HARTER FALL von Frank Göhre, immer noch dabei auf Platz 9

Serie: DIE KRIMIBESTENLISTE im Dezember 2023, Teil 5

Claudia Schulmerich 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Das ist ein Ding. Im Oktober kam HARTER FALL auf die Krimibestenliste und ist immer noch dabei. Der Krimi ist auch ausgewählt für die Jahresbestenkrimiliste, wo die zehn ‚besten‘ Krimis, die die Jury erwählt, ausgezeichnet werden. Der Krimi, der im Winter 1979/80 (RAF!!) spielt, liest sich weg wie nichts, ist aber kunstvoll gestrickt mit vielen Seitenlinien, deren ungewöhnlichste der Spielfilm über  das Leben Vincent "Ivanhoe" Martins, alias  Rhyging (1924–1948) THE HARDER THEY COME ist, der 1972 von Perry Henzell in Jamaika mit dem Reggaestar Jimmy Cliff gedreht zum Kultfilm, vor allem in Spätvorstellungen wurde.

Dessen Geschichte, das Drehbuch wird in den neun Kapiteln miterzählt und am Schluß gibt es den Soundtrack, der auf einer Playlist auf Spotify zu hören ist, u.a. Jimmy Cliff, Pink Floyd, Bob Marley, der uns als Reggaesänger bekannter ist, eine Musik, die sich mit dem Film international durchsetzte. Junger Mann aus den Bergen, von den Rastas, kommt in die Hauptstadt, Kriminalität, Drogen, erst widersetzt er sich, doch die Realität holt ihn ein, er macht mit, wird erschossen, bleibt ein nationaler Held für eine bestimmte Schicht, die Jugend sowieso.

Frank Göhre macht es einem leicht und schwer zugleich. Leicht sind die Personenangaben am Anfang, wohin ich tatsächlich immer wieder zurückblätterte, weil die vielen Vornamen erst einmal zu merken sind. Grundsätzlich gibt es die Gruppen: eine junge Dänin, die in Hamburg nach dem Auftauen des Schnees tot gefunden wird und Hinnerk, der zuständige Ermittler, der den Mörder finden will.

Zwei gutsituierte Familien spielen eine Rolle: Böhms und Steffens, deren Söhne Jan und Torsten befreundet, gerade Abitur machen, und zusammen mit dem gelernten KfZ-Mechaniker Peter des Films und der Musik wegen nach Jamaika reisen. Letzterer wird mitgenommen, damit das über die Insel mit den Motorrädern Fahren klappt. Die Eltern, einmal Musikredakteur (Jan) im Rundfunk und Selbstständige Geschäftsfrau (Torsten) mit vielen Kontakten, sind Meister ihres Faches, einmal selbst drogensüchtig, einmal macht- und geldgeil.

Fehlen noch zwei Gruppen, zu denen Ulrike, Jans rothaarige und waagemutige Schwester das Bindeglied wird. Sie verliebt sich in Bonnie, einen Musikclubbesitzer, der mit anderen Größen des Kiez (Peepshow- sowie Sportstudio- und auch ein Pizza-Service-Betreiber) die Rauschgiftgeschäfte unter sich aufteilen, wobei es zum Streit und Toten kommt.

Ja und dann gibt es Ingo und Kügel. War das nötig? Einen widerlichen, schmierigen Juso und seinen ‚Mentor‘, ein wichtiges Hamburger SPD-Mitglied, der gleichzeitig mit der Mutter von…
Nein, das wird jetzt nicht erzählt, sondern nur darauf verwiesen, daß die beiden Freunde Jan und Torsten mit Peter tatsächlich nach Jamaika aufbrechen, aber teils gebrochen, teils verstört ohne Jan zurückkommen, der bei den Rastas in den Bergen bleiben will. Der Jamaikaaufenthalt, die Verzweiflung der Jungens spielt eine große Rolle.

Ich hatte also den Roman verschlungen, schon deshalb, das kann Göhre nicht wissen, ich selbst zwei Wochen auf Jamaika war und das alles kenne, worüber er schreibt. Nein, nicht alles, das Gras, das Marihuana nicht, wohl aber konnte ich die Drogengeschäfte mitkriegen und Reggaemusik hören bis zum Umfallen. Aber auch das Meer, die Berge, die Hauptstadt, ein gefährlicher Dschungel. Stimmt alles, was dort steht.

Doch dann kam anderes vor dem Darüberschreiben dazwischen. Rezensieren kann man aber nur, wenn einem die Handlung total gegenwärtig ist. Gottseidank blieb der Krimi auf der Liste. Die Neuen gingen aber vor. Nun aber endlich Göhre. Nach der Hälfte war wieder irgendwas. Das Buch blieb liegen und jetzt noch einmal, wieder in einem Rutsch durchgelesen, bin ich so firm, daß ich manches auswendig kenne und erst recht die Kunst schätzen kann, mit der Frank Göhre seine vielen Fäden verflicht.

Fast wäre es mir jetzt passiert, daß ich die RAF-Szenerie vergessen hätte und den eigentlichen Fall. Die blutjunge Kirsten hat sich beim Ferienaufenthalt des jungen Deutschen Rainer in diesen verliebt und will ihn im Dezember, zur Zeit der großen Schneekatastrophe in Flensburg besuchen. Doch ist er als RAF-Sympathisant nach Hamburg gegangen, wohin sie ihm folgt und - siehe oben – zu Tode kommt, was am Schluß aufgeklärt wird.

Knapp, vielseitig, schnell, über Zeiten und Weltgegenden hinweg, ein starkes Stück Literatur, dessen Grundlage, die Musik des Reggae, man immer mithört, obwohl ja die vielen erwähnten Titel nur in Buchstaben dastehen.

 

Die zehn besten Kriminalromane im Dezember 2023

1 (9) Regina Nössler:
Kellerassel
Konkursbuch, 344 Seiten, 12,90 Euro

Berlin. Steigende Hitze, Corona, da brennen leicht Sicherungen durch. Erpresserin
Isabel versucht ein riskantes Spiel mit ihrem Opfer. Toni versteckt sich in einer
vermüllten Wohnung vor Vater und Arbeit. Oliver macht Schulden und kommt von
Mutter nicht los. Wie werden aus kaputten Beziehungen Verbrechen?


2 (1) Andreas Pflüger:
Wie Sterben geht
Suhrkamp, 448 Seiten, 25 Euro
Pullach, Berlin, Moskau 1980-83. Nina Winter, Slawistin, BND-Agentin, führt den
wichtigsten westlichen Spion, einen hohen KGB-Offizier. Um ihn und seinen Sohn
auszuschleusen, tötet, rennt, ertrinkt sie. Sterben, um zu überleben. Sprachgewaltig,
Action zum Mitzittern, Treue im Verrat. Meisterwerk des deutschen John le Carré.


3 (–) Pascal Garnier: Der Beifahrer
Aus dem Französischen
von Felix Mayer
Septime, 139 Seiten, 20 Euro

Paris, Planay. Fabien, 45, verliert Gattin Sylvie durch Autounfall, ihr Liebhaber
fuhr mit. Weil Fabien sonst nichts zu tun hat, stalkt er dessen Witwe und ihre
Freundin. Ein Beziehungstrio infernal, das in Mord endet. Leere Seelen, Noir,
schwarzgründiger Humor: Auch posthum ist Pascal Garnier die Entdeckung wert.



4 (–) Maren Lassander:
Kreuzschmerzen
Golkonda, 368 Seiten, 22 Euro

Zermatt, Val d’Anniviers. L, genannt Elle, und Jorne sind Kirchenräuber, polizeilich
gesucht. Beim Raub des frühchristlichen Judaskreuzes geraten sie in Teufels Kühllaster.
Mitreißendes antiklerikales Pamphlet – und actiongetriebener Alpinkrimi.
Polemische, wortwütige Romangroteske, strotzend von Gewalt und Bonmots.


5 (–) Uta-Maria Heim:
Tanz oder stirb
Gmeiner, 283 Seiten, 14 Euro

Stuttgart. Traumatherapeutin Nuria Haas leidet darunter, ein Findelkind zu sein. Als
eine Elevin in Not sie um Hilfe bittet, stößt Nuria im Ballettmilieu auf ihre leibliche
Mutter, tot. Wer hat sie erschlagen? Ein dunkler Hallraum tut sich auf: Erziehung und
Gewalt, verquere Liebe aus den Beziehungslöchern des Kalten Kriegs.



6 (7) Monika Geier:
Antoniusfeuer
Ariadne/Argument, 432 Seiten, 24 Euro

Rheinland-Pfalz. Mutterkorn – ein Gift, das man sich nur fein dosiert auf der Zunge
zergehen lassen sollte. Geier serviert es häppchenweise in rasendem Tempo, schleudernd
zwischen Dämonen und Exorzismus, Jesus-Schwärzung, Wahn und heilignüchterner Ermittlung.
Verdiente den Perutz-Nachfolgerinnen-Preis und alle anderen.


7 (4) Gianrico Carofiglio: Groll
Aus dem Italienischen
von Verena von Koskull
Folio, 239 Seiten, 25 Euro

Mailand. Ex-Staatsanwältin Spada soll herausfinden, ob der „Institutsmonarch“
Professor Leonardi von einer Erbschleicherin ermordet wurde. Motto: „Die Wahrheit
schmerzt nur, wenn man lügt.“ Vertrackte Erzählung über Verdacht, Macht, Angst,
Selbsttäuschung und Offenheit. Rohdiamant, bei der Lektüre zu schleifen.


8 (5) Zoë Beck:
Memoria
Suhrkamp, 281 Seiten, 16,95 Euro

Frankfurt, München, nahe Zukunft. Harriet kann mehr als sie ahnt. Autofahren. Hart
Zuschlagen. Wüste Erinnerungen plagen sie, blutig, nicht zuzuordnen. Aus Frankfurt
flieht sie, in München tastet sie sich vor in ihre verschüttete Jugend, hin zu jenem
Konzertabend, der ihr schwierigster und letzter war, landet in großer Gefahr.


9 (3) Frank Göhre:
Harter Fall
CulturBooks, 163 Seiten, 17 Euro

Hamburg, Jamaika: Freiheitsräume 1979. Für Kirsten aus Dänemark die Reeperbahn,
für Jan, Torsten und Peter die Reggae-Insel. Freiheit, die für Kirsten tödlich endet.
Auch für die anderen nicht schön. Rasante Schnitte in heißen Zeiten: RAF, Reggae,
Rock, quer durch die Schnöselgesellschaft und ihren Nachwuchs.


10 (–) Yishai Sarid:
Schwachstellen
Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama
Kein & Aber, 286 Seiten, 24 Euro

Israel. Wenn Kontrolle zur Sucht wird: Siv bringt im Leben nicht viel auf die Wege,
ist aber begnadeter Hacker. In der „Firma“ kann er überwachen, sonnt sich in von
Autokraten geliehener Macht, nutzt Lücken in Handys und Computersystemen.
Scheinbar mächtig, real schwach: Ohne Moral wird der Mensch zur Schwachstelle.

 


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