MEMORIA vonZoë Beck, neu auf Platz 5

Serie: DIE KRIMIBESTENLISTE im November 2023, Teil 4

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Diesen fünften Rang muß man einordnen können, denn nach dem Überflieger Andreas Pflüger mit WIE STERBEN GEHT, ist Zoë  Beck erst die zweite ‚Neue‘, denn die drei Plätze dazwischen sind belegt mit Krimis, die schon im Oktober dabei waren. Diese gute Plazierung hat der Roman völlig zurecht, wir geben zu, daß wir ihn atemlos gelesen, ja verschlungen haben.

Das liegt nicht daran, daß er erst einmal in Frankfurt spielt; noch genauer, auf der Fahrt mit der Eisenbahn nach Gießen, bleibt der Zug wegen eines verheerenden Waldbrandes stehen. Also auch noch Provinz. Weiter geht es später in München und allein die so unterschiedlichen Leute, die im etwas verlotterten Frankfurt samt Nobelkaufhaus mit den dazugehörenden Reichen geschildert werden und dann im gut bürgerlichen München ein anderes literarisches Personal aufbieten.

Eigentlich könnte das alles von Heute sein, aber Zoë Beck verlegt ihre Geschichten gerne in die Zukunft und hier weiß man auch genau, warum. Es geht nämlich im Kern um Möglichkeiten und Methoden, die weit über unsere Erkenntnisse hinausgehen. Hier geht es um Gedächtnisforschung in praktischer Anwendung. Die 75jährige Pirja Kallas hat eine Forschungseinrichtung geschaffen, in der ausprobiert wird, inwieweit man in Gehirnen tatsächlich Erlebtes löschen kann und stattdessen in die Erinnerung etwas einpflanzt, was nie passiert ist, aber von den Betroffenen als eigene Erinnerung wahrgenommen wird.

So geht es Harriet, die wir als mittellose, auf Stütze angewiesene Mitdreißigerin kennenlernen, die wunderbar Klavier spielen kann, allerdings nur mit der Rechten, denn die Linke ist einst zerschmettert worden und trotz viele Operationen war ihre Karriere als Konzertpianistin schon zu Ende, als sie gerade loslegen wollte. Sie kam mit allem zurecht, denkt mit Liebe an ihre bei einem Autounfall getötete Mutter und besucht immer wieder den in einem speziellen Altersheim lebenden Vater, der schwer dement ist, aber im Malen seine späte Berufung gefunden hat. Zuvor war er Galeriebesitzer und die Bilder, die er malt, hätte er damals niemals in seiner Galerie ausgestellt. Harriet, die ihn oft besucht, ist hilflos angesichts seiner Regression. Normalerweise erkennt er sie nicht und hält sie für eine Studierende der Kunst.

Diese ungewöhnliche und zu Herz gehende Geschichte beginnt mit dem Waldbrand, wo der Zug in der Wetterau anhält und Harriet, die als Klavierbauerin – das war der Ausweg mit der kaputten linken Hand – auf dem Weg nach Gießen war, ein einsames Haus am Waldrand sieht, das die Feuerwehr nicht im Blick hat und wo die Bäume bedenklich nahe Feuer fangen. Zusammen mit zwei Mitreisenden rettet sie eine alte Frau aus dem Haus, die verletzt überlebt, aber ihr Haus, der gepackte Koffer und leider auch der Rucksack von Harriet verbrennen total.

Das war dramaturgisch nötig, denn beim Wiederbeschaffen der Papiere, was im Krimi ein Klacks durch die Verwaltung ist, hat sie auf einmal einen Führerschein, von dem sie nichts wußte, der aber erklärt, weshalb sie mitsamt der drei anderen Frauen nur durch das Lenken eines Wagens dem Feuer entkommen waren.

Mehr dürfen wir jetzt nicht erzählen, denn dieser Roman lebt von der fast auf jeder Seite sich entwickelnden Rückschauen in die Vergangenheit. Interessant ist dies, weil wir dabei sind, wenn Harriet mitbekommt, daß eine Erinnerung, die sie deutlich hat, gar nicht existiert haben kann, daß aber andererseits ganz normale Erinnerungen an früher, einfach nicht da sein und ein falsches Erinnern Platz greift. Um das zu klären, geht ihr Weg nach München, wo sie als erstes feststellt, daß sie gar nicht die arme Kirchenmaus ist, sondern daß ihrem Vater nach dem Tod der Mutter die schöne repräsentative Villa mit dem herrlichen Flügel gehört und nur an sie vererbt werden darf. Geld ist auch da, denn die Nachbarfamilie ist von ihrer Mutter einst als Verwalterin eingesetzt worden.

Immer mehr Erinnerungen kommen hoch und sie muß erkennen, daß sie etwas Schlimmes getan hatte, einen Jungen so zusammengeschlagen, daß dieser noch heute im Rollstuhl sitzt, nach und nach klären sich viele Vorgänge und auch ihre Verletzungen, ihre Narben, ihre zwei Selbstmordversuche, die alle auf ein Finale zurückgehen, das die Autorin gekonnt mit voller Wucht als Ausgangspunkt aller Blessuren beschreibt. Nun ist klar, was los ist und was die Quelle alle Schmerzen war, die mit Gedächtnisexperimenten lange von Harriet ferngehalten wurden. Aber, das ist das Tröstliche an dieser Geschichte, wie schlimm auch immer, die Wahrheit über ein Leben ist wichtiger als eine geschönte Version, auf jeden Fall kann Harriet jetzt viel stärker in ein neues Leben aufbrechen.