GESCHICHTEN DER NACHT von Laurent Mauvignier auf Platz 8

Serie: DIE KRIMIBESTENLISTE im November 2023, Teil 8

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Dieser Roman bringt ein besonderes Leseerlebnis mit sich. Da ist lange ein Erzählton, der über viele Seiten hin sehr gemächlich das Leben dieser insgesamt vier Leute, die auf diesem abgeschiedenen Bauernhof in drei Häusern leben, schildert. Allerdings in einer Art und Weise, die einen seltsam anmutet, nämlich in verschiedenen Zeitformen, die alle in einanderfließen, Beispiel: „In einer Stunde wird er schon seinen Kaffee getrunken, seinen Arbeitsanzug angezogen, nach seinen Kühen geschaut haben“. Futur 2.

Aber dann kommt gleich Futur 1 oder Perfekt oder Präteritum und natürlich die Gegenwart. Gerade die abgeschlossene Zukunft erzeugt beim Lesen ein unheimliches Gefühl, nämlich eines von einer ungekannten Bedrohung, von denen die, die da reden, fühlen, denken, sprechen, noch keine Ahnung haben. Aber dank des Erzählers weiß der Leser schon mehr, wenn auch nichts Genaues.

Inhaltlich weiß man überhaupt nicht, was das soll und wohin diese Geschichte geht. Es beginnt mit der rothaarigen Christine, Künstlerin, die sehr schön war, aber auch heute mit 60 ansehenswert eines der Häuser bewohnt, die alle Bergogne gehören, heute dem Sohn Patrice, aber sie hatte das alles noch mit dem alten Bergogne ausgemacht. Sie schaut aus dem Fenster und sieht ihn, den sie seit seiner Kindheit mit seinem Nachnamen anredet, aber wir lernen schnell, daß die beiden ein richtiges Vertrauensverhältnis haben. Sie werden gleich zur Polizei fahren, weil sie schon wieder einen anonymen Brief bekommen hat, der sie unruhig macht, denn hier ist seit Jahr und Tag eine himmlische Ruhe und ein gutes Miteinander. Die Familie, die im dritten Haus lebte, ist ausgezogen und das Haus wartet auf neue Mieter.

Bei Christines Zurückkommen begrüßt sie ihr Hund, sie freut sich auf Ida, Bergognes Tochter, die jeden Tag nach der Schule bei ihr geparkt ist, der Vater ist im Stall oder sonstwo und die Mutter Marion, schon wieder eine wunderschöne Frau, noch dazu jung, ist in der Stadt beschäftigt, fährt früh, kommt spät. Ida malt heute zwei Bilder für sie, den morgen hat die Mutter Geburtstag.

An diesem Tag wird Patrice wie immer, den Geburtstag seiner Frau mit allen Schikanen vorbereiten. Er fährt in die Stadt, aber was soll das, so nebenbei bezahlt er für die sexuelle Dienstleistung einer jungen Frau, aha, er ist frustriert, weil Marion ihn zwar ab und zu an sich ranläßt, aber das langt ihm nicht, daß er darf, er vermißt sie dabei. Er wird als anhänglich, aber als absolut zum Handeln unfähig geschildert. Er löst sich immer wieder n seinen eigenen Gedanken auf, ist konturlos, kaum vorhanden. Das Gegenteil von einem Macher. Und wehleidig dazu. Diese Fahrt in die Stadt, von der er zu spät zurückkommt, ist ein Desaster für seinen Eindruck beim Leser.

Seine Frau Marion dagegen lernen wir hauptsächlich im Büro kennen, wo sie ihrem miesen Vorgesetzten die Meinung geigt, wobei sie noch gar nicht weißt, daß er sie raussetzen will. Dabei tritt sie so meinungsstark auf, daß der Chef des Unternehmens den Vorgesetzten deckelt und sie für die Belegschaft zur Heldin aufsteigt. Ihre beiden Kolleginnen, die für den späteren Abend zu ihrer Geburtstagsfeier eingeladen sind, werden das der staunenden Familie erzählen. Und auch die Leserin findet ein solch couragiertes Verhalten und ihren Einsatz gegen diesen miesen Vorgesetzten toll.

Aber, und dieses Aber läßt einen nicht los, was ist denn hier los, die beiden kommen doch aus ganz verschiedenen Welten, sie passen überhaupt nicht zusammen und dann passiert etwas, das so grausam, gewalttätig, schreckensvoll ist, daß aus dieser harmlosen Geschichte ein Horrorthriller wird und die eigentlich gemächliche Geschichte sozusagen Purzelbäume schlägt. Drei Brüder üben Terror aus, dabei wird Marion zur Hauptfigur, es geht um ihre Vergangenheit, man kommt aus dem Staunen nicht heraus.

Auf jeden Fall kommen die vier, die drei Bergognes und die stark verletzte Christine mit dem Leben davon. Und jetzt, jetzt, man spürt es ganz genau, stimmt auf einmal die Chemie zwischen dem Ehepaar. Da ist etwas Reinigendes geschehen. Was für eine irre Geschichte, die so spät so spannend wird!