhrkamp-verlag-auf-platz-7
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21248-westwind-von-samantha-harvey-im-atrium-verlag-auf-platz-3
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21249-boeses-blut-von-robert-galbraith-verlag-blanvalet-auf-dem-achten-rang
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21280-der-tschechische-thriller-die-residentur-trotz-qualitaet-und-aktualitaet-herausgefallen
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21256-das-grosse-aufraeumen-von-david-wish-wilson-suhrkamp-auf-platz
Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im März 2021
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Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im April 2021
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21737-unter-den-auf-der-liste-verschwundenen-auch-der-solist-von-jan-seghers
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