Die Ausgeschiedenen: Kestrel, Nixon, Lien, Paulson-Ellis

Serie: DIE KRIMIBESTENLISTE im August 2023, Teil 5

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main Weltexpresso) – Höchste Zeit, noch ein paar Worte über die zu verlieren, die auf der Juli-Liste noch dabei waren, aber im August fehlen, bevor noch in dieser Woche die neue Krimibestenliste September erscheint, auf der dann wieder einige, meist die Hälfte weg sind. Die Gründe dafür sind immer unterschiedlich und haben nicht per se mit Qualität zu tun, Anciennität ist ein viel wichtigeres Stichwort und gilt erst einmal für FÜNF WINTER von James Kestrel, der tatsächlich seit April d.J. dabei war, länger als jeder andere.

Noch muß man sich über die Jahresbestenliste der Krimibestenliste des Jahres 2023 keine Gedanken machen, aber bisher gehört dieser äußerst sensibel mit den wichtigsten Themen eines Menschen: Herkunft, Familie, Abbruch, Fremde und sich Bewähren Müssen umgehende Roman FÜNF WINTER von James Kestrel aus dem Suhrkamp Verlag auf jeden Fall ganz vorne hin! Ach so, um was es geht? Joe McGrady gehört zu denen, für die das Wort ‚Pflicht‘ sich sofort in Handeln umsetzt.

Eigentlich ist er ja nur seinem Auftrag gefolgt, als ihn seine Vorgesetzten aus unlauteren Motiven verpflichteten, einem Mörder hinterher zu reisen, doch als er sich aus Honolulu auf den Weg machte, passierte allerlei, vor allem der Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg. Und schon war alles ganz anders. Auf jeden Fall landet er in China, das er dank eines knallharten Japaners zugunsten von Japan verlassen kann. Aber Japan war ja wiederum Kriegsgegner der USA. Also muß er bis das Kriegsende sich dort verstecken. Aber, wie er das tut und was passiert, wenn er in die Heimat zurückkommt. Ganz großes Kino, zum Weinen und zum Lachen.



Auch Carl Nixons KERBHOLZ von Culturbooks ist länger dabei, im Juni ließ er sich auf Platz 9 nieder und kam im Juli auf Platz 6. Das ist so ein Krimi, der mir erst einmal nichts sagte, schon wieder Australien, nein, Neuseeland, schon wieder Buschland, einsame Gegend, karge Menschen, heiße Sonne, wenig Wasser. Aber die Geschichte ist stark. Da wandert eine englische Familie nach Neuseeland aus, zuvor bevor er bei seinem Arbeitsplatz, einer Schule, eintrifft, will der Vater vier Wochen lang mit seiner Frau und den Kindern die neue Heimat erkunden. Doch er stürzt mit dem Wagen an einer Klippe in die Tiefe, die Eltern tot, die Kinder überleben; sie schlagen sich durch die Wälder und bestehen alle möglichen Gefahren der Natur, bis sie an die Gefahr geraten, die stärker ist als sie: der Mensch, Erwachsene. Lesen Sie unsere Rezension, die alle unten erfaßt sind, wo sie mit einem Klick den jeweiligen Artikel haben.

Auch ALL DIE UNGESAGTEN DINGE von Tracey Lien aus dem Piper Verlag muß man Ade sagen, allerdings nur auf der Liste. Der Roman, ein Erstling, hat mir gut gefallen, weil die notwendigen Emotionen beim Lesen gut verteilt sind. Wenn es um Kinder geht – siehe der vorigen Krimi – ist alles immer noch mal anders als bei Erwachsenen, die sich besser wehren können. Zumindest theoretisch. Der jüngere Bruder von Ky, Tochter vietnamsicher Einwanderer in Australien, ist in einem vollbesetzten Fischrestaurant ermordet worden – und keiner hat’s gesehen! Er hatte an diesem Tag sein Abitur bestanden und mit seinen Schulkameraden das abendliche Essengehen beschlossen. Die erwachsene Ky fühlt sich verantwortlich, denn sie hatte die zögernden Eltern überredet, den Jungen gehen zu lassen.
Alles dreht sich darum, warum hat keiner etwas gesehen, wer und wo ist der Elefant im Raum, der so groß und übermächtig ist, daß er übersehen wird, analog dieser wunderbaren Metapher von Bert Brecht zu einem anderen Thema: Unsichtbar macht sich die Dummheit, indem sie sehr große Ausmaße annimmt.
Auch hier ist jemand unsichtbar, weil er sehr große Ausmaße annimmt.

Bleibt noch DAS ERBE VON SOLOMON FARTHING von Mary Paulson-Ellis, Ariadne 1269 im Argument Verlag. Mit fast 500 Seiten nicht nur vom Umfang her gewichtig, sondern mit einem außerordentlichen historischen Wissen um den 1. Weltkrieg und die Folgen bis heute in Edinburgh. Dieser Farthing ist ein Erbenjäger. Über die las ich hier zum ersten Mal. Persönlich hatte ich schon, wie wohl viele, vor Jahren mehrmals ein Fax aus der ganzen Welt erhalten, das mir ankündigte, ein mir nicht bekannter Verwandter habe das Zeitliche gesegnet und mangels naher Familie mich, die ferne Familie als Erbin eingesetzt und ich würde die vielen Millionen sofort bekommen, wenn ich erst einmal die paar Tausender bezahlen würde, damit die notwendigen Unterlagen in den USA, in Rußland, in Afrika und sonstwo beschafft wären. Aber nein, eine solcher Erbenjäger ist er nicht, aber doch einer, der bei sehr kranken und sehr alten Menschen schaut, was dort zu holen wäre. Und hier gerät er an einen sehr alten Mann, der im Pflegeheim gestorben ist und in dessen Jacke sehr viel Geld eingenäht ist, sehr viel. Was das mit dem 1. Weltkrieg zu tun hat – und es hat zu tun! - lesen Sie mit sehr viel Anteilnahme für diejenigen, die Kriege mitmachen und davon nicht mehr loskommen. Denn Krieg ist immer Unrecht und auch der ehrlichste Soldat mordet, plündert etc. Sehr eindrucksvoll und ein historisches Dokument.