FÜNF WINTER von James Kestrel, neu auf Platz 2

Serie: DIE KRIMIBESTENLISTE im April 2023, Teil 6

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Man kann wirklich den Eindruck haben, das eigentlich Neue in der Literatur passiert im und mit dem Kriminalroman. FÜNF WINTER, als Thriller bezeichnet, ist ein so ungewöhnliches Buch, das man staunt, wie jemand auf eine solche Handlung kommt, die einem schon beim Lesen das Herz zerreißt.

Da ist ein ehrenwerter junger Mann, Joe McGrady, der seit fünf Jahren Polizist auf Hawai ist, aus dem Nirgendwo kommt und gerade anfängt, sich Ende November 1941 hier zu Hause zu fühlen, auch wenn er Außenseiter bleibt. Außerdem hat er sich in die Bibliothekarin Molly verliebt hat und darf den Eindruck haben, daß dies auf Gegenseitigkeit beruht. Da kommt der erste Mordfall, wo der arme junge Mann nackt in einem Schuppen kopfüber am Fleischerhaken hängt, ausgeweidet dazu , vielleicht Japaner, ein schreckliches Bild, das jeden verfolgt, der das gesehen hat und auch noch den, der davon liest.

Beim Aufsuchen der Leiche wird Joe fast erschossen, auf jeden Fall sein Wagen durchsiebt. Glück hat er, denn beim Zurückschießen bleibt der andere auf der Strecke, der einen geklauten Wagen fuhr und keine Papiere bei sich hat. Und dann wird eine weitere Leiche entdeckt, eine junge Frau, auch nackt, Orientalin, das Gesicht zerstückelt, Der Mörder liebt sein Messer, denkt sich McGrady und er weiß genau, welches Messer solche Schnitte hinterläßt. Die beiden Ermordeten waren ein Paar und der junge Mann der Neffe des Oberbefehlshabers der Pazifikflotte.

Verdächtig macht sich ein Mr. Smith, ein ungewöhnlich großer Kerl, wahrscheinlich ein Deutscher, den McGrady kurzfristig nach Hongkong verfolgen soll., lautet die Dienstanweisung. Eigentlich paßt es ihm nicht, denn er war mit Molly verabredet, doch bald ist ja Weihnachten und da ist er ja zurück, denkt er, wir kennen jedoch den Titel: Fünf Winter. Doch erst einmal Hongkong. Doch dort geht es hoch her, da zieht einer an Strippen, entweder kommt Joe zu spät, immer ist McGrady dran, wird sogar wegen Mordes festgenommen und dann ist auf einen Schlag die Welt verändert, die Japaner haben Hongkong eingenommen und McGrady wird nach Japan verschleppt. Es wäre sein Tod gewesen, denn der Haß auf die Amis ist gewaltig, aber der Diplomat Takahashi Kansei, der heimlich gegen die Kriegspolitik seiner Regierung arbeitet, nimmt ihn einfach mit nach Hause, wo auch Tochter Sachi lebt.

Keiner ahnt, daß dies ein jahrelanger Aufenthalt wird, in dem sich Joe nur im Haus aufhalten darf, was er dazu nutzt, von Sachi Japanisch zu lernen und Morsen auch, was noch wichtig wird. Auf Seite 289 fragt sie, wie lange er schon in Japan ist: „Eintausendeinhundertneunundfünfzig Tage“ die Antwort. Daß James Kestrel ein verdammt guter Schriftsteller ist, merkt man am stärksten in den Passagen über die japanischen Jahre, eingesperrt im Haus. Es kann ja eigentlich nichts passierten, aber man liest gebannt, verfolgt auch die mehr als leichte Annäherung der beiden, die nur deshalb nicht weitergeht, weil all die Jahre McGrady an seine Molly Briefe verfaßt, die er sammelt., denn abschicken darf er sie nicht. Die USA sind der Feind.

Und dann ist der Krieg zu Ende, er kehrt sofort nach Hawai zurück und findet in der Nachkriegszeit eine andere Welt vor. Und Molly, die ihn ja für tot hielt, wie alle anderen auch, ist mit seinem Polizeikumpel verheiratet und hat ein Kind. Das alles schreibt Kestrel so schnörkellos, so lakonisch, daß die Tragik,die hinter allem liegt, umso stärker wirkt, wodurch seine Texte trotz starker Gefühligkeit nie kitschig werden, obwohl alle Bestandteile dafür vorhanden sind. Daß es ein Krimi ist, haben wir jetzt ausgelassen, aber die Hintergründe sind so ungeheuerlich, daß man mit offenem Mund zurückbleibt, wenn sich das Ausmaß der Verbrechen und ihre Urheber herausschälen. Ja, man darf in Richtung seiner Polizeioberen denken. Er ist verraten und verkauft worden und seine damalige Liebste, für die er jahrelang eine andere Frau nicht lieben wollte, hat einen anderen. Nix wie weg! Schnell zurück nach Japan.

Ein wirklich wunderbares Buch. Ein tiefer Eindruck.

Die zehn besten Kriminalromane im APRIL 2023

1 (3) Percival Everett: Die Bäume
Aus dem Englischen
von Nikolaus Stingl
Hanser, 365 Seiten, 26 Euro
Money, Mississippi, unter Trump.1955wurde hier der 14-jährige Emmett Till gelyncht.
Heute werden weiße Rednecks ermordet und kastriert, am Tatort der unheimlich vertraut
wirkende Leichnam eines Schwarzen. Aufstand der Untoten, grotesk, komisch,
brillant und obszön: Zombies geben es den Rassisten zurück, Stück um Stück.


2 (–) James Kestrel: Fünf Winter
Aus dem Englischen
von Stefan Lux
Suhrkamp, 499 Seiten, 20 Euro
Honolulu, Hongkong, Tokio. Joe McGrady – ein Mann und der Krieg, das Verbrechen
und die Liebe. Der Detective folgt 1941 einem Mörder nach China, wird Gefangener
der Japaner, übersteht den Krieg im Versteck, verliebt sich und lässt nie die Jagd nach
dem Mörder aus dem Auge. Nicht überwältigend, sondern schlicht großartig.


3 (–) Deepti Kapoor: Zeit der Schuld
Aus dem Englischen
von Astrid Finke
Blessing, 686 Seiten, 28 Euro
Delhi, nördliches Indien. Drei Schicksale: Ajay, aus unterster Kaste, Diener,
Beschützer des labilen, ultrareichen Gangstersohns Sunny. Neda, Journalistin aus
verarmtem Adel, unsterblich verliebt in Sunny. Und über den Dreien die mächtigen,
gewalttätigen, kindermordenden Väter. India today wie ein antiker Mythos.



4 (4) Mathijs Deen: Der Taucher
Aus dem Niederländischen
von Andreas Ecke
Mare, 318 Seiten, 22 Euro
Deutsche Bucht. Am Meeresgrund ein Wrack mit doppelter Ladung: Kupferplatten
für eine Million, ein Toter in Handschellen. Die Schlüssel dazu außer Reichweite.
Ein Sadist muss den Wracktaucher ertränkt haben. Liewe Cupido ermittelt zu Wasser
und zu Lande Familienhintergründe voller Schuld, Hass und Rassismus.


5 (1) Megan Abbott: Aus der Balance
Aus dem Englischen von
Karen Gerwig und Angelika Müller
Pulp Master, 416 Seiten, 16 Euro
Ballettschule in den USA. Verkrüppelt, flüchtig, willensstark – so trainieren Charlie,
Marie und Dara tanz- und eifersüchtige Kinder: Die Aufführung des „Nussknackers“
steht an. Spitzentanz stößt auf animalische Gewalt, als Bauunternehmer Derek das
hermetische Dreieck aufmischt. Knisternd, phantastisch, bis zur Explosion.



6 (9) Riku Onda: Fische, die
in Sonnensprenkeln schwimmen
Aus dem Japanischen von Nora Bartels
Atrium, 240 Seiten, 22 Euro

Tokio. In der letzten gemeinsamen Nacht in der ausgeräumten Wohnung wollen sich
Aki und Hiro aussprechen. Bei einer Wanderung ist ihr Bergführer umgekommen.
Bis zur Erschöpfung hadern sie mit Erinnerung, Identität, Familie, Liebe und damit,
wer von ihnen gemordet hat. Alles kann geschehen sein, aber was ist wahr?


7 (–) David Hewson: Garten der Engel
Aus den Englischen
von Birgit Salzmann
Folio, 387 Seiten, 27 Euro
Venedig.1943 finden Mika und Giovanni,vor den Nazis geflüchtete Partisanen,Unterschlupf in der
Seidenweberei der Uccellos. Von Heldenmut, Verzweiflung, Verrat
jener Zeit handelt das Manuskript, das der sterbenskranke Großvater Uccello seinem
Enkel vermacht: Mahnung gegen das Vergessen, dunkle Geschichte des Welterbes.


8 (–) Jérôme Leroy:
Die letzten Tage der Raubtiere
Aus dem Französischen von Cornelia Wend
Edition Nautilus, 396 Seiten, 24 Euro
Frankreich, nahe Zukunft. Pandemie, Hitze, Aufstände, Lockdown. Präsidentin
Séchard kapituliert. Der Hexenkessel potenzieller Nachfolger brodelt. Morde unter
falscher Flagge machen Stimmung. Innenminister Beauséant jagt Clio, um ihren
Vater als Konkurrenten auszuschalten. Scharfer Politthriller mit poetischer Basslinie.

9 (–) Hayley Scrivenor
Dinge, die wir brennen sahen
Aus dem Englischen von Andrea O’Brien
Eichborn, 368 Seiten, 22 Euro
„Durton“, Australien. Nach der Schule verschwunden: Esther Bianchi, 12. Die
Ermittlungen der Polizei und die Erzählungen der Freunde Esthers zeichnen einen
Stadtplan von offener und mehr noch verdeckter Gewalt in „Dirt Town“, wie es die
Kinder nennen. Aber auch von Empathie. So fern ist der Outback nicht.

10 (8) Melissa Ginsburg: Sunset City
Aus dem Englischen
von Kathrin Bielfeldt
Polar, 214 Seiten, 17 Euro
Houston. In Ginsburgs Roadmovie durch Bars, Pornosets, Toiletten stinkt es nach Alk
und Abfall. Kurz nachdem Charlotte ihre ehemals beste Freundin Danielle wiedergesehen hat,
wird diese zu Tode geprügelt. Erschüttert den Mörder suchend handelt
Charlotte in den gängigen Währungen der Stadt: Sex, Drogen, Einsamkeit, Kälte.

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