Harper, Rodríguez, Mauvignier, Smirnoff verabschieden sich

Serie: DIE KRIMIBESTENLISTE im Dezember 2023, Teil 2

Elisabeth Römer

Hamburg (Weltexpresso) -  Das ist uns jetzt schon eine liebe Gewohnheit, wenn Zeit genug ist, die Kriminalromane, die uns kurz- oder längerfristig auf der Krimibestenliste begleitet hatten, zu verabschieden. Denn sie fallen, stehen sie nicht mehr auf der Liste, erst einmal ins Bodenlose. Richtig, nur für die, die die Liste als persönliche Kaufempfehlung verwenden, was nicht wenige tun. Aber neben dem Wirtschaftlichen, ist es auch eine innere, eine Krimi-Ehre, auf die Krimibestenliste zu gelangen.

Und darum ein würdiger, wenngleich kurzer Abschied, denn von allen gibt es ausführliche Besprechungen, die sich unten unter den Links der Monate nutzen lassen.

ALLES SCHWEIGT von Jordan Harper aus dem Ullstein Verlag, seit Oktober und da als Nummer 1 auf der Liste, überzeugt durch seine Aktualität, die man mit Metoo kurz und prägnant umreißen kann. Dabei geht es nicht nur um die Übergriffe, die Tatsachen selbst, sondern um das ganze System von öffentlichen Lügen, von einer bezahlten Presse, die mitmacht, von Agenturen, die davon leben, daß sie ihren reichen Klienten die Wahrheit vom Leibe halten und durch gezielte Indiskretionen falsche Spuren legen, um die Wahrheit zu verschleiern. Die Wahrheit ist hier, wie ein junges Mädchen geschwängert wird und von wem. Man hält es doch kaum für möglich, daß aus solchem Sachverhalt Tote, mehrere Tote resultieren. Aber nach ALLES SCHWEIGT und nachdem man Mai Pruett, die Krisenspezialistin, kennengelernt hat, wird einen keine Meldung aus Hollywood noch überraschen können. Großes Kino.


DRINGLICHE ANGELEGENHEITEN von Paula Rodríguez aus dem Unionsverlag kam auch im Oktober auf die Krimibestenliste und stieg als Nummer drei gleich hoch ein. Die zwischen Satire und Grauslichkeiten schlingernde Handlung hätte man für übertrieben halten können, aber nach dem Wahlsieg des Anarcho-Kapitalisten Javier Milei als neuer Präsident Argentiniens, den man anderenorts für den Insassen einer Heilanstalt hätte halten können, ist dieser Kriminalroman eine gute Einführung in dessen Geschäfte und könnten den Krimischreibern Vorlagen leisten wie die, daß mit der Einführung des Dollars in Argentinien die dortige Zentralbank in die Luft gesprengt wird, oder daß nicht mehr der Staat die Mafia verfolgen soll, sondern endlich die Mafia den Staat – diesmal offiziell und warum denn am Organhandel etwas nicht in Ordnung sei. Was gekauft werde, könne auch verkauft werden, so funktioniere halt der Markt.

Lesen Sie DRINGLICHE ANGELEGENHEITEN und Sie verstehen Argentinien besser, was nach dem Ergebnis der Präsidentenwahl wohl alle nötig haben!


GESCHICHTEN DER NACHT von Laurent Mauvignier vom Verlag Matthes & Seitz ist der dritte Krimi, der sich verabschiedet und seit Oktober dabei war. Dabei fällt auf, daß derzeit doch mehr nicht englischsprachige Krimis auf der Liste stehen als sonst. Ein Fortschritt in unseren Augen, die wir immer wieder mahnen, daß auf dem Wege, daß wir alle Amerikaner werden, ach ja, Amerikanerinnen auch, die Kriminalromane doch nicht die Vorreiter sein sollten, doch eher die Stolpersteine. Dieser französische Krimi ist auf jeden Fall völlig unamerikanisch. Er ist unheimlich und mehr als doppelbödig. Gibt es das, dreifachbödig? Das Geheimnis umwabert die schöne Marion, die eines Tages hier auf dem Land auftauchte und in die sich ein eigentlich einfacher Bauernbursche, aber Hoferbe verliebte und sie heiratete. Mit seiner Liebe kommt er auch deshalb nicht so an, weil er nie gelernt hat, diese auszudrücken. Da muß man schon eine so lebenserfahrene und älter gewordene Malerin sein, wie es Christine ist, um in dem ungelenken Mann ein Juwel zu entdecken. Bei Marion dauert das etwas länger und führt über einen sehr gewalttätigen Überfall auf diese drei Menschen in dem kleinen Weiler, zu denen natürlich die Tochter Ida von Marion und Patrice gehört, die emotionales Bindeglied zwischen allen ist.
Ein starkes Stück Literatur. Krimi auch.


Bleibt als vierter Abgänger VERDERBEN von Karin Smirnoff, den sie nach STIEG LARSSON geschrieben hat. Erlaubterweise. Denn wie man nach dem Erfolg der dreibändigen Millenniumsreihe erfuhr, dessen genialer Autor Stieg Larsson schon fünfzigjährig vor seinem Erfolg gestorben war, haben ja die Erben, seine Familie, ein Geschäft daraus gemacht, seine Absicht einer zehnbändigen Reihe – richtig, ein Schwede, der zehn Krimis im Zusammenhang schreiben will, hat dabei Martin Beck im Sinn, den Ermittler der beiden Schweden, die den sozialkritischen Krimi zehnfach fundiert haben: Maj Sjöwall und Per Wahlöö, deren zehnter DIE TERRORISTEN als Abschluß schon 1975 erschien – also Larssons Absicht einer zehnbändigen Reihe von anderen weiterschreiben zu lassen, wobei die Hauptträger, die wundersame Lisbeth Salander und der emsige Journalist Mikael Blomkvist Hauptträger der Handlung bleiben. Nachdem David Lagercrantz drei Krimis hinzufügte, liegt mit VERDERBEN der siebte Krimi der Reihe vor.

Inhaltlich geht es um das Ineinandergreifen von großem Geschäft, kleinen Leuten, mafiaähnlichen Strukturen, Ausbeutern großen Stils, verführbaren Bürgermeistern, heimlichen Kindern und wie immer im Norden: besonders grauslichen Morden. Doch das geheime Zentrum des Romans ist ein Kind, ein geniales Mädchen namens Svala und wegen ihr ist dieser Roman – Larsson hin und her – einfach lesenswert. Worauf sollte man noch Hoffnung setzen in einer Welt, die immer kaputter, kriegerischer, bösartiger wird, wenn nicht in Kinder und Jugendliche, die anders sind und stur dazu. Solche Svalas bedeuten in der Tat Hoffnung auf Besserung. Zumindest im Roman.




Die zehn besten Kriminalromane im Dezember 2023

1 (9) Regina Nössler:
Kellerassel
Konkursbuch, 344 Seiten, 12,90 Euro

Berlin. Steigende Hitze, Corona, da brennen leicht Sicherungen durch. Erpresserin
Isabel versucht ein riskantes Spiel mit ihrem Opfer. Toni versteckt sich in einer
vermüllten Wohnung vor Vater und Arbeit. Oliver macht Schulden und kommt von
Mutter nicht los. Wie werden aus kaputten Beziehungen Verbrechen?


2 (1) Andreas Pflüger:
Wie Sterben geht
Suhrkamp, 448 Seiten, 25 Euro
Pullach, Berlin, Moskau 1980-83. Nina Winter, Slawistin, BND-Agentin, führt den
wichtigsten westlichen Spion, einen hohen KGB-Offizier. Um ihn und seinen Sohn
auszuschleusen, tötet, rennt, ertrinkt sie. Sterben, um zu überleben. Sprachgewaltig,
Action zum Mitzittern, Treue im Verrat. Meisterwerk des deutschen John le Carré.


3 (–) Pascal Garnier: Der Beifahrer
Aus dem Französischen
von Felix Mayer
Septime, 139 Seiten, 20 Euro

Paris, Planay. Fabien, 45, verliert Gattin Sylvie durch Autounfall, ihr Liebhaber
fuhr mit. Weil Fabien sonst nichts zu tun hat, stalkt er dessen Witwe und ihre
Freundin. Ein Beziehungstrio infernal, das in Mord endet. Leere Seelen, Noir,
schwarzgründiger Humor: Auch posthum ist Pascal Garnier die Entdeckung wert.



4 (–) Maren Lassander:
Kreuzschmerzen
Golkonda, 368 Seiten, 22 Euro

Zermatt, Val d’Anniviers. L, genannt Elle, und Jorne sind Kirchenräuber, polizeilich
gesucht. Beim Raub des frühchristlichen Judaskreuzes geraten sie in Teufels Kühllaster.
Mitreißendes antiklerikales Pamphlet – und actiongetriebener Alpinkrimi.
Polemische, wortwütige Romangroteske, strotzend von Gewalt und Bonmots.


5 (–) Uta-Maria Heim:
Tanz oder stirb
Gmeiner, 283 Seiten, 14 Euro

Stuttgart. Traumatherapeutin Nuria Haas leidet darunter, ein Findelkind zu sein. Als
eine Elevin in Not sie um Hilfe bittet, stößt Nuria im Ballettmilieu auf ihre leibliche
Mutter, tot. Wer hat sie erschlagen? Ein dunkler Hallraum tut sich auf: Erziehung und
Gewalt, verquere Liebe aus den Beziehungslöchern des Kalten Kriegs.



6 (7) Monika Geier:
Antoniusfeuer
Ariadne/Argument, 432 Seiten, 24 Euro

Rheinland-Pfalz. Mutterkorn – ein Gift, das man sich nur fein dosiert auf der Zunge
zergehen lassen sollte. Geier serviert es häppchenweise in rasendem Tempo, schleudernd
zwischen Dämonen und Exorzismus, Jesus-Schwärzung, Wahn und heilignüchterner Ermittlung.
Verdiente den Perutz-Nachfolgerinnen-Preis und alle anderen.


7 (4) Gianrico Carofiglio: Groll
Aus dem Italienischen
von Verena von Koskull
Folio, 239 Seiten, 25 Euro

Mailand. Ex-Staatsanwältin Spada soll herausfinden, ob der „Institutsmonarch“
Professor Leonardi von einer Erbschleicherin ermordet wurde. Motto: „Die Wahrheit
schmerzt nur, wenn man lügt.“ Vertrackte Erzählung über Verdacht, Macht, Angst,
Selbsttäuschung und Offenheit. Rohdiamant, bei der Lektüre zu schleifen.


8 (5) Zoë Beck:
Memoria
Suhrkamp, 281 Seiten, 16,95 Euro

Frankfurt, München, nahe Zukunft. Harriet kann mehr als sie ahnt. Autofahren. Hart
Zuschlagen. Wüste Erinnerungen plagen sie, blutig, nicht zuzuordnen. Aus Frankfurt
flieht sie, in München tastet sie sich vor in ihre verschüttete Jugend, hin zu jenem
Konzertabend, der ihr schwierigster und letzter war, landet in großer Gefahr.


9 (3) Frank Göhre:
Harter Fall
CulturBooks, 163 Seiten, 17 Euro

Hamburg, Jamaika: Freiheitsräume 1979. Für Kirsten aus Dänemark die Reeperbahn,
für Jan, Torsten und Peter die Reggae-Insel. Freiheit, die für Kirsten tödlich endet.
Auch für die anderen nicht schön. Rasante Schnitte in heißen Zeiten: RAF, Reggae,
Rock, quer durch die Schnöselgesellschaft und ihren Nachwuchs.


10 (–) Yishai Sarid:
Schwachstellen
Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama
Kein & Aber, 286 Seiten, 24 Euro

Israel. Wenn Kontrolle zur Sucht wird: Siv bringt im Leben nicht viel auf die Wege,
ist aber begnadeter Hacker. In der „Firma“ kann er überwachen, sonnt sich in von
Autokraten geliehener Macht, nutzt Lücken in Handys und Computersystemen.
Scheinbar mächtig, real schwach: Ohne Moral wird der Mensch zur Schwachstelle.

 

https://weltexpresso.de/index.php/buecher/29872-vier-neue-titel-drei-aus-deutschland-einer-aus-schweden-die-schauplaetze-https://weltexpresso.de/index.php/buecher/30137-neu-auf-der-krimibestenliste
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/30138-harper-rodriguez-mauvignier-smirnoff-verabschieden-sich