Don Winslow: “City of Dreams” Äneas in Hollywood

Serie: DIE KRIMIBESTENLISTE im Juni 2023, Teil 2

Tobias Gohlis und Redaktion

Hamburg (Weltexpresso) - Mit „City of Dreams“ setzt Don Winslow seine amerikanische Trilogie um den blutigen Krieg zwischen irischen Mobstern und italienischen Mafiosi fort – und lässt sich dabei von den Mythen und Heldengeschichten der griechischen Antike inspirieren. Erinnern Sie sich an das Ende Trojas? Wie Äneas, seinen greisen Vater auf den Schultern,
den kleinen Sohn an der Hand, hinter sich die brennende Stadt, auf die Schiffe steigt, die ihn auf Umwegen nach Italien bringen werden, um dort das ewige Rom zu gründen?

Im zweiten Band seiner Abschiedstrilogie, in „City of Dreams“, zieht Don Winslow dicke Parallelen zu Virgils Äneis. Nachdem Danny Ryan seine verstorbene Frau im Krankenhaus
zurücklassen musste, flieht er, auf dem Rücksitz der zweijährige Sohn, im Tross bei seinen wenigen überlebenden irischen Gefährten der alte Trinker mit Tröppelblase, sein Vater
Marty. Auf der Flucht ins Exil, nach Kalifornien. „Das ist der alte amerikanische Traum“, denkt Danny. Don Winslow rekapituliert dann auf weiten Strecken den in „City of Fire“ geschilderten trojanischen Krieg zwischen der italienischen Mafia-Familie Moretti und Dannys irischen Murphys in Providence. Jetzt sind alle hinter
Danny her, Winslows Äneas: Eine FBI-Agentin, die den Tod ihres Geliebten, eines korrupten G-Mans, rächen will. Das Kartell, dessen Heroin Danny ins Meer geschleudert hat, die
erbitterten Morettis.

Das Rekapitulieren dauert eine Weile. Doch dann landet die Erzählung in Kalifornien, und Winslow verfällt in den harten, ironischen Sound, der seine Westküstenromane wie „Savages“ und „Kings of Cool“ über Surfer und Kiffer so leicht und herrlich unverfroren gemacht haben. Es kommt, wie es schon bei Virgil vorgeschrieben ist: Äneas verfällt Dido, der schönen Karthagerin, und Danny, der mit Unterstützung eines DEA-Beamten dem Kartell für 40 Millionen Stoff abgeknüpft hat, verfällt Diane, der schönsten Frau Hollywoods. Unnahbar,
drogenabhängig, erliegt sie dem irischen Charme. Während Söhnchen Ian bei seiner Großmutter in Las Vegas aufwächst, auch sie eine Schutzgöttin, die über Danny wacht, steigt dieser ins Film-Business ein. Das erlaubt ein paar nette Vergleiche zwischen kalifornischen Mafiosi und Ost-Küsten-Gangstern, überhaupt Einblicke in die Abgründe der Filmindustrie Hollywoods. Wären da nicht die Traumata der selbstmörderischen Diane und der Hass des Kartells – Danny könnte sein Leben als halbwegs ehrbarer Filmproduzent beschließen.

So endet „City of Dreams“ so brutal und so professionell konstruiert, wie es begonnen hat, mit einer Schießerei in der Wüste. Und wir warten auf den Abschluss der Trilogie mit „City in
Ruins“, das 2024 erscheinen soll. „City of Dreams“ von Don Winslow steht auf Platz 2 der Krimibestenliste Juni 2023


Foto:
Umschlagabbildung

Info:
Don Winslow
City of Dreams
Aus dem Amerikanischen von Conny
Lösch
HarperCollins
367 Seiten
24,00 Euro

Abdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung des Autors  https://recoil.togohlis.de/krimibestenliste-juni-2023/


Die zehn besten Kriminalromane im Juni 2023

1 (4) Kim Koplin:
Die Guten und die Toten
Suhrkamp, 255 Seiten, 16 Euro

Berlin, Hamburg. Leila skatet, lernt neue deutsche Worte und schläft im Parkhaus,
wo ihr Vater Saad Nobelschlitten bewacht. Nihal, Boxerin und Kommissarin, checkt
dort die Leichen saudischer Killer und mag Saad immer mehr. Erst recht, als dieser
auf einer Marihuana-Plantage sein Leben verteidigen muss. So rasant wie zart.


2 (–) Don Winslow: City of Dreams
Aus dem Englischen
von Conny Lösch
HarperCollins, 367 Seiten, 24 Euro

Los Angeles, San Diego. Mit den Millionen eines letzten Raubüberfalls im Rücken
landet Danny Ryan in Los Angeles, steigt ins Filmgeschäft ein und verliebt sich in
Star Diane. Doch Mafia, FBI und gierige Kumpane lassen nicht locker, Danny fightet.
Winslow findet zurück zum leichten, hart geschnittenen Ton von „Savages“.


3 (1) James Kestrel: Fünf Winter
Aus dem Englischen
von Stefan Lux
Suhrkamp, 499 Seiten, 20 Euro

Honolulu, Hongkong, Tokio. Joe McGrady – ein Mann und der Krieg, das Verbrechen
und die Liebe. Der Detective folgt 1941 einem Mörder nach China, wird Gefangener
der Japaner, übersteht den Krieg im Versteck, verliebt sich und lässt nie die Jagd nach
dem Mörder aus dem Auge. Nicht überwältigend, sondern schlicht großartig.


4 (3) Deepti Kapoor: Zeit der Schuld
Aus dem Englischen
von Astrid Finke
Blessing, 686 Seiten, 28 Euro

Delhi, nördliches Indien. Drei Schicksale: Ajay, aus unterster Kaste, Diener,
Beschützer des labilen, ultrareichen Gangstersohns Sunny. Neda, Journalistin aus
verarmtem Adel, unsterblich verliebt in Sunny. Und über den Dreien die mächtigen,
gewalttätigen, kindermordenden Väter. India today wie ein antiker Mythos.


5 (7) Jochen Rausch:
Im toten Winkel
Piper, 300 Seiten, 24 Euro

„Schwarzbach“. Gequält von Erinnerungen an den Tod ihrer Tochter wird Marta
Revierleiterin an der deutsch-tschechischen Grenze. Hier ist Jens vor zwei Jahrzenten
getötet worden, Marta rollt den Cold Case auf: verstrickte Polizisten, ein Wirtshaus,
eine Sekte. Traurig, verworren, was da im Wald versteckt und verdrängt wird.


6 (2) Percival Everett: Die Bäume
Aus dem Englischen
von Nikolaus Stingl
Hanser, 365 Seiten, 26 Euro

Money, Mississippi, unter Trump.1955wurde hier der 14-jährige Emmett Till gelyncht.
Heute werden weiße Rednecks ermordet und kastriert, am Tatort der unheimlich vertraut
wirkende Leichnam eines Schwarzen. Aufstand der Untoten, grotesk, komisch,
brillant und obszön: Zombies geben es den Rassisten zurück, Stück um Stück.


7 (–) Jose Dalisay: Last Call Manila
Aus dem Englischen
von Niko Fröba
Transit, 207 Seiten, 22 Euro

„Paez“, Manila. Im Sarg aus Saudi-Arabien liegt Aurora Cabahug. Polizist Walter kennt – erstaunlich – eine Sängerin gleichen Namens, verwandt mit der Toten.
Gemeinsam erforschen sie das Schicksal der in der Fremde Ermordeten. Einfühlsam,
sachlich erzählt: vom Leid und Kampf philippinischer Arbeitsmigrantinnen.


8 (6) John Brownlow: Seventeen
Aus dem Englischen
von Stefan Lux
Rowohlt, 396 Seiten, 13 Euro

Berlin, Milton. Wer aufsteigen will als Auftragsmörder, muss seinen Vorgänger
umlegen. So ist Seventeen zur Nummer Eins geworden. Jetzt soll er Sixteen, der sich
ausgestiegen versteckt hält, erledigen. Die Luft im Killergewerbe ist dünn, Vertrauen
tödlich. Atemberaubende Action, internationale Verwicklungen. Klasse.


9 (–) Carl Nixon: Kerbholz
Aus dem Englischen
von Jan Karsten
CulturBooks, 304 Seiten, 24 Euro

West Coast, Neuseeland, 1978. Familie Chamberlain stürzt in einen unwegsamen
Fluss. Die Eltern und das Baby sterben, drei ältere Kinder werden Tage später gefunden
und wachsen bei einem Hinterwäldlerpaar auf, wie Arbeitssklaven. Ihre Tante
aus London sucht sie. 32 Jahre später taucht das Skelett des ältesten Jungen auf.


10 (–) Mary Paulson-Ellis:
Das Erbe von Solomon Farthing
Aus dem Englischen von Kathrin Bielfeldt
Ariadne/Argument, 478 Seiten, 25 Euro

Edinburgh, 2016. Solomon soll mögliche Erben eines Soldaten aufspüren, in dessen
Sterbeanzug ein Vermögen eingenäht war. 100 Jahre umspannt seine Recherche,
reicht in die Geschichte seines Großvaters zurück, greift tief aus in Leben und
Sterben eines Trupps, der im Ersten Weltkrieg, dem „letzten aller Kriege“ kämpfte.