Weltexpresso - SEKUNDEN DER GNADE von Dennis Lehane, neu auf Platz 4

Details: Kategorie: Bücher; Veröffentlicht: 22. September 2023

Serie: DIE KRIMIBESTENLISTE im September 2023, Teil 3

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Es gibt Romane, nach deren Lektüre man die Welt besser versteht, insbesondere die aus den Angeln gehobene Welt. SEKUNDEN DER GNADE von Dennis Lehane, dessen Schreiben wir nach der tiefgründigen Verfilmung seines Romans SHUTTER ISLAND von Martin Scorsese nicht mehr aus den Augen lassen, gehört auf jeden Fall dazu. Er lehrt uns, wie dicht beieinander Haß und Vorurteil mit den Folgen von Mord und Todschlag liegen beim automatischen Übernehmen der Sitten und Gebräuche der Gesellschaft, in die man hineingeboren ist.

Die Handlung spielt im Boston des Jahres 1974. „Die Aufhebung der Rassentrennung an Bostons öffentlichen Schulen tritt am Morgen des 12. September 1974, einem Donnerstag, in Kraft.“ Bisher gab es Schulen für Schwarze und Schulen für Weiße. Da auch die Wohnsituation in Stadt und Vororten strikt getrennt war, sollten Teile der Schüler und Schülerinnen aus den ‚weißen‘ Vororten in Schulen im ‚schwarzen‘ Bereich befördert werden. Kein einziger weißer Schüler betritt einen der bereitgestellten Busse, die von der Polizei in Schutzausrüstung begleitet werden. Stattdessen säumen Eltern und Kinder protestierend die Straßen: „Nigger raus!“, „Nigger sind für den Arsch!“ etc. ist noch harmlos gegenüber dem Werfen von Steinen und Ziegeln. Schwarze Schüler werden in die Weißenschule South Boston High gefahren, wohin keiner der weißen Schüler gekommen ist. Als sich das herumspricht, triumphieren die weißen Aufständischen: „Sieg, Sieg…“.

Reflektiert man, daß dies erst knapp 50 Jahre her ist und die Aufhebung der Rassentrennung (vor allem die in den Bussen waren skandalträchtig) heute Geschichte ist, dann sieht man beim Lesen die heutigen Trumpwähler vor sich, deren radikaler Teil, denn die Herrschaft der Weißen und die Welt, wie sie mal war, bleibt für die Verlierer eine Vision. Es war halt früher, erst recht in der Sklavenhaltergesellschaft für Weiße ein besseres Leben! Eben.

Das ist aber nur der Hintergrund, eine Erklärung für das Verhalten und Handeln von Mary Pat Fennessy und für ihren Tod, einen Mord, den sie in Kauf nimmt, weil sie sich vorher rächen kann. Rächen an dem Mann, der wohlangesehen und verheiratet ihrer minderjährigen Tochter erst ein Kind machte und sie dann seiner Familie wegen umbrachte, denn sie hatte ihm gedroht, alles seiner Frau zu sagen.
Nur die Mutter wußte von nichts. Die sucht ihre nicht nach Hause gekommene Tochter Jules überall, bei den Freunden und den Feinden und nach und nach kommt sie einer schrecklichen Geschichte auf die Schliche. Ihre Tochter war beteiligt am Tod, ja am Mord eines schwarzen Jungen, der harmlos auf dem nächtlichen Bahnhof auf seine Bahn wartete.

Daß sie das überhaupt herausbekommt, ist ihrer nicht nachlassenden Aufklärungswut geschuldet, mit der sie die betonierten gesellschaftlichen Strukturen in den Weißen – und den Schwarzenvierteln durcheinanderwirbelt und alle, aber auch alle gegen sich aufbringt. Wie es Dennis Lehane schafft, uns auch durcheinanderzuwirbeln, ist schon literarische Kunst. Denn diese Mary Pat Fennessy ist eine furchtbare Frau, eine schreckliche Mutter und eine Reaktionärin der schlimmsten Art. Aber wir werden Zeuge, wie sie nach und nach erkennt, daß sie ihre Tochter falsch erzogen hat, daß sie eine Mitschuld trägt, daß diese nicht dem natürlichen Bedürfnis, einem schuldlos angegriffenen schwarzen Jungen, zu helfen, folgt, sondern ihn zusammen mit drei anderen tritt und schlägt.

Und so sind wir bei ihrem Rachefeldzug plötzlich auf ihrer Seite, ahnen nur, daß es schlimm ausgehen wird. Aber wir wissen, daß sie keine ruhige Minute im Leben mehr haben wird, da ihre Selbsterkenntnis, daß sie selber ihre Tochter durch falsche gesellschaftliche Grundsätze in den Tod getrieben hat, ihr kein sinnvolles Leben mehr möglich machen wird. Also lieber noch den Mörder ihrer Tochter und seine Spießgesellen ins Jenseits befördern.

Doch im Roman findet sich kein Wort gesellschaftspolitischer Analyse, das Wunderbare ist, daß sich die obige Erkenntnis im Kopf der Leserin vollzieht beim Lesen dessen, was Mary Pat widerfährt und wie sie nach und nach reagiert. Das Bewegendste dabei sind die Zusammentreffen der beiden Mütter, die der weißen Täterin und die des schwarzen Opfers, zwischen denen es keine Aussöhnung geben kann. In diesem Leben nicht, wohl aber beim Tod von Mary Pat, der folgerichtig sein muß, aber bei dem die Mutter des ermordeten Jungen zumindest weiß, daß diese die Richtigen mit in den Tod genommen hatte und ihr still Respekt erweist.
Sehr beeindruckend.

Die zehn besten Kriminalromane im September 2023

1 (–) Jan Costin Wagner:
Einer von den Guten
Galliani Berlin, 203 Seiten, 23 Euro

Wiesbaden, Dortmund. Beides ist Ben Neven: Leitender Ermittler gegen Pädosexuelle
und selbst einer. Seine Familie liebt er „über alles“, vergewaltigt turnusmäßig Adrian.
Der erträgt es mit Selbsttäuschung, findet einen Ausweg. Neven fliegt beinahe auf,
aber dann bleibt er unter den Guten, auf der Rasierklinge.

2 (2) Nicola Lagioia: Die Stadt der Lebenden
Aus dem Italienischen
von Verena von Koskull
btb, 508 Seiten, 25 Euro

Rom. Am 4. März 2016 folterten und ermordeten die Bürgersöhne Manuel Foffo
und Marco Prato den Handwerker Luca Varani. Anscheinend ohne Grund, aus Lust,
um zu sehen, wie einer totgemacht wird, über mehrere Tage. Tatsachenroman über
das Unerklärbare, das „Das Böse“ genannt wird. Ungeheuer.

3 (1) Garry Disher: Funklochen
Aus dem Englischen
von Peter Torberg
Unionsverlag, 350 Seiten, 24 Euro

Mornington Peninsula. Waldbrände, Vergewaltiger, Landmaschinendiebe, Drogendealer, Killer –
normale Krisen in entgleisendem Klima. Alle Spuren beginnen bei
einem verbrannten Fluchtwagen. Feines Netz der Ermittlungen: Im siebten Roman
mit Inspector Hal Challis und Kollegen dreht sich alles um ein verschwundenes Kind.

4 (–) Dennis Lehane: Sekunden der Gnade
Aus dem Englischen
von Malte Krutzsch
Diogenes, 399 Seiten, 26 Euro

Boston 1974. Schwarze Kinder sollen in Weiße Schulen und umgekehrt. Mary Pat,
Irin, Rassistin, sucht ihre Tochter, verschollen seit der Nacht, in der ein junger
Schwarzer getötet wurde. Als Pat völlig erfasst, was geschehen ist, macht sie, was
sie seit Kindertagen getan hat: Sie schlägt um sich, koste es, was es wolle.

5 (8) William Boyle:Shoot the Moonlight Out
Aus dem Englischen
von Andrea Stumpf
Polar, 349 Seiten, 26 Euro

Brooklyn 1996, 2001. Zwei Jungs machen Blödsinn, ein Mädchen stirbt, ein Vater
verzweifelt und findet sich wieder, ein Killer … Geschichten vom Schreiben, vom
Schweigen, vom Lügen. Miefend vor Schweiß, Trauer, duftend nach Liebe, Hoffnung
erzählt. Ein Romangewimmel verrannter, einsamer, lebendiger Figuren, best of Boyle.

6 (5) Yasmin Angoe: Echo der Gewalt
Aus dem Englischen
von Karin Diemerling
Suhrkamp, 424 Seiten, 18 Euro

Ghana, Miami. Bei der Plünderung ihres Dorfes in Ghana wurde Nena Knight
vergewaltigt und als Sklavin verkauft. Jetzt mordet sie selbst: für die Zukunft
Afrikas, Tarnname „Echo“ nach NATO-Alphabet. Als sie auf die psychopathischen
Killer von damals stößt, läuft sie zu Großform auf. Rachegemälde in Blut-Orange.

7 (7) Jacob Ross: Shadowman
Aus dem Englischen
von Karin Diemerling
Suhrkamp, 462 Seiten, 16,95 Euro

„Camaho“, Karibik. Forensische Wissenschaft und uraltes Wissen, „Digger“ Digson
und Miss Stanislaus rächen Gewalttaten und jagen skrupellose Verbrecher, vereint
in Zuneigung zueinander und zu ihrer wunderbaren Inselwelt, auf der Suche nach
echten Menschen, fit bei der Bekämpfung von Machos, Korrupten und Mördern. Toll.

8 (–) Sin Blaché / Helen MacDonald: Prophet
Aus dem Englischen
von Thomas Gunkel
Hanser, 527 Seiten, 25 Euro

USA und UK. Prophet, das neueste Halluzinogen, macht liebe Erinnerungen real:
Ein Wunschcafé, ein Teddybär materialisieren sich. Rao kann erkennen, was wahr
und was falsch, Rubenstein ist Elitesoldat. Das Duo soll Prophet stoppen, bevor es die
Macht ergreift. SF, Thriller, Lovestory – erregend wie lange nichts mehr.

9 (–) James Lee Burke:
Verschwinden ist keine Lösung
Aus dem Englischen von Jürgen Bürger
Pendragon, 464 Seiten, 24 Euro

New Iberia. Im dreiundzwanzigsten Fall sind Dave Robicheaux und sein Kumpel
Clete Purcel mit Kräften des Bösen konfrontiert, Jahrhunderte alt. Eine Familienfehde und
ein getriebener Zeitreisender, mal reuig, mal mörderisch, Daves Sucht
nach den Quellen menschlicher Grausamkeit – Burke strahlt mit großer Kunst.

10 (–) Andrej Kurkow: Samson und das
gestohlene Herz.
Aus dem Russischen
von Johanna Marx und Claudia Z

Kiew 1919. Samson, als Milizionär staunend-naiver Mitläufer der erstarkenden Sowjetmacht,
muss für die wichtige Nahrungsmittelversorgungsorganisation Fleischhändler jagen, einen
übereifrigen Tschekisten im Nacken. Auch Glück ist ihm beschert:
Nadjeshda kann er, befreit aus den Händen der Eisenbahner, atheistisch heiraten

Die Krimibestenliste, wo kann man sie lesen, wer erstellt sie, wo wird sie veröffentlicht?

WO? außerhalb von WELTEXPRESSO?

Die Krimibestenliste erscheint schon lange nicht mehr am ersten Sonntag des Monats in der Printausgabe: www.faz.net !!! In der Vergangenheit veröffentlichte die FAS, die Sonntagszeitung der FAZ, an jedem ersten Sonntag im Monat die jeweilige Liste im Feuilletonteil. Noch einmal im Klartext: Leider gibt es die Liste ab 2021 noch nicht einmal im FAZ-Internet. Ob die FAZ und FAS wissen, welche Einbuße sie damit bei Krimilesern erfahren? Da muß man froh sein, daß der Deutschlandfunk Kultur die Kriminalromane als anspruchsvolles Genre noch nicht aufgegeben hat, sondern weiterhin jeden ersten Freitag im Monat die neue Liste bringt, die wir sobald wir können, nachveröffentlichen.

An jedem ersten Freitag des Monats geben also 18 Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Die Krimibestenliste war zuvor eine Kooperation der Frankfurter Allgemeinen mit Deutschlandfunk Kultur, der Sender, der nun die Krimibestenliste alleine veröffentlicht und trägt. Das wäre schon für die Regierungskoalition in Sachsen-Anhalt ein wichtiges Argument, den Rundfunkgebühren zuzustimmen.

Tobias Gohlis, Sprecher der Jury
Volker Albers, „Hamburger Abendblatt“
Andreas Ammer, „Druckfrisch“, „BR“
Gunter Blank, „Rolling Stone“
Katrin Doerksen, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, „Kino-Zeit“
Hanspeter Eggenberger, „krimikritik.com“
Fritz Göttler, „Süddeutsche Zeitung“
Jutta Günther, Kritikerin
Sonja Hartl, „Zeilenkino“, „Crimemag“, „Deutschlandfunk Kultur“
Hannes Hintermeier, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“
Alf Mayer, „CulturMag“, „Strandgut“
Kolja Mensing, „Deutschlandfunk Kultur“
Marcus Müntefering, „Der Spiegel“
Ulrich Noller, „Deutschlandfunk“, „WDR“, „SWR“
Frank Rumpel, SWR
Ingeborg Sperl, „Der Standard“
Sylvia Staude, „Frankfurter Rundschau“
Jochen Vogt, „NRZ“, „WAZ“

Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im September 2023
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/29304-fuenf-neue-titel-einer-aus-deutschand-zwei-aus-den-usa-einer-aus-grossbritannien-und-einer-aus-der-ukraine
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/29305-die-ausgeschiedenen-ravey-flanagan-deshpande-mina-mccarten

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