DAS ERBE VON SOLOMON FARTHING von Mary Paulson-Ellis

Serie: DIE KRIMIBESTENLISTE im Juli 2023, Teil 5

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Mit MRS. WAKER hatte Mary Paulson-Ellis einen tiefschürfenden, historisch in jüngster Vergangenheit spielenden Kriminalroman veröffentlicht, der sie neu ins Geschäft brachte. DAS ERBE VON SOLOMON FARTHING bleibt auch in Schottland, in Edinburgh, geht aber nun noch einen Schritt zurück und wechselt in das Nordfrankreich von 1918, kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs.

Das hat damit zu tun, daß im Pflegeheim ein alter Mann, Thomas Methven, stirbt und Solomon Farthing sofort tätig wird, denn er ist ein sogenannter Erbenjäger, einer, der sich auf die Toten stürzt, die wohl keine Nachkommen haben oder Verwandte, die von dem Toten und dessen Tod nichts wissen und die entsprechende Information gut bezahlen. Es gibt nur ein Problem. Farthing muß das heimlich machen und vor allem ganz schnell, denn solche wie ihn gibt es reihenweise. Schnelligkeit ist also von Vorteil. Und sie lohnt sich. Denn im Anzug des Toten wird unfaßbar viel Bargeld gefunden (richtig: altes Geld: 50 000 Pfund), um das es ein Geschachere gibt. Die einen wollen das Geld mit ihm beerdigen, die anderen wollen es wohltätigen Zwecken zuführen und wiederum andere und vor allem Solomon wollen es für sich selbst.

Und daß er persönlich mit allem zu tun hat, merkt er auf einmal daran, daß es sein Großvater war, Captain Godfrey Farthing (1893-1971), der im November 1918 den Trupp von Soldaten verschiedener Grade in den letzten Kriegstagen heil nach England bringen sollte. Es gab und gibt Kriegsliteratur und sie unterscheiden sich hinsichtlich des Ersten Weltkriegs (Im Westen nichts Neues) vom Zweiten (Stalingrad, Die Wohlgesinnten). Die genannten Romane fand ich interessant, die ich sonst Kriegsliteratur nicht goutiere. Allerdings fällt mir auf, daß ich seit dem Ukrainekrieg auf einmal Kriegsgeschehen anders lese. Nachdem die angesichts der Größenordnung der Länder und ihrer Soldateska erwartete schnelle Niederlage der Ukraine nicht eintrat, sondern derzeit sogar verlorene, besetzte Gebiete rückerobert werden, wundert einen, wie die ganzen Tage, Wochen, Monate Kriegsgeschehen passiert und gleichzeitig das Leben der Leute einfach weitergeht.
Was nämlich da in Nordfrankreich geschieht, ist das Überleben in potentiellem Feindesland, denn die Deutschen hielten ja Frankreich besetzt. Da werden Zustände geschildert, die zum einen die Dienstverhältnisse, wer was zu sagen hat, klarstellen, aber auch die Gefühle und Sehnsüchte der jungen Männer, die an zu Hause denken, aber grundsätzlich geht es um das nackte Überleben und das Klauen von Lebensmitteln und das willkürliche Schlachten von Hühnern. Und das Kartenspiel und andere Spiele sind von Bedeutung. Die kleine Truppe weiß ja nicht, ob vor oder zurück, was genau jetzt passiert.

Diese Passagen tragen das Buch, das aber durch die Gegenwart vorwärtsgetrieben wird, wenn Solomon Farthing den alten Pfandschein in den Händen hält, klein und blau, der seine Neugier entfacht und an dem entlang er die Aufklärung, was damals geschah und woher das Geld kommt, betreibt. Dabei lernen wir viel über Alter und Alkohol, über Verwandtschaft auch und wie man einen gestorbenen Jungen durch ein Waisenkind ersetzt, das einfach den Namen des Toten erhält: .Thomas Methven.

Das Buch steckt voller Skurrilitäten, wenn beispielsweise Solomon nach 40 Jahren die Asche seines Großvaters überreicht wird. Es ist ein Bubenbuch, von vorne bis hinten; zwar kommen Frauen vor und sie spielen keine schlechte Rolle, aber sie sind nur der Tropfen auf dem heißen Stein.



Die zehn besten Kriminalromane im Juli 2023

1 (–) Erin Flanagan: Dunkelzeit
Aus dem Englischen
von Cornelius Hartz und Stefanie Kremer
Atrium, 365 Seiten, 25 Euro

„Gunthrum“, Nebraska 1985. Peggy, wilde 16, ist verschwunden. Hal, geistig
eingeschränkt, hatte in derselben Nacht einen Unfall, Blut klebt am Truck.
Alma mütterlich: Hal oder das Gesetz? Das Dorf, puritanisch und versoffen, rottet
sich schon zusammen. Peggys Bruder Milo sieht alles von unten, ziemlich scharf.


2 (–) Yves Ravey: Taormina
Aus dem Französischen
von Holger Fock und Sabine Müller
Liebeskind, 112 Seiten, 20 Euro

Sizilien. Würstchen Melvil und höhere Tochter Luisa krachen nachts beim Ehekittungs-Urlaub gegen etwas, Beule am Mietauto. Mit tollpatschig-selbstherrlichen
Versuchen, alles richtig zu machen, niemanden zu kränken und alles zu vertuschen,
gerät Melvil immer tiefer in den Schlamassel. Bedrückend komischer Mittelmeer-Noir.


3 (–) Yasmin Angoe: Echo der Gewalt
Aus dem Englischen
von Karin Diemerling
Suhrkamp, 424 Seiten, 18 Euro

Ghana, Miami. Bei der Plünderung ihres Dorfes in Ghana wurde Nena Knight
vergewaltigt und als Sklavin verkauft. Jetzt mordet sie selbst: für die Zukunft
Afrikas, Tarnname „Echo“ nach NATO-Alphabet. Als sie auf die psychopathischen
Killer von damals stößt, läuft sie zu Großform auf. Rachegemälde in Blut-Orange.


4 (–) Nicola Lagioia: Die Stadt der Lebenden
Aus dem Italienischen
von Verena von Koskull
btb, 508 Seiten, 25 Euro

Rom. Am 4. März 2016 folterten und ermordeten die Bürgersöhne Manuel Foffo
und Marco Prato den Handwerker Luca Varani. Anscheinend ohne Grund, aus Lust,
um zu sehen, wie einer totgemacht wird, über mehrere Tage. Tatsachenroman über
das Unerklärbare, das „Das Böse“ genannt wird. Ungeheuer.
 

5 (3) James Kestrel: Fünf Winter
Aus dem Englischen
von Stefan Lux
Suhrkamp, 499 Seiten, 20 Euro

Honolulu, Hongkong, Tokio. Joe McGrady – ein Mann und der Krieg, das Verbrechen
und die Liebe. Der Detective folgt 1941 einem Mörder nach China, wird Gefangener
der Japaner, übersteht den Krieg im Versteck, verliebt sich und lässt nie die Jagd nach
dem Mörder aus dem Auge. Nicht überwältigend, sondern schlicht großartig.


6 (9) Carl Nixon: Kerbholz
Aus dem Englischen
von Jan Karsten
CulturBooks, 304 Seiten, 24 Euro

West Coast, Neuseeland, 1978. Familie Chamberlain stürzt in einen unwegsamen
Fluss. Die Eltern und das Baby sterben, drei ältere Kinder werden Tage später
gefunden und wachsen bei einem Hinterwäldlerpaar auf, wie Arbeitssklaven. Ihre
Tante aus London sucht sie. 32 Jahre später taucht das Skelett des ältesten Jungen auf.


7 (–) Tracey Lien: All die ungesagten Dinge
Aus dem Englischen
von Ulrike Wasel und Klaus Timmerman
Piper, 333 Seiten, 24 Euro


Cabramatta, Sydney. Als ihr kleiner Bruder ermordet wird, kehrt die Journalistin
Ky in die vietnamesische Community ihres Heimatortes zurück und ermittelt auf
eigene Faust. Kein Zeuge traut sich, den Mund aufzumachen. In Schuldgefühlen und
Schweigen kumuliert: das Leid geduldeter Migranten. Emotional forderndes Debüt.


8 (–) Anthony McCarten: Going Zero
Aus dem Englischen von
Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié
Diogenes, 454 Seiten, 25 Euro

Washington D.C., Boston. Wer sich der geballten Überwachungsmacht von CIA und
WorldShare 30 Tage lang entziehen kann, bekommt drei Millionen. Kann Bibliothekarin
Kaitlyn das schaffen? Multimilliardär Cy Baxter phantasiert vom publicprivate Überwachungsstaat;
Kaitlyn setzt auf Liebe und Vertrauen. Lebe verborgen!


9 (10) Mary Paulson-Ellis:
Das Erbe von Solomon Farthing
Aus dem Englischen von Kathrin Bielfeldt
Ariadne/Argument, 478 Seiten, 25 Euro

Edinburgh, 2016. Solomon soll mögliche Erben eines Soldaten aufspüren, in dessen
Sterbeanzug ein Vermögen eingenäht war. 100 Jahre umspannt seine Recherche,
reicht in die Geschichte seines Großvaters zurück, greift tief aus in Leben und
Sterben eines Trupps, der im Ersten Weltkrieg, dem „letzten aller Kriege“ kämpfte.


10 (–) Anjali Deshpande: Mord
Aus dem Hindi
von Almuth Degener
Draupadi, 207 Seiten, 19,80 Euro

Chattarpur, New Delhi. Suryabala, „Sonnenmädchen“, war schön und hatte große
Träume. Jetzt ist sie erstochen, eine Prostituierte unterer Kaste. Officer Adhirath ist
suspendiert, stöbert doch herum. Kastenschranken, Bürokratie, unantastbare Grundbesitzer,
der „ewige Konflikt zwischen Polizei und Bevölkerung“ – Indien hautnah.

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