EINGEFROREN von Doug Johnstone auf Platz 9

Serie: DIE KRIMIBESTENLISTE im Januar 2024, Teil 3
 
Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Sehr schwer, sich nach 385 Seiten aus dem Kosmos der Edinburgher Skelf-Frauen zu lösen, die ein Beerdigungsinstitut und eine Privatdetektei führen, so sehr ist man beim Lesen Teil dieser Geschichte geworden, die einfach das Leben vieler durcheinanderwirbelt und es länger braucht, bis sich aller Staub, auch die frische Erde auf den Gräbern, gesetzt hat.

Hohe Kunst, mit der uns Doug Johnstone hier einwickelt, was ihm beim Vorgänger, EINGEÄSCHERT, ebenfalls gelungen war. Die eigentliche Heldin ist Dorothy, 70 Jahre, die vor Monaten ihren Mann James, genannt Jim, verloren hatte, eine Liebesehe, denn sie, die Kalifornierin, blieb seinetwegen im kalten naßen Edinburgh und betrieb mit ihm das Bestattungsunternehmen, das sie inzwischen mit Tochter Jenny und Enkelin Hannah betreibt, deren Liebespartnerin Indy, für Indira, gerade ihre Eltern durch einen Autounfall verloren hatte, Ja, sehr viel Tod in diesem Buch, aber auch unendlich viel Leben, pralles Leben, angstvolles Leben, verbrecherisches Leben, sanftes, hingebungsvolles auch. Leben eben. Und mit solchen Plattheiten wie, wo Leben ist, ist auch Tod, wollen wir uns jetzt nicht aufhalten, denn die Geschichten sind viel zu spannend, als daß wir drumherumreden sollten.

Dorothy bleibt das ganze Buch hindurch unsere Hauptheldin, weil wir mit jeder ihrer Handlungen einverstanden sind und derer sind viele, was mit der Detektei zu tun hat. Schwieriger ist es mit Tochter Jenny. Die ist von dem verführerischen Craig geschieden, mit dem sie die Tochter Hannah hat, aber, obwohl dieser mit Fiona eine neue Frau und eine neue kleine Tochter hat, ist das Objekt seiner Begierde und seines Hasses weiterhin Jenny, die er gerade überfallen hatte, mit tiefen Stichen in den Bauch und auch seine Ex-Schwiegermutter wollte er erwürgen, die Male am Hals sieht man noch, auf jeden Fall fühlt Dorothy sie immer wieder. Deswegen sitzt Craig jetzt im Gefängnis. Dazu gleich mehr.

Denn das Buch beginnt mit einer ordentlichen Beerdigung, für die die Skelfs zuständig sind und mitten hinein hört man Blaulicht und einen Polizeiwagen, der auf den Friedhof zurast, weil er ein gestohlenes Auto verfolgt, das mitten auf Dorothy zuschießt, die nur durch Archie, der für die Präparierung der Leichen zuständig ist und sie wegzieht, noch am Leben ist. Der junge Fahrer des Wagens, der sich ins Grab gräbt, ist tot, hat keine Papiere, bleibt also erst einmal unbekannt, seinen überlebenden einäugigen Hund nimmt Dorothy auf und tauft ihn Einstein. Einauge klänge ja auch nicht so gut.

Fehlt Enkelin Hannah, die Physik studiert, deren Gesetzmäßigkeiten ihr ein Halt sind in einer konfusen Welt und die mit Hilfe einer Therapeutin versucht, damit klarzukommen, daß ihr Vater ihre schwangere Freundin Mel, die von ihrem Vater ein Kind erwartete – Hannah wußte nichts von dieser Beziehung – tötete und anschließend ihre Mutter und Großmutter umbringen wollte, weshalb er jetzt im Gefängnis sitzt. Für ihre tote Freundin Mel will die Fachbereichsleitung eine Gedenkfeier veranstalten, bei der sie über Mel sprechen soll. Das hatte der alte Professor Hugh Fowler durchgesetzt, mit dem sie sich anfreundet und wegen der Feier zu ihm kommen soll. Doch findet sie ihn tot vor. Blausäure. Selbstmord.

Doch das ist nicht alles. Es gibt auch bei den Lebenden genug Detektivarbeit, die Dorothy zufällt, die herausbekommt, daß eine Mutter ihrer abgängigen Tochter jahrelang von einem Vater erzählte, der auch immer mal wieder auftauchte, aber gar nicht der Vater, sondern ein engagierter Schauspieler ist, den die Tochter aber für ihren Vater hält und ihn nun sucht, bzw. seine Wohnung überwacht. Daß die Mutter gute Gründe hatte, der Tochter nicht die Wahrheit zu sagen, erfahren wir am Schluß auch, denn ihr eigener Vater ist auch der Vater ihrer Tochter. Kommen Sie noch mit?

Keine Angst, Doug Johnstone, steuert Sie einfühlsam und knallhart zugleich durch diesen Dschungel an Großstadtleben, wo durch den Ausbruch von Craig beim Gefangenentransport eine zusätzliche Bewegung ins Geschehen kommt, die bald alles dominiert. Es geht heiß her und eiskalt im Kühlraum, wo die Toten präpariert werden und am Schluß auch der junge tote Mann vom Anfang seine Identität und trauernde Mutter erhält. Eine bewegende Geschichte. Alles. Und wie gesagt, Dorothy ist die Heldin, die mit dem Polizisten Thomas einen guten Freund an der Seite hat. Tendenz: mehr.



Die zehn besten Kriminalromane im Januar  2024

 
1 (–) Robert Galbraith: Das strömende Grab
Aus dem Englischen von Wulf Bergner,
Christoph Göhler, Kristof Kurz
Blanvalet, 1292 Seiten, 29,90 Euro

London, Norfolk. Detektivin Robin ermittelt undercover in einer Psycho-Sekte.
Ein Horrortrip: Gewalt und Gehirnwäsche, Geisteranbetung und erzwungener
Geschlechtsverkehr halten die wie Sklaven schuftenden Gläubigen auf Linie.
Joanne K. Rowling alias Robert Galbraith dreht kunstvoll an der Angstschraube.


2 (5) Uta-Maria Heim:
Tanz oder stirb
Gmeiner,
283 Seiten, 14 Euro


Stuttgart. Traumatherapeutin Nuria Haas leidet darunter, ein Findelkind zu sein. Als
eine Elevin in Not sie um Hilfe bittet, stößt Nuria im Ballettmilieu auf ihre leibliche
Mutter, tot. Wer hat sie erschlagen? Ein dunkler Hallraum tut sich auf: Erziehung und
Gewalt, verquere Liebe aus den Beziehungslöchern des Kalten Kriegs.


3 (–) Robert Brack:
Schwarzer Oktober
Edition Nautilus
158 Seiten, 16 Euro


Hamburg 1923. Inflation, Arbeitslosigkeit, Hunger: So kann es nicht weitergehen. Freiheit,
proletarische Revolution will Klara Schindler, 19, erkämpfen. Und
Schreiben. Beim Aufstand der Arbeiter hat sie Fieber, die KPD-Genossen mögen
Lesben nicht, und zu alldem geht ein Frauenmörder um. Hautnah, zum Mitbeben.


4 (1) Regina Nössler:
Kellerassel
Konkursbuch
344 Seiten, 12,90 Euro


Berlin. Steigende Hitze, Corona, da brennen leicht Sicherungen durch. Erpresserin
Isabel versucht ein riskantes Spiel mit ihrem Opfer. Toni versteckt sich in einer
vermüllten Wohnung vor Vater und Arbeit. Oliver macht Schulden und kommt von
Mutter nicht los. Wie werden aus kaputten Beziehungen Verbrechen?


5 (–) S. A. Cosby: Der letzte Wolf
Aus dem Englischen
von Jürgen Bürger
ars vivvendi, 383 Seiten, 24 Euro

 „Charon“, Virginia. Titus Crown ist als Schwarzer Sheriff, Weiße Rednecks geben
den Ton an. Ein junger Dealer tötet einen angesehenen weißen Lehrer. Beide waren
Mitglied eines Kinderschändertrios. Titus muss den letzten der Drei fangen, bevor
das County vollends in Brand gerät. Porträt eines guten Mannes in übler Gesellschaft.


6 (3) Pascal Garnier: Der Beifahrer
Aus dem Französischen
von Felix Mayer
Septime, 139 Seiten, 20 Euro

Paris, Planay. Fabien, 45, verliert Gattin Sylvie durch Autounfall, ihr Liebhaber
fuhr mit. Weil Fabien sonst nichts zu tun hat, stalkt er dessen Witwe und ihre
Freundin. Ein Beziehungstrio infernal, das in Mord endet. Leere Seelen, Noir,
schwarzgründiger Humor: Auch posthum ist Pascal Garnier die Entdeckung wert.


7 (6) Monika Geier:
Antoniusfeuer
Ariadne im Argumentverlag
432 Seiten, 24 Euro

Rheinland-Pfalz. Mutterkorn – ein Gift, das man sich nur fein dosiert auf der Zunge
zergehen lassen sollte. Geier serviert es häppchenweise in rasendem Tempo, schleudernd
zwischen Dämonen und Exorzismus, Jesus-Schwärzung, Wahn und heilignüchterner Ermittlung.
Verdiente den Perutz-Nachfolgerinnen-Preis und alle anderen.


8 (9) Frank Göhre:
Harter Fall
CulturBooks
163 Seiten, 17 Euro

Hamburg, Jamaika: Freiheitsräume 1979. Für Kirsten aus Dänemark die Reeperbahn,
für Jan, Torsten und Peter die Reggae-Insel. Freiheit, die für Kirsten tödlich endet.
Auch für die anderen nicht schön. Rasante Schnitte in heißen Zeiten: RAF, Reggae,
Rock, quer durch die Schnöselgesellschaft und ihren Nachwuchs.


9 (–) Doug Johnstone: Eingefroren
Aus dem Englischen
von Jürgen Bürger
Polar, 393 Seiten, 26 Euro

Edinburgh. Dorothy, Jenny, Hannah – Großmutter, Mutter und Tochter Skelf –
betreiben ein Bestattungsinstitut und eine Detektei: Täglich provoziert Tod den Sinn
ihres Lebens. Psychopath und Ex-Familienmitglied Craig bedroht sie. Ein Professor
bringt sich um, eine Tochter sucht ihren Vater. Das Universum dehnt sich weiter aus.


10 (7) Gianrico Carofiglio: Groll
Aus dem Italienischen
von Verena von Koskull
Folio, 239 Seiten, 25 Euro

Mailand. Ex-Staatsanwältin Spada soll herausfinden, ob der „Institutsmonarch“
Professor Leonardi von einer Erbschleicherin ermordet wurde. Motto: „Die Wahrheit
schmerzt nur, wenn man lügt.“ Vertrackte Erzählung über Verdacht, Macht, Angst,
Selbsttäuschung und Offenheit. Rohdiamant, bei der Lektüre zu schleifen.



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Jahreskrimibestenliste 2023
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Besprechungen der Krimibestenliste in WELTEXPRESSO im Januar 2024
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