Weltexpresso - Es müssen gehen: Lehane, Makkai, King und Lagioia

Details: Kategorie: Bücher; Veröffentlicht: 05. November 2023

sekunden der gnade gebundene ausgabe dennis lehane

Serie: DIE KRIMIBESTENLISTE im November 2023, Teil 2

Elisabeth Römer

Hamburg (Weltexpresso) – Das gehört sich so – zumindest für uns, die wir auf WELTEXPRESSO uns ja zu Krimioberkennern mausern -, daß man die Kriminalromane, die einen mehrere Monate begleitet hatte, auch verabschiedet und bei denen, die kurzfristig auf der monatlichen Liste dabei waren, die haben es erst recht nötig, noch einmal erwähnt zu werden. Denn, so ist das heutzutage, es ist eine Flut von Romanen, die sich in die Buchhandlungen ergießt, was es den potentiellen Käufern oft schwer macht, welches Buch er kaufen soll, denn allzuoft wird dann das Äußere höher bewertet, als der Inhalt. Auch gegen so etwas ist man mit der Krimibestenliste gefeit.

SEKUNDEN DER GNADE von Dennis Lehane aus dem Diogenes Verlag hatten wir – siehe Link unten – sehr gut besprochen, weil es einfach ein gutes Buch ist. Sehr oft spielen amerikanische Kriminalromane in Gegenden, wo der Urkonflikt zwischen Weiß und Schwarz und dann in zweiter Linie auch zwischen Ureinwohnern und Kolonialisten herrscht, die aber heute nicht mehr so genannt werden, sondern die neuen Ureinwohner sind, einschließlich der rechtlichen Gegebenheit, daß, wer in den USA geboren wird, US-Staatsbürger ist.

Sehr gerne wird in diesen Romanen rückwärts geschaut, hier sind wir in Boston 1974, weil der Rassenkonflikt früher noch deutlicher war, also noch tödlicher verlief, noch krimineller die Ursache und Wirkung ablief. Hier ist es eine Mutter, die ihre Tochter verliert und darüber eigentlich ihren Verstand, dann aber mit dem Rest ein so unglaubliches Faß für ihre weißen Nachbarn aufmacht, daß allein die Fabel selbst umwerfend ist und Art und Weise, wie uns Lehane alles nahebringt, noch die Kirsche obendrauf ist, wenn man so locker doch gesellschaftlich sehr schwierige Lagen bezeichnen darf.
Diese beeindruckende Geschichte – Lehane ist für uns seit seinem von Martin Scorsese verfilmten Thriller: Shutter Island ein Großer – war seit September auf der Liste dabei und das immer weit vorne!

Der typische amerikanische Hochschul-Schulroman von Rebecca Makkai: ICH HÄTTE DA EIN PAAR FRAGEN AN SIE, wobei in Groß- und Kleinschrift das ‚Sie‘ wichtig ist, kam dagegen erst im Oktober auf die Krimibestenliste, aber immerhin auf Platz 6. Er ist schon ein bißchen geschwätzig, dieser Roman, Verlag Eisele, aber das Hin und Her über einen Mord vor 20 Jahren, für den ein Unschuldiger verurteilt wurde, gehört dazu und auch eine Ermittlerin, Bodie Kane, die im Brotberuf eine Podcasterin ist – aha, das ist inzwischen ein Beruf! - , aber auch akademische Würden hat und das Podcasten unterrichtet, wobei eine der Teilnehmerinnen sich den auch der Lehrenden wichtige Mord an ihrer Mitschülerin am selben Ort, wo jetzt das Seminar läuft, als Untersuchungsgegenstand aussucht. Das nimmt seinen Lauf. Die Ich-Erzählerin dagegen hat einen sehr viel älteren und jungen Damen mehr als gewogenen Lehrer im Blick, an den sie ihre Überlegungen richtet. Daher das ‚Sie‘.

HOLLY von Stephen King aus dem Heyne Verlag mag man gar nicht noch weiter herausstellen. Dieser Groß- und Vielschreiber ist ein Könner, bei dem jeder Roman gelingt. Die Ankündigung hatte einen Vorsatz, der lautete: „Kaum meint man, das Schlimmste erlebt zu haben, wozu der Mensch fähig ist, wird man eines Besseren belehrt. Das Böse ist unendlich.“ Dieser Satz ist so allumfassend, daß man ihn bei jeder Krimibestenliste erwähnen könnte. Wir wollten das wenigstens einmal tun!

Holly ist eine Frau, sie ist Privatermittlerin, wozu man früher wohl Privatdetektivin sagte, - auch interessant, wie stark der Begriff Ermittler um sich greift, auch wir verwenden ihn sehr gerne und häufig. Aber die von Stephen King erfundene Holly hat eine eigene, eigenmächtige Entwicklung genommen. Denn eigentlich war sie für King nur vorübergehend interessant und in Geschichten eingebunden. Und dann hat sie sich – an die er nicht mehr dachte – so prägnant in seine Geschichte hineingeschmuggelt, daß er nicht anders konnte, als dies zu akzeptieren und sie sogar zur Hauptperson zu machen. Dieser Vorgang ist genauso wichtig, wie die eigentliche Geschichte, die darin gipfelt, daß Holly, die mitten in einer Lebenskrise steckt, durch einen Anruf sich und ihre Krise vergißt, denn die Anruferin sagt: „Meine Tochter Bonnie ist vor drei Wochen verschwunden, und die Polizei unternimmt nichts.“

Dem Krimibestenleser fällt auf, schon wieder eine Tochter, wie schon bei Lehane und schon wieder ein totes Mädchen, wie in allen bisherigen drei Krimis, von denen wir uns im November verabschieden.

Beim vierten Kriminalroman, bei DIE STADT DER LEBENDEN von )Nicola Lagioia ist alles anders. Erstens ist es ein junger Mann, der tot und ganz entsetzlich zugerichtet aufgefunden wird, und zweitens ist es das Niederschreiben eines wirklich Mordes, der am 4. März 2016 in Rom stattfand, als die als vollkommen harmlos und tendenziell schwul geschilderten Bürgersöhne Manuel Foffo und Marco Prato den jungen Handwerker Luca Varani foltern – tatsächlich ohne Grund, er war der falsche Mann am falschen Platz zur falschen Zeit. Der sehr gut geschriebene Roman ist beim Lesen kaum auszuhalten, es ist einfach beim fiktionaler Roman für den Leser, die Leserin einfacher mit Schmerz, Folter, Ermordung, Tod umzugehen, als bei dem Nacherzählen der Wirklichkeit.

Die zehn besten Kriminalromane im November 2023

1 (–) Andreas Pflüger:
Wie Sterben geht
Suhrkamp, 448 Seiten, 25 Euro

Pullach, Berlin, Moskau 1980-83. Nina Winter, Slawistin, BND-Agentin, führt den
wichtigsten westlichen Spion, einen hohen KGB-Offizier. Um ihn und seinen Sohn
auszuschleusen, tötet, rennt, ertrinkt sie. Sterben, um zu überleben. Sprachgewaltig,
Action zum Mitzittern, Treue im Verrat. Meisterwerk des deutschen John le Carré.

2 (1) Jordan Harper: Alles schweigt
Aus dem Englischen
von Conny Lösch
Ullstein, 377 Seiten, 22,99 Euro

Los Angeles. Verderbtes Hollywood: Mae jobbt für die PR-Agentur, die Machtspiele
und Verbrechen der Reichen vertuscht. Ex-Cop Chris prügelt, wo Verleumdung nicht
mehr hinlangt. Als eine an Mogule verhökerte 14-Jährige schwanger wird, feinstes
Erpressungsmaterial, rebellieren Mae und Chris gegen das Dreckssystem.

3 (2) Frank Göhre:
Harter Fall
CulturBooks, 163 Seiten, 17 Euro

Hamburg, Jamaika: Freiheitsräume 1979. Für Kirsten aus Dänemark die Reeperbahn,
für Jan, Torsten und Peter die Reggae-Insel. Freiheit, die für Kirsten tödlich endet.
Auch für die anderen nicht schön. Rasante Schnitte in heißen Zeiten: RAF, Reggae,
Rock, quer durch die Schnöselgesellschaft und ihren Nachwuchs.

4 (9) Gianrico Carofiglio: Groll
Aus dem Italienischen
von Verena von Koskull
Folio, 239 Seiten, 25 Euro

Mailand. Ex-Staatsanwältin Spada soll herausfinden, ob der „Institutsmonarch“
Professor Leonardi von einer Erbschleicherin ermordet wurde. Motto: „Die Wahrheit
schmerzt nur, wenn man lügt.“ Vertrackte Erzählung über Verdacht, Macht, Angst,
Selbsttäuschung und Offenheit. Rohdiamant, bei der Lektüre zu schleifen.

5 (–) Zoë Beck:
Memoria
Suhrkamp, 281 Seiten, 16,95 Euro

Frankfurt, München, nahe Zukunft. Harriet kann mehr als sie ahnt. Autofahren. Hart
Zuschlagen. Wüste Erinnerungen plagen sie, blutig, nicht zuzuordnen. Aus Frankfurt
flieht sie, in München tastet sie sich vor in ihre verschüttete Jugend, hin zu jenem
Konzertabend, der ihr schwierigster und letzter war, landet in großer Gefahr.

6 (3) Paula Rodríguez:
Dringliche Angelegenheiten
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen
Unionsverlag, 216 Seiten, 24 Euro

Buenos Aires. Hugo, wegen Mordes gesucht, entkommt scheinbar unerkannt einem
Zugunglück, doch Cop Domínguez glaubt nicht an seinen Tod. Als die KrawallMedien Wind
von der Sache bekommen, zieht sich die Schlinge zu. Knappe Sätze,
Rodríguez gelingt ein fulminanter Latin Noir über Verbrecher und Heilige.

7 (7) Monika Geier:
Antoniusfeuer
Ariadne/Argument, 432 Seiten, 24 Euro

Rheinland-Pfalz. Mutterkorn – ein Gift, das man sich nur fein dosiert auf der Zunge
zergehen lassen sollte. Geier serviert es häppchenweise in rasendem Tempo, schleudernd zwischen Dämonen
und Exorzismus, Jesus-Schwärzung, Wahn und heilignüchterner Ermittlung. Verdiente den Perutz-Nachfolgerinnen-Preis und alle anderen.

8 (5) Laurent Mauvignier: Geschichten der
Nacht. Aus dem Französischen
von Claudia Kalscheuer
Matthes & Seitz, 511 Seiten, 28 Euro
„La Bassée“: Drei Häuser. Vater, Mutter, Tochter, Nachbarin. In Zeitlupe kriecht der
Thriller durch ihre Ängste, Erinnerungen, ihr Unausgesprochenes. Bis drei wütende
Brutalos das Idyll der Zwänge aufbrechen. Ihre Geiseln müssen ihr Intimstes, Verborgenstes
gestehen. Sonst… Ein Wunderwerk der Verlangsamung. Bis zum Knall.

9 (–) Regina Nössler:
Kellerassel
Konkursbuch, 344 Seiten, 12,90 Euro

Berlin. Steigende Hitze, Corona, da brennen leicht Sicherungen durch. Erpresserin
Isabel versucht ein riskantes Spiel mit ihrem Opfer. Toni versteckt sich in einer
vermüllten Wohnung vor Vater und Arbeit. Oliver macht Schulden und kommt von
Mutter nicht los. Wie werden aus kaputten Beziehungen Verbrechen?

10 (–) Karin Smirnoff: Verderben
Aus dem Schwedischen
von Leena Flegler
Heyne, 463 Seiten, 24 Euro

„Gasskas“, Nordschweden. Millennium-Reihe siebter Band. Frisch an Lisbeth
Salanders Seite: Nichte Svala, 13, schmerzunempfindlich, Mathegenie. WindparkKrösus
Branco hat ihre Mutter entführt. Mit Mikael Blomquist geht’s zu dritt vor
gegen Organisierte Öko-Kriminalität und bestialische Männer. Neuer Sound.

Die Krimibestenliste, wo kann man sie lesen, wer erstellt sie, wo wird sie veröffentlicht?

WO? außerhalb von WELTEXPRESSO?

Die Krimibestenliste erscheint schon lange nicht mehr am ersten Sonntag des Monats in der Printausgabe: www.faz.net !!! In der Vergangenheit veröffentlichte die FAS, die Sonntagszeitung der FAZ, an jedem ersten Sonntag im Monat die jeweilige Liste im Feuilletonteil. Noch einmal im Klartext: Leider gibt es die Liste ab 2021 noch nicht einmal im FAZ-Internet. Ob die FAZ und FAS wissen, welche Einbuße sie damit bei Krimilesern erfahren? Da muß man froh sein, daß der Deutschlandfunk Kultur die Kriminalromane als anspruchsvolles Genre noch nicht aufgegeben hat, sondern weiterhin jeden ersten Freitag im Monat die neue Liste bringt, die wir sobald wir können, nachveröffentlichen.

An jedem ersten Freitag des Monats geben also 18 Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Die Krimibestenliste war zuvor eine Kooperation der Frankfurter Allgemeinen mit Deutschlandfunk Kultur, der Sender, der nun die Krimibestenliste alleine veröffentlicht und trägt. Das wäre schon für die Regierungskoalition in Sachsen-Anhalt ein wichtiges Argument, den Rundfunkgebühren zuzustimmen.

Tobias Gohlis, Sprecher der Jury
Volker Albers, „Hamburger Abendblatt“
Andreas Ammer, „Druckfrisch“, „BR“
Gunter Blank, „Rolling Stone“
Katrin Doerksen, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, „Kino-Zeit“
Hanspeter Eggenberger, „krimikritik.com“
Fritz Göttler, „Süddeutsche Zeitung“
Jutta Günther, Kritikerin
Sonja Hartl, „Zeilenkino“, „Crimemag“, „Deutschlandfunk Kultur“
Hannes Hintermeier, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“
Alf Mayer, „CulturMag“, „Strandgut“
Kolja Mensing, „Deutschlandfunk Kultur“
Marcus Müntefering, „Der Spiegel“
Ulrich Noller, „Deutschlandfunk“, „WDR“, „SWR“
Frank Rumpel, SWR
Ingeborg Sperl, „Der Standard“
Sylvia Staude, „Frankfurter Rundschau“
Jochen Vogt, „NRZ“, „WAZ“

Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im September 2023
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Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im Oktober 2023
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/29641-ein-rueckblick-auf-disher-boyle-angoe-ross-kurkow
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/29623-acht-neue-titel-zwei-aus-deutschand-drei-aus-den-usa-je-einer-aus-argentinien-frankreich-und-italien
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/29875-rebecca-makkai-mit-ich-haette-da-ein-paar-fragen-an-sie-ich-auf-platz-6

Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im November 2023
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/29872-vier-neue-titel-drei-aus-deutschland-einer-aus-schweden-die-schauplaetze-moskau-pullach-berlin-frankfurt-am-main-muenchen-gasskas
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Es müssen gehen: Lehane, Makkai, King und Lagioia

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