Weltexpresso - Rebecca Makkai mit ICH HÄTTE DA EIN PAAR FRAGEN AN SIE auf Platz 6

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Serie: DIE KRIMIBESTENLISTE im Oktober 2023, Teil 3

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Bodie Kane, die durch ihre Podcasts über Kriminalfälle jeder kennt, kehrt als Dozentin auf Zeit dorthin zurück, wo sie als Internatsschülerin einige Zeit mit dem Mädchen im Zimmer zusammenlebte, das vor 20 Jahren ermordet wurde. Es war Thalia Keith, ein schönes Mädchen mit dunklen Locken und grünem Kleid. Sie spielte in dieser Schulaufführung des Musicals CAMELOT mit, was ein Video festhält, das eine Schulfreundin Bodie zuschickt. Kurz darauf war Thalia tot.

Das war und ist in New Hamshire, woran Bofir ungute Erinnerungen hat, denn sie ist ein häßliches Entlein gewesen, arm dazu, das sich später gemausert hat und zu einer attraktiven und beruflich erfolgreichen Frau wurde. Das spielt immer wieder in den Fall hinein, denn neben der Analyse des damaligen Mordfalls, für den, wie Bodie und viele andere fest glauben, ein Unschuldiger verurteilt wurde, spielt parallel immer ihre eigene Entwicklung und ihr gegenwärtigen Leben die zweite Hauptrolle. Das ist manchmal verwirrend, weil man so viel über sie gar nicht wissen will, was für das Heute gilt.

Die Rückerinnerungen an das Internat hingeben haben eine doppelte Funktion. Sie sollen die Hintergründe des Mordgeschehens klären helfen, aber sie sollen auch die damalige traurige Existenz von Bodie im Internat deutlich benennen, wie sie sich als Außenseiterin fühlte, fühlen mußte, weil sie von den reichen Mädchen so behandelt wurde, sich auch selbst so minderwertig fühlte, weil sie ein typisches häßliches Entlein war, das zum Schwan erst später wurde, wenigstens im eigenen Empfinden, das die Umwelt im Internat zurückspiegelte.

Bodie Kane, verheiratet, getrennt, der Mann kümmert sich intensiv um die zwei Söhne, was es Bodie möglich macht, in der Welt, der akademischen Welt, unterwegs zu sein, wobei ihre Podcasts ihr Standbein sind, die immer um Verbrechen an meist berühmten, schönen, reichen Frauen rühren.

Kaum ist sie an der alten Internatsstätte angekommen, überfallen sie die Erinnerungen. Sie hatte im Vorfeld von ihren Studierenden Vorschläge über deren potentielle Podcastideen angeregt, mit denen sie nun ihr Seminar beginnt. Eine von ihnen will unbedingt den Mord an ihrer Mitschülerin übernehmen, denn sie ist der Meinung, die Bodie insgeheim teilt, daß der Verurteilte, der Sportlehrer am Internat, ein Schwarzer dazu, unschuldig ist.

So wandert die Geschichte zwischen Gegenwart, der Erstellung des Podcasts im Seminar und der Vergangenheit, dem Geschehen vor 20 Jahren, hin und her, wobei der Erinnerungsfluß, der bei Bodie einsetzt, das Entscheidende ist. Denn da gibt es verschiedene Ebenen von Erinnerungen. Die, die sie einfach an früher hat. Dann aber tauchen in Gesprächen mit Mitschülern von damals Erinnerungsfetzen auf, die sich zu – wie sie meint – echten Erinnerungen mausern. Immer mehr wird ihr bewußt, darunter auch Interpretationen, die sie heute erst wagt auf Grund von Erlebnissen, die sie damals hatte, aber nicht reflektiert hatte. Ist das legitim, aus Erinnern aufgrund von heutigen Erkenntnissen für damals Schlüsse zu ziehen, ist eine der Fragen, die sie sich stellt.

Der eigentlich Trick im Roman ist jedoch ein anderer.Denn sie schreibt ihn nicht für die Tote, auch nicht für uns, damit wir von damals wissen, ihre Aufzeichnungen, dieser Roman sind an den gerichtet, den sie für den Mörder hält, den älteren, von allen verehrten Lehrer am Internat, mit dem die ermordete Thalia ein Verhältnis hatte, besser umgekehrt, er hatte ein Verhältnis mit seiner Schülerin, wie vorher mit anderen und nachher mit anderen auch. Die paar Fragen, die Bodie an ihn, den „Sie“ im Titel hat, sind ihre zum ersten Mal offen ausgesprochenen Verdächtigungen.

Es untersuchen also erst einmal zwei den alten Fall: die Studentin und die Lehrende, die sich austauschen, auch weil die Studentin weiß, daß Bodie dabei war und als Zeitzeugin fungiert. Aber und dieses ABER spielt unterschwellig eine große Rolle, es geht nur vordergründig um Thalia, es geht eigentlich um all die jungen Mädchen, die von erwachsenen Männern aus vielen Gründen angemacht, sexuell mißbraucht und eben sehr oft zum Schweigen gebracht werden durch ihre Ermordung.

Es gelingt, durch die neuen Recherchen den Fall noch einmal vor Gericht zu bringen, um den eigentlich Schuldigen anzuklagen. Und eigentlich sind es diese Passagen und der Ausgang des mit so viel Engagement erreichten Gerichtsfalls, der einen düster in die Zukunft sehen läßt, daß die gesellschaftlichen Strukturen, die Mord an minderjährigen Mädchen so leicht unterbelichtet und ungeahndet sein lassen, bleiben wie sie sind: ungerecht, verhärtet und immer arrivierte Männer schützend.

Die zehn besten Kriminalromane im Oktober 2023

1 (–) Jordan Harper: Alles schweigt
Aus dem Englischen
von Conny Lösch
Ullstein, 377 Seiten, 22,99 Euro

Los Angeles. Verderbtes Hollywood: Mae jobbt für die PR-Agentur, die Machtspiele
und Verbrechen der Reichen vertuscht. Ex-Cop Chris prügelt, wo Verleumdung nicht
mehr hinlangt. Als eine an Mogule verhökerte 14-Jährige schwanger wird, feinstes
Erpressungsmaterial, rebellieren Mae und Chris gegen das Dreckssystem.

2 (–) Frank Göhre:
Harter Fall
CulturBooks, 163 Seiten, 17 Euro

Hamburg, Jamaika: Freiheitsräume 1979. Für Kirsten aus Dänemark die Reeperbahn,
für Jan, Torsten und Peter die Reggae-Insel. Freiheit, die für Kirsten tödlich endet.
Auch für die anderen nicht schön. Rasante Schnitte in heißen Zeiten: RAF, Reggae,
Rock, quer durch die Schnöselgesellschaft und ihren Nachwuchs.

3 (–) Paula Rodríguez:
Dringliche Angelegenheiten
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen
Unionsverlag, 216 Seiten, 24 Euro

Buenos Aires. Hugo, wegen Mordes gesucht, entkommt scheinbar unerkannt einem
Zugunglück, doch der korrupte Cop Domínguez glaubt nicht an seinen Tod. Und als die
Krawall-Medien Wind von der Sache bekommen, zieht sich die Schlinge zu. Mit knappen Sätzen
gelingt Rodríguez ein fulminanter Latin Noir über Verbrecher und Heilige.

4 (4) Dennis Lehane: Sekunden der Gnade
Aus dem Englischen
von Malte Krutzsch
Diogenes, 399 Seiten, 26 Euro

Boston 1974. Schwarze Kinder sollen in Weiße Schulen und umgekehrt. Mary Pat,
Irin, Rassistin, sucht ihre Tochter, verschollen seit der Nacht, in der ein junger
Schwarzer getötet wurde. Als Pat völlig erfasst, was geschehen ist, macht sie, was
sie seit Kindertagen getan hat: Sie schlägt um sich, koste es, was es wolle.

5 (–) Laurent Mauvignier: Geschichten der
Nacht.
Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer
Matthes & Seitz, 511 Seiten, 28 Euro

„La Bassée“: Drei Häuser. Vater, Mutter, Tochter, Nachbarin. In Zeitlupe kriecht der
Thriller durch ihre Ängste, Erinnerungen, ihr Unausgesprochenes. Bis drei wütende
Brutalos das Idyll der Zwänge aufbrechen. Ihre Geiseln müssen ihr Intimstes, Verborgenstes
gestehen. Sonst… Ein Wunderwerk der Verlangsamung. Bis zum Knall.

6 (–) Rebecca Makkai: Ich hätte da ein paar
Fragen an Sie.
Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell
Eisele, 557 Seiten, 28 Euro

New Hampshire. Bodie Kane kehrt als Dozentin an das Internat zurück, in dem vor
über 20 Jahren ihre Zimmergenossin ermordet wurde. Ein Verdacht nagt an ihr:
Wurde der falsche Täter verurteilt? Kluge, spannende Reflexion über True Crime, die
Funktion von Erinnerung und die Allgegenwärtigkeit sexualisierter Gewalt.

7 (–) Monika Geier:
Antoniusfeuer
Ariadne/Argument, 432 Seiten, 24 Euro

Rheinland-Pfalz. Mutterkorn – ein Gift, das man sich nur fein dosiert auf der Zunge
zergehen lassen sollte. Geier serviert es häppchenweise in rasendem Tempo, schleudernd
zwischen Dämonen und Exorzismus, Jesus-Schwärzung, Wahn und heilignüchterner Ermittlung.
Verdiente den Perutz-Nachfolgerinnen-Preis und alle anderen.

8 (–) Stephen King: Holly
Aus dem Englischen
von Bernhard Kleinschmidt
Heyne, 640 Seiten, 28 Euro

USA, eine alte Stadt. Holly, die stotternde, schüchterne Privatdetektivin, sucht eine
junge Frau. Über Jahre sind Menschen fast unbemerkt an der gleichen Stelle verschwunden.
Ahnungslos trifft Holly auf ein altes Professorenpaar mit wahnhaften
Essgewohnheiten. Tolle Detektivstory mit ergreifendem Lob der Poesie.

9 (–) Gianrico Carofiglio: Groll
Aus dem Italienischen
von Verena von Koskull
Folio, 239 Seiten, 25 Euro

Mailand. Ex-Staatsanwältin Spada soll herausfinden, ob der „Institutsmonarch“
Professor Leonardi von einer Erbschleicherin ermordet wurde. Motto: „Die Wahrheit
schmerzt nur, wenn man lügt.“ Vertrackte Erzählung über Verdacht, Macht, Angst,
Selbsttäuschung und Offenheit. Rohdiamant, bei der Lektüre zu schleifen.

10 (2) Nicola Lagioia: Die Stadt der Lebenden
Aus dem Italienischen
von Verena von Koskull
btb, 508 Seiten, 25 Euro

Rom. Am 4. März 2016 folterten und ermordeten die Bürgersöhne Manuel Foffo
und Marco Prato den Handwerker Luca Varani. Anscheinend ohne Grund, aus Lust,
um zu sehen, wie einer totgemacht wird, über mehrere Tage. Tatsachenroman über
das Unerklärbare, das „Das Böse“ genannt wird. Ungeheuer.

Die Krimibestenliste, wo kann man sie lesen, wer erstellt sie, wo wird sie veröffentlicht?

WO? außerhalb von WELTEXPRESSO?

Die Krimibestenliste erscheint schon lange nicht mehr am ersten Sonntag des Monats in der Printausgabe: www.faz.net !!! In der Vergangenheit veröffentlichte die FAS, die Sonntagszeitung der FAZ, an jedem ersten Sonntag im Monat die jeweilige Liste im Feuilletonteil. Noch einmal im Klartext: Leider gibt es die Liste ab 2021 noch nicht einmal im FAZ-Internet. Ob die FAZ und FAS wissen, welche Einbuße sie damit bei Krimilesern erfahren? Da muß man froh sein, daß der Deutschlandfunk Kultur die Kriminalromane als anspruchsvolles Genre noch nicht aufgegeben hat, sondern weiterhin jeden ersten Freitag im Monat die neue Liste bringt, die wir sobald wir können, nachveröffentlichen.

An jedem ersten Freitag des Monats geben also 18 Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Die Krimibestenliste war zuvor eine Kooperation der Frankfurter Allgemeinen mit Deutschlandfunk Kultur, der Sender, der nun die Krimibestenliste alleine veröffentlicht und trägt. Das wäre schon für die Regierungskoalition in Sachsen-Anhalt ein wichtiges Argument, den Rundfunkgebühren zuzustimmen.

Tobias Gohlis, Sprecher der Jury
Volker Albers, „Hamburger Abendblatt“
Andreas Ammer, „Druckfrisch“, „BR“
Gunter Blank, „Rolling Stone“
Katrin Doerksen, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, „Kino-Zeit“
Hanspeter Eggenberger, „krimikritik.com“
Fritz Göttler, „Süddeutsche Zeitung“
Jutta Günther, Kritikerin
Sonja Hartl, „Zeilenkino“, „Crimemag“, „Deutschlandfunk Kultur“
Hannes Hintermeier, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“
Alf Mayer, „CulturMag“, „Strandgut“
Kolja Mensing, „Deutschlandfunk Kultur“
Marcus Müntefering, „Der Spiegel“
Ulrich Noller, „Deutschlandfunk“, „WDR“, „SWR“
Frank Rumpel, SWR
Ingeborg Sperl, „Der Standard“
Sylvia Staude, „Frankfurter Rundschau“
Jochen Vogt, „NRZ“, „WAZ“

Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im September 2023
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/29304-fuenf-neue-titel-einer-aus-deutschand-zwei-aus-den-usa-einer-aus-grossbritannien-und-einer-aus-der-ukraine https://weltexpresso.de/index.php/buecher/29305-die-ausgeschiedenen-ravey-flanagan-deshpande-mina-mccarten
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/29482-sekunden-der-gnade-von-dennis-lehane-neu-auf-platz-4
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https://weltexpresso.de/index.php/buecher/29504-funkloch-von-garry-disher-auf-platz-3
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/29629-shoot-the-moonlight-out-auf-platz

Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im Oktober 2023

https://weltexpresso.de/index.php/buecher/29641-ein-rueckblick-auf-disher-boyle-angoe-ross-kurkow
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/29623-acht-neue-titel-zwei-aus-deutschand-drei-aus-den-usa-je-einer-aus-argentinien-frankreich-und-italien