KERBHOLZ von Carl Nixon auf Platz 6

Serie: DIE KRIMIBESTENLISTE im Juli 2023, Teil 4

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Das paßt uns perfekt, daß dieser eindrucksvolle Roman, der im Juni auf Platz 9 rutschte, nun im Juli weiterhin weiter vorne dabei ist, denn wir hatten ihn aus den erwähnten Gründen noch nicht besprochen. Da denkt man, man kenne die Art der verschiedenen Kriminalromane und dann kommt so ein Familienroman daher, der alles über den Haufen wirft, was wir von einem Krimi erwarten und uns düster, ja, das schon, zurückläßt mit dem Wissen, von welchen Zufällen es abhängen kann, wenn das Leben einer ganzen Familie aus der Bahn geworfen wird,

In grundsätzlich zwei Zeitebenen, die eine beginnt fortlaufend am 4. April 1978 und hat zwei Stränge, die andere spielt am 14. November 2010 und nimmt den zweiten Strang auf, wird vom Schicksal einer Familie erzählt, die ausgelöscht wird. Der Vater, in London zu Hause, hat eine Stelle in Neuseeland angenommen und bevor es losgeht, wollen er und seine Frau mit den vier Kindern das noch unbekannte Land erkunden. Bei regnerischem Wetter gerät das Auto in einer Kurve aus der Bahn und stürzt den Felsen hinunter Richtung Fluß. Vater tot, Mutter tot, Baby tot. Es überleben schwer verletzt durch einen Beinbruch der älteste Sohn Maurice, etwa 13 Jahre, die um wenige Jahre jüngere Katherine und der kleine Tommy, der auf den Kopf gefallen ist mit den entsprechenden Folgen. Er spielt im Roman keine größere Rolle und stirbt früh durch die Mißhandlung des Mannes, der nach Tagen des Überlebens in der Wildnis die drei Kinder findet – und sie verschleppt. Peters hat eine geheime Haschischfarm, lebt im Bus und läßt sich von Martha, einer Farmerin mit Hühnern und Kühen bekochen und sexuell befriedigen, wenn es soweit ist.

Peters ist der eigentlich Boshafte und Gewalttätige, dem Maurice und Tommy ausgeliefert sind, während die tatooübersäte Martha eher mütterlich mit Katherine, die sie Kate nennt, umgeht. Ausbeuten, als billige Arbeitskräfte nutzen sie beide die Kinder und vor allen lügen sie, wenn sie behaupten, in völliger Einöde zu leben. Ganz zum Schluß wird Katherine das Auto entdecken, das vor ihnen versteckt wurde. Doch da ist sowieso alles aufgeflogen.

Es tut körperlich weh, seelisch sowieso, wenn Carl Nixon total sachlich den Ablauf, das Martyrium der Kinder schildert. Während Maurice zweimal versucht hat, zu fliehen,, aber von Peters Hunden gefunden wird, kommt Katherine überhaupt nicht auf die Idee, wegzulaufen. Sie stellt sich gelehrig an, lernt, Kühe zu melken, baut Gemüse an, hilft Martha, wo sie kann, so daß diese, die erst sehr fordernd auftrat, nach und nach ein gutmütiges Verhältnis zu dem Mädchen pflegt.

Suzanne ist die Schwester der gestorbenen Mutter. Sie ist unmittelbar, nachdem sich die neuseeländische Firma gemeldet hat, wo der neue Mitarbeiter bleibt, dorthin geflogen, war viermal dort und hat sogar ihre Nichte gesehen, aber mit der durch die viele körperliche Arbeit kräftigen jungen Frau ihre grazile Nichte nicht verbinden können. Nun wird ihr am 14. November 2010 das Auffinden des vor langer Zeit gestorbenen Maurice mitgeteilt. Aber er ist nicht zusammen mit den Eltern gestorben, sondern ein paar Jahre später. Das setzt Suzanne erneut in Bewegung. Und hier spielt auch das Kerbholz eine Rolle, denn die gemeinen Peters und Martha hatten den Kindern mit diesem Kerbholz die Schulden eingeritzt, die sie angeblich wegen Kost und Logie bei den Erwachsenen hatten. Dabei war es umgekehrt, die Kinder hätten Geld für ihre Arbeit bekommen müssen, vor allem ihre Freiheit.

Ich habe selten ein Buch gelesen, das mir so an die Nieren ging. Wahrscheinlich ist die Erschütterung durch die sachliche Darstellung um so größer. Und Kinder, erst recht so viele tote Kinder, steckt man nicht einfach weg. Dieser Roman bringt einen über das Lesen des konkreten Stoffes einfach dazu, sich über das Leben und seine Unwägbarkeiten Gedanken zu machen. "Ja, mach nur einen Plan! Sei nur ein großes Licht! Und mach dann noch'nen zweiten Plan. Gehn tun sie beide nicht. , reimte Bert Brecht. Was ist Schicksal? Und wie überlebe ich am besten? Durch Anpassung wie Kate? Muß Widerstand und Abhauen immer tödlich enden? Viele Fragen.



Die zehn besten Kriminalromane im Juli 2023

1 (–) Erin Flanagan: Dunkelzeit
Aus dem Englischen
von Cornelius Hartz und Stefanie Kremer
Atrium, 365 Seiten, 25 Euro

„Gunthrum“, Nebraska 1985. Peggy, wilde 16, ist verschwunden. Hal, geistig
eingeschränkt, hatte in derselben Nacht einen Unfall, Blut klebt am Truck.
Alma mütterlich: Hal oder das Gesetz? Das Dorf, puritanisch und versoffen, rottet
sich schon zusammen. Peggys Bruder Milo sieht alles von unten, ziemlich scharf.


2 (–) Yves Ravey: Taormina
Aus dem Französischen
von Holger Fock und Sabine Müller
Liebeskind, 112 Seiten, 20 Euro

Sizilien. Würstchen Melvil und höhere Tochter Luisa krachen nachts beim Ehekittungs-Urlaub gegen etwas, Beule am Mietauto. Mit tollpatschig-selbstherrlichen
Versuchen, alles richtig zu machen, niemanden zu kränken und alles zu vertuschen,
gerät Melvil immer tiefer in den Schlamassel. Bedrückend komischer Mittelmeer-Noir.


3 (–) Yasmin Angoe: Echo der Gewalt
Aus dem Englischen
von Karin Diemerling
Suhrkamp, 424 Seiten, 18 Euro

Ghana, Miami. Bei der Plünderung ihres Dorfes in Ghana wurde Nena Knight
vergewaltigt und als Sklavin verkauft. Jetzt mordet sie selbst: für die Zukunft
Afrikas, Tarnname „Echo“ nach NATO-Alphabet. Als sie auf die psychopathischen
Killer von damals stößt, läuft sie zu Großform auf. Rachegemälde in Blut-Orange.


4 (–) Nicola Lagioia: Die Stadt der Lebenden
Aus dem Italienischen
von Verena von Koskull
btb, 508 Seiten, 25 Euro

Rom. Am 4. März 2016 folterten und ermordeten die Bürgersöhne Manuel Foffo
und Marco Prato den Handwerker Luca Varani. Anscheinend ohne Grund, aus Lust,
um zu sehen, wie einer totgemacht wird, über mehrere Tage. Tatsachenroman über
das Unerklärbare, das „Das Böse“ genannt wird. Ungeheuer.
 

5 (3) James Kestrel: Fünf Winter
Aus dem Englischen
von Stefan Lux
Suhrkamp, 499 Seiten, 20 Euro

Honolulu, Hongkong, Tokio. Joe McGrady – ein Mann und der Krieg, das Verbrechen
und die Liebe. Der Detective folgt 1941 einem Mörder nach China, wird Gefangener
der Japaner, übersteht den Krieg im Versteck, verliebt sich und lässt nie die Jagd nach
dem Mörder aus dem Auge. Nicht überwältigend, sondern schlicht großartig.


6 (9) Carl Nixon: Kerbholz
Aus dem Englischen
von Jan Karsten
CulturBooks, 304 Seiten, 24 Euro

West Coast, Neuseeland, 1978. Familie Chamberlain stürzt in einen unwegsamen
Fluss. Die Eltern und das Baby sterben, drei ältere Kinder werden Tage später
gefunden und wachsen bei einem Hinterwäldlerpaar auf, wie Arbeitssklaven. Ihre
Tante aus London sucht sie. 32 Jahre später taucht das Skelett des ältesten Jungen auf.


7 (–) Tracey Lien: All die ungesagten Dinge
Aus dem Englischen
von Ulrike Wasel und Klaus Timmerman
Piper, 333 Seiten, 24 Euro


Cabramatta, Sydney. Als ihr kleiner Bruder ermordet wird, kehrt die Journalistin
Ky in die vietnamesische Community ihres Heimatortes zurück und ermittelt auf
eigene Faust. Kein Zeuge traut sich, den Mund aufzumachen. In Schuldgefühlen und
Schweigen kumuliert: das Leid geduldeter Migranten. Emotional forderndes Debüt.


8 (–) Anthony McCarten: Going Zero
Aus dem Englischen von
Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié
Diogenes, 454 Seiten, 25 Euro

Washington D.C., Boston. Wer sich der geballten Überwachungsmacht von CIA und
WorldShare 30 Tage lang entziehen kann, bekommt drei Millionen. Kann Bibliothekarin
Kaitlyn das schaffen? Multimilliardär Cy Baxter phantasiert vom publicprivate Überwachungsstaat;
Kaitlyn setzt auf Liebe und Vertrauen. Lebe verborgen!


9 (10) Mary Paulson-Ellis:
Das Erbe von Solomon Farthing
Aus dem Englischen von Kathrin Bielfeldt
Ariadne/Argument, 478 Seiten, 25 Euro

Edinburgh, 2016. Solomon soll mögliche Erben eines Soldaten aufspüren, in dessen
Sterbeanzug ein Vermögen eingenäht war. 100 Jahre umspannt seine Recherche,
reicht in die Geschichte seines Großvaters zurück, greift tief aus in Leben und
Sterben eines Trupps, der im Ersten Weltkrieg, dem „letzten aller Kriege“ kämpfte.


10 (–) Anjali Deshpande: Mord
Aus dem Hindi
von Almuth Degener
Draupadi, 207 Seiten, 19,80 Euro

Chattarpur, New Delhi. Suryabala, „Sonnenmädchen“, war schön und hatte große
Träume. Jetzt ist sie erstochen, eine Prostituierte unterer Kaste. Officer Adhirath ist
suspendiert, stöbert doch herum. Kastenschranken, Bürokratie, unantastbare Grundbesitzer,
der „ewige Konflikt zwischen Polizei und Bevölkerung“ – Indien hautnah.