GARTEN DER ENGEL von David Hewson, neu auf Platz 7

Serie: DIE KRIMIBESTENLISTE im April 2023, Teil 5

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Völlig unvermutet ist man auf einmal in Venedig 1943. Das sind genau die Nazi-Jahre, von denen man lieber nichts hören will, so grausam und schrecklich sind diese Typen in deutschem Namen aufgetreten. Aber es hilft ja nichts. Ist Geschichte, ist Wahrheit und schon bald ist man bei der Beschreibung der Gräueltaten froh, daß Autor David Hewson immer von den crucchi spricht und Übersetzerin Birgit Salzmann das beibehalten hat. Beim Lesen war mir ständig gegenwärtig, daß es die Deutschen in Osteuropa noch schlimmer getrieben haben, dabei denkt man schon in Venedig, grausamer geht es nicht.

Ein sehr interessanter Roman, mit dem ich nicht immer einverstanden war, d.h. das Handeln der Personen gerne immer wieder geändert hätte. Das ist eine interessante Erfahrung, denn das geht mir sonst nicht so, daß ich eigenmächtig den Handelnden ein anderes Verhalten vorschlagen möchte. Das liegt sicher am Thema, dem ich mich nun stellen muß. Eine verwickelte Geschichte, wo man höllisch aufpassen muß, wer gerade spricht, nein, von wem gerade erzählt wird, weil dann auch klar ist, in welchem Jahr wir gerade sind.

Da ist ein alter Seidenweber, Inhaber eines aussterbenden Gewerbes, für das Venedig berühmt war. Es geht um die Samtproduktion an speziellen Webstühlen. Paolo Uccello liegt im Jahr 1999 im Krankenhaus, sein Sohn betreibt für ihn die Geschäfte in London und sein 15 jähriger Enkel Nico ist zusammen mit ihm Hauptperson des Romas. Allerdings nicht der alte, in der Klinik Liegende, der taucht nur hin und wieder auf, sondern der junge Paolo im Jahre 1943. Der Großvater hat nämlich, da er von seinem baldigen Ableben weiß, für seinen Enkel die Ereignisse des Herbstes 1943 aufgeschrieben, als die crucchi in Venedig wüteten. Seinen Erfahrungsbericht, mehr als persönliche Erinnerungen, hat er aufgeteilt in Briefumschläge gesteckt, die er nach und nach dem Enkel mitgibt. Das ist ein literarisch profundes Mittel, immer wieder die Zeitebenen zu wechseln. So sind wir grundsätzlich im Jahre 1999, aber die Handlung spielt hauptsächlich 1943.

Die Eltern vom Jüngling Paolo sind gerade durch ein amerikanische Bomben auf ihren Zug, mit dem sie nach Venedig zurückkehrten, gestorben. Er ist mutterseelenallein in dem Haus ganz abseits des venezianischen Treibens, nur die guten Seele Chiara, die zudem die Kunst der Seidenweberei beherrscht, kümmert sich um ihn und hilft, den neuen Auftrag, zu erfüllen, den seine Elterngerade akquiriert hatten, wo doch in Kriegszeiten solch luxuriöse Stoffe eher nicht gehen. Aber hier geht es um gewebte Nazisymbole.

Da verändert sich sein Leben Knall auf Fall. Padre Filippo zieht ihn in ein Gespräch und bittet ihn, ein flüchtiges junges jüdisches Geschwisterpaar für ganz kurze Zeit bei sich aufzunehmen. Es ist die Zeit, wo die Judenverfolgung der Nazis eine totale wird und Venedig ‚judenfrei‘ sein soll. Der junge Paolo ist ein Feigling, sagen wir es offen, nein kein Feigling, sondern eine lahme Ente. Ungern sagt er dem Priester zu.Und tatsächlich kommen im Dunkeln über die Wasser Mika und Giovanni Artoms, jüdische Widerstandskämpfer, die Nico im Keller versteckt.

Aber er zeigt sich durchaus als Enkel früher erfolgreicher Unternehmer, denn er schlägt dem Geschwisterpaar vor, ihm bei der Produktion des Auftrags an den Webstühlen zu helfen, weil der Abgabetermin gerade vorgezogen wurde. Darauf läßt sich der sanfte giovanni auch ein, während die aufmüpfige Mika das Ausgehverbot ignoriert, sich ins Zentrum wagt, eine Widerstandszelle aufsucht und mit blond gefärbten Haaren sofort ein Attentat mitplant.

Gleichzeitig werden wir Zeugen, wie die Deutschen entweder Unliebsame, vor allem Juden sofort erschießen oder zusammentreten, oder die Deportationen aller Juden in Venedig vorbereiten.

Man kann das verwickelte Geschehen nicht im Detail wiedergeben. Aber man lernt daraus eine Menge. Das würde vielleicht nicht reichen, aber dann nimmt der Verlauf der Geschichte eine Wendung, die so ungewöhnlich wie überraschend ist und das ganze Buch in neuem Licht erscheinen lassen.

Für mich, die ich denke, so viel über den Nationalsozialismus zu wissen, eine wichtige venezianische Ergänzung. Harte Kost. Aber wie gesagt Wahrheit.

Die zehn besten Kriminalromane im APRIL 2023

1 (3) Percival Everett: Die Bäume
Aus dem Englischen
von Nikolaus Stingl
Hanser, 365 Seiten, 26 Euro
Money, Mississippi, unter Trump.1955wurde hier der 14-jährige Emmett Till gelyncht.
Heute werden weiße Rednecks ermordet und kastriert, am Tatort der unheimlich vertraut
wirkende Leichnam eines Schwarzen. Aufstand der Untoten, grotesk, komisch,
brillant und obszön: Zombies geben es den Rassisten zurück, Stück um Stück.


2 (–) James Kestrel: Fünf Winter
Aus dem Englischen
von Stefan Lux
Suhrkamp, 499 Seiten, 20 Euro
Honolulu, Hongkong, Tokio. Joe McGrady – ein Mann und der Krieg, das Verbrechen
und die Liebe. Der Detective folgt 1941 einem Mörder nach China, wird Gefangener
der Japaner, übersteht den Krieg im Versteck, verliebt sich und lässt nie die Jagd nach
dem Mörder aus dem Auge. Nicht überwältigend, sondern schlicht großartig.


3 (–) Deepti Kapoor: Zeit der Schuld
Aus dem Englischen
von Astrid Finke
Blessing, 686 Seiten, 28 Euro
Delhi, nördliches Indien. Drei Schicksale: Ajay, aus unterster Kaste, Diener,
Beschützer des labilen, ultrareichen Gangstersohns Sunny. Neda, Journalistin aus
verarmtem Adel, unsterblich verliebt in Sunny. Und über den Dreien die mächtigen,
gewalttätigen, kindermordenden Väter. India today wie ein antiker Mythos.



4 (4) Mathijs Deen: Der Taucher
Aus dem Niederländischen
von Andreas Ecke
Mare, 318 Seiten, 22 Euro
Deutsche Bucht. Am Meeresgrund ein Wrack mit doppelter Ladung: Kupferplatten
für eine Million, ein Toter in Handschellen. Die Schlüssel dazu außer Reichweite.
Ein Sadist muss den Wracktaucher ertränkt haben. Liewe Cupido ermittelt zu Wasser
und zu Lande Familienhintergründe voller Schuld, Hass und Rassismus.


5 (1) Megan Abbott: Aus der Balance
Aus dem Englischen von
Karen Gerwig und Angelika Müller
Pulp Master, 416 Seiten, 16 Euro
Ballettschule in den USA. Verkrüppelt, flüchtig, willensstark – so trainieren Charlie,
Marie und Dara tanz- und eifersüchtige Kinder: Die Aufführung des „Nussknackers“
steht an. Spitzentanz stößt auf animalische Gewalt, als Bauunternehmer Derek das
hermetische Dreieck aufmischt. Knisternd, phantastisch, bis zur Explosion.



6 (9) Riku Onda: Fische, die
in Sonnensprenkeln schwimmen
Aus dem Japanischen von Nora Bartels
Atrium, 240 Seiten, 22 Euro

Tokio. In der letzten gemeinsamen Nacht in der ausgeräumten Wohnung wollen sich
Aki und Hiro aussprechen. Bei einer Wanderung ist ihr Bergführer umgekommen.
Bis zur Erschöpfung hadern sie mit Erinnerung, Identität, Familie, Liebe und damit,
wer von ihnen gemordet hat. Alles kann geschehen sein, aber was ist wahr?


7 (–) David Hewson: Garten der Engel
Aus den Englischen
von Birgit Salzmann
Folio, 387 Seiten, 27 Euro
Venedig.1943 finden Mika und Giovanni,vor den Nazis geflüchtete Partisanen,Unterschlupf in der
Seidenweberei der Uccellos. Von Heldenmut, Verzweiflung, Verrat
jener Zeit handelt das Manuskript, das der sterbenskranke Großvater Uccello seinem
Enkel vermacht: Mahnung gegen das Vergessen, dunkle Geschichte des Welterbes.


8 (–) Jérôme Leroy:
Die letzten Tage der Raubtiere
Aus dem Französischen von Cornelia Wend
Edition Nautilus, 396 Seiten, 24 Euro
Frankreich, nahe Zukunft. Pandemie, Hitze, Aufstände, Lockdown. Präsidentin
Séchard kapituliert. Der Hexenkessel potenzieller Nachfolger brodelt. Morde unter
falscher Flagge machen Stimmung. Innenminister Beauséant jagt Clio, um ihren
Vater als Konkurrenten auszuschalten. Scharfer Politthriller mit poetischer Basslinie.

9 (–) Hayley Scrivenor
Dinge, die wir brennen sahen
Aus dem Englischen von Andrea O’Brien
Eichborn, 368 Seiten, 22 Euro
„Durton“, Australien. Nach der Schule verschwunden: Esther Bianchi, 12. Die
Ermittlungen der Polizei und die Erzählungen der Freunde Esthers zeichnen einen
Stadtplan von offener und mehr noch verdeckter Gewalt in „Dirt Town“, wie es die
Kinder nennen. Aber auch von Empathie. So fern ist der Outback nicht.

10 (8) Melissa Ginsburg: Sunset City
Aus dem Englischen
von Kathrin Bielfeldt
Polar, 214 Seiten, 17 Euro
Houston. In Ginsburgs Roadmovie durch Bars, Pornosets, Toiletten stinkt es nach Alk
und Abfall. Kurz nachdem Charlotte ihre ehemals beste Freundin Danielle wiedergesehen hat,
wird diese zu Tode geprügelt. Erschüttert den Mörder suchend handelt
Charlotte in den gängigen Währungen der Stadt: Sex, Drogen, Einsamkeit, Kälte.