Fünf Neue: Kestrel, Kapoor, Hewson, Leroy, Scrivenor

Serie: DIE KRIMIBESTENLISTE im April 2023, Teil 1

Elisabeth Römer

Hamburg (Weltexpresso) – Das ist schon allzu deutlich, daß die zehnteilige April- Krimibestenliste sieben aus dem Englischen übersetzte Kriminalromane aufweist und je einen aus dem Japanischen, Französischen und dem Niederländischen übersetzt. Das heißt, erneut kein deutscher Krimi auf der Liste, wie schon im März, während im Februar Johannes Groschupf mit DIE STUNDE DER HYÄNEN auf Platz 2 saß, im Januar sogar auf Platz 1 und Matthias Wittekindt mit DIE ROTE JAWA auf Platz 9. Von 40 Nennungen von Januar bis April, sind 37 fremdsprachige, nur drei mal deutsche Krimis.

Schaut man aber noch mal genau hin, erkennt man, daß in den Monaten Januar bis April außer drei Nennungen deutscher Autoren, zwei Mal dänische, drei Mal französische, zwei Mal niederländische , zwei Mal japanische, ein Mal ein spanischer Roman aufgeführt sind. Im Klartext: 32 Mal gibt es englischsprachige und 8 Mal nichtenglischsprachige Krimis. Das zeigt einmal mehr, wie wir alle Amerikaner geworden sind, bzw. werden. Romane aus Südostasien, überhaupt Asien werden oft mit dem Bezug zu den USA auf Englisch verfaßt. Osteuropa gibt es so wenig wie Südeuropa, aber auch Skandinavien fehlt seit längerem auf der Krimibestenliste. Es gibt die Krimis aber, das erkennt man in einem Blick in den Buchhandlungen. Woher also rührt diese englischsprachige Überübermacht. Daß die Krimis ‚besser‘ sind? Das kann man so lange nicht beurteilten, wie man die fehlenden nicht überblickt, d.h. welche in Frage kämen.

Was wir uns für das nÄchste Mal allerdings vornehmen, das ist, die neuen deutschen Krimis auf dem Schirm zu haben, damit wir nicht nur das totale Fehlen deutscher Krimis anmahnen, sondern auch welche vorschlagen können. Und jetzt zu den Neuen. Und was zur Aprilliste auch noch zu sagen ist, ist was sehr Gutes: das ausgewogene Verhältnis von fünf Autoren und fünf Autorinnen. Wenigstens das. Und noch was: im März waren unter den Zehn der Liste sogar sechs Autorinnen!

Gleich auf Platz 2 landet eine Überraschung. James Kestrel? Nie gehört, was einen auch nicht wundern muß. Bisher hieß er anders. Jonathan Moore, in Hawai zu Hause und von Beruf Anwalt hatte es mit POISON ARTIST, einen anspruchsvollen Roman über Kunst, Gift und Mord, auf die Krimibestenliste geschafft. FÜNF WINTER, erschienen bei Suhrkamp, ist ein so eigener, wie wunderbarer Roman. Man hat das Gefühl, noch nie so einen Krimi gelesen zu haben, der die große Weltpolitik mit der Welt der kleinen Leute derart verbinden kann, der von der Liebe so sprechen kann wie vom Haß, den Morden dazu.

Hier wird einem klar, was spätestens seit Obama – ob sein Geburtsort: Hawai dabei eine Rolle spielt? - die amerikanische Politik stärker in Richtung Südostasien, den gesamten pazifischen Raum treibt, während viele Jahrzehnte Europa wesentlicher schien.

Paßt doch, daß es gleich mit ZEIT DER SCHULD von Deepti Kapoor aus dem Blessing Verlag auf Platz 3 weitergeht. Deepti Kapoor ist im indischen Bundesstaat Uttar Pradesh geboren, lebt heute in Portugal, schreibt als Journalistin und als Autorin. Zeit- und Ortssprünge führen uns drei Personen vor Augen, die alle in einen Unfall verwickelt sind, der zu Beginn geschildert wird. Ein Mercedes rast über eine Brücke, wo Tagelöhne schlafen, schliefen muß man sagen, denn der Wagen tötet einzelne. Der Falsche stellt sich der Polizei,damit der Täten, ein Promi im Drogenrausch nicht ins den Knast muß. Der Falsche ist Ajay, um den es gehen wird, er kommt aus der untersten Kaste, wurde ver- und gekauft und stieg auf bis zum Diener Sunny Wadias, dem Firlefanzsohn eines ernormreichen Gangsters. Was Neda, seine Geliebte an ihm findet, muß man sich fragen. Kann man sich in dem gesellschaftlichen Geflecht von Korruption, wo Gangster und Geld die Szene beherrschen, seine Ehre bewahren?

Auf Platz 7 folgt ein englischsprachiger Krimi aus dem Folioverlag/Südtirol: David Hewsons GARTEN DER ENGEL spielt in Venedig 1943. Die Stadt ist voller Flüchtlinge, sie kommen aus allen Richtungen, die Nazis haben das Kommando. Zwei junge Partisanen gelingt es, sich in einer Seidenweberei zu verstecken. Was geschehen ist, liest der Enkel des Mannes, der alles aufgeschrieben hat und jetzt im Sterben liegt. Die Attentate, Hinrichtungen, Deportationen werden portionsweise Thema, weil der Großvater das Lesen des Manuskriptes unterteilt. Der teils in Venedig lebende Brite Hewson läßt die Geschichte zu Wort kommen.

Wenn man den Namen Jérôme Leroy liest, sind die letzten Romane noch im Gedächtnis. Diesmal in DIE LETZTEN TAGE DER RAUBTIERE geht es um das Ende der fünften Republik. Wie das? Die am 4. Oktober 1958 gegründete fünfte Republik besteht ja derzeit und man kann seinen Roman als Kommentar zur Zeitgeschichte lesen. Es geht um politische Intrigen, die der amtierenden Präsidentin Séchards mit ihrem sehr viel jüngeren Ehemann (aha!) zu schaffen machen. Die politischen Grüppchen werden aufgezählt. Man glaubt, die Personen zu kennen. Scharfzüngig mit Witz und eminent politisch.

Bleibt Hayley Scrivenor aus Australien, die in einer dortigen Kleinstadt das Verschwinden einer 12jährigen zum Thema macht, wobei die Leser die düstere Wahrheit wissen, die für die Ermittlung erst am Schluß steht.

Die zehn besten Kriminalromane im APRIL2023

1 (3) Percival Everett: Die Bäume
Aus dem Englischen
von Nikolaus Stingl
Hanser, 365 Seiten, 26 Euro
Money, Mississippi, unter Trump.1955wurde hier der 14-jährige Emmett Till gelyncht.
Heute werden weiße Rednecks ermordet und kastriert, am Tatort der unheimlich vertraut
wirkende Leichnam eines Schwarzen. Aufstand der Untoten, grotesk, komisch,
brillant und obszön: Zombies geben es den Rassisten zurück, Stück um Stück.


2 (–) James Kestrel: Fünf Winter
Aus dem Englischen
von Stefan Lux
Suhrkamp, 499 Seiten, 20 Euro
Honolulu, Hongkong, Tokio. Joe McGrady – ein Mann und der Krieg, das Verbrechen
und die Liebe. Der Detective folgt 1941 einem Mörder nach China, wird Gefangener
der Japaner, übersteht den Krieg im Versteck, verliebt sich und lässt nie die Jagd nach
dem Mörder aus dem Auge. Nicht überwältigend, sondern schlicht großartig.


3 (–) Deepti Kapoor: Zeit der Schuld
Aus dem Englischen
von Astrid Finke
Blessing, 686 Seiten, 28 Euro
Delhi, nördliches Indien. Drei Schicksale: Ajay, aus unterster Kaste, Diener,
Beschützer des labilen, ultrareichen Gangstersohns Sunny. Neda, Journalistin aus
verarmtem Adel, unsterblich verliebt in Sunny. Und über den Dreien die mächtigen,
gewalttätigen, kindermordenden Väter. India today wie ein antiker Mythos.


4 (4) Mathijs Deen: Der Taucher
Aus dem Niederländischen
von Andreas Ecke
Mare, 318 Seiten, 22 Euro
Deutsche Bucht. Am Meeresgrund ein Wrack mit doppelter Ladung: Kupferplatten
für eine Million, ein Toter in Handschellen. Die Schlüssel dazu außer Reichweite.
Ein Sadist muss den Wracktaucher ertränkt haben. Liewe Cupido ermittelt zu Wasser
und zu Lande Familienhintergründe voller Schuld, Hass und Rassismus.


5 (1) Megan Abbott: Aus der Balance
Aus dem Englischen von
Karen Gerwig und Angelika Müller
Pulp Master, 416 Seiten, 16 Euro
Ballettschule in den USA. Verkrüppelt, flüchtig, willensstark – so trainieren Charlie,
Marie und Dara tanz- und eifersüchtige Kinder: Die Aufführung des „Nussknackers“
steht an. Spitzentanz stößt auf animalische Gewalt, als Bauunternehmer Derek das
hermetische Dreieck aufmischt. Knisternd, phantastisch, bis zur Explosion.



6 (9) Riku Onda: Fische, die
in Sonnensprenkeln schwimmen
Aus dem Japanischen von Nora Bartels
Atrium, 240 Seiten, 22 Euro

Tokio. In der letzten gemeinsamen Nacht in der ausgeräumten Wohnung wollen sich
Aki und Hiro aussprechen. Bei einer Wanderung ist ihr Bergführer umgekommen.
Bis zur Erschöpfung hadern sie mit Erinnerung, Identität, Familie, Liebe und damit,
wer von ihnen gemordet hat. Alles kann geschehen sein, aber was ist wahr?


7 (–) David Hewson: Garten der Engel
Aus den Englischen
von Birgit Salzmann
Folio, 387 Seiten, 27 Euro
Venedig.1943 finden Mika und Giovanni,vor den Nazis geflüchtete Partisanen,Unterschlupf in der
Seidenweberei der Uccellos. Von Heldenmut, Verzweiflung, Verrat
jener Zeit handelt das Manuskript, das der sterbenskranke Großvater Uccello seinem
Enkel vermacht: Mahnung gegen das Vergessen, dunkle Geschichte des Welterbes.


8 (–) Jérôme Leroy:
Die letzten Tage der Raubtiere
Aus dem Französischen von Cornelia Wend
Edition Nautilus, 396 Seiten, 24 Euro
Frankreich, nahe Zukunft. Pandemie, Hitze, Aufstände, Lockdown. Präsidentin
Séchard kapituliert. Der Hexenkessel potenzieller Nachfolger brodelt. Morde unter
falscher Flagge machen Stimmung. Innenminister Beauséant jagt Clio, um ihren
Vater als Konkurrenten auszuschalten. Scharfer Politthriller mit poetischer Basslinie.

9 (–) Hayley Scrivenor
Dinge, die wir brennen sahen
Aus dem Englischen von Andrea O’Brien
Eichborn, 368 Seiten, 22 Euro
„Durton“, Australien. Nach der Schule verschwunden: Esther Bianchi, 12. Die
Ermittlungen der Polizei und die Erzählungen der Freunde Esthers zeichnen einen
Stadtplan von offener und mehr noch verdeckter Gewalt in „Dirt Town“, wie es die
Kinder nennen. Aber auch von Empathie. So fern ist der Outback nicht.

10 (8) Melissa Ginsburg: Sunset City
Aus dem Englischen
von Kathrin Bielfeldt
Polar, 214 Seiten, 17 Euro
Houston. In Ginsburgs Roadmovie durch Bars, Pornosets, Toiletten stinkt es nach Alk
und Abfall. Kurz nachdem Charlotte ihre ehemals beste Freundin Danielle wiedergesehen hat,
wird diese zu Tode geprügelt. Erschüttert den Mörder suchend handelt
Charlotte in den gängigen Währungen der Stadt: Sex, Drogen, Einsamkeit, Kälte.